- Gedichtinterpretation
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Als Gedichtinterpretation im weiteren Sinne lässt sich jede systematische, verstehensorientierte Beschäftigung mit lyrischen Texten bezeichnen. Eine bedeutende Sammlung von Gedichtinterpretationen deutschsprachiger Autoren ist die Frankfurter Anthologie.
Inhaltsverzeichnis
Ziel und Ansatzpunkte
Ziel der Gedichtinterpretation ist es in der Regel, den ästhetischen und kognitiven Gehalt eines Gedichts oder lyrischen Textes/Textfragments aus seinen formalen und stilistischen Eigenschaften unter Rückgriff auf Hintergrundwissen über den Autor, das intendierte Publikum und die geschichtliche Einbettung zu erschließen. Das Verfahren zur Gedichtinterpretation gibt es nicht; man ist sich heute vielmehr einig darüber, dass verschiedene Interpretationsansätze legitim sind und gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Zum Beispiel gibt es
- produktionsorientierte Interpretationsansätze: sie führen Textmerkmale auf biografische und individualpsychologische Aspekte des Verfassers oder auf historische und politische Faktoren zurück, d. h. auf die Umstände der Textproduktion.
- werkimmanente Interpretationsansätze: sie betrachten das Kunstwerk als autonom und seinen Produktionsumständen enthoben. Zentral hierbei ist die ästhetische Wirkung des Textes, die den (abstrakt und idealisiert verstandenen) Leser affiziert. Hintergrundwissen über den Autor oder die Zeitumstände des Werkes spielt dabei allenfalls als Korrektiv eine Rolle; es wird jedoch nicht als konstitutiv für eine erfolgreiche Interpretation angesehen.
- wirkungsorientierte Ansätze: sie machen entweder die rezeptionsgeschichtliche Wirkung des Werkes zum Ausgangspunkt der Interpretation oder rücken die Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten rezeptionsästhetisch in den Mittelpunkt.
Analyseverfahren
Die Phase des Decodierens und des Analysierens müssen der Phase der Interpretation vorausgehen.
- Bereits beim Decodieren, also dem verstehenden Lesen, lassen sich Gefühlshaltungen und Ironiesignale erkennen.
- Die formale Analyse stellt zunächst fest, ob der vorliegende Text einer festen Form zuzuordnen ist, es sich also z. B. um eine Ballade, ein Sonett oder eine Ode handelt. Strophenform, Vers- und Reimschema determinieren die formalen Randbedingungen des lyrischen Textes; rhetorische Stil- und Ausdrucksmittel dienen der Ausschmückung des so definierten lyrischen Raums.
- In der Phase des Interpretierens wird heute in der Regel ein synthetischer Standpunkt angestrebt, der die oben erwähnten Interpretationsansätze kombiniert und im Sinne einer Hermeneutik zu einem historisch und ästhetisch ausgewogenen Gesamtbild kommt.
Zum Schluss sollte auf eine evaluative Gesamtwertung nicht verzichtet werden:
- ist das Gedicht ästhetisch überzeugend oder weist es ästhetische Mängel auf?
- Ist es originell oder epigonal?
Eine Gedichtinterpretation, die sich diesen Fragen nicht stellt, mag weniger angreifbar sein, aber sie verfehlt letztlich ihr ursprüngliches Ziel.
Aufbau einer Interpretation
Einleitung
Die Einleitung sollte in 2 bis 3 Sätzen gefasst sein und den Titel des Gedichts, Namen des Autors und das Erscheinungsjahr des Gedichts enthalten. Außerdem sollten kurz der Inhalt und die Struktur des Textes skizziert werden.
Dann sollte man eine Deutungshypothese formulieren - eine erste (vorläufige) Interpretation des Gedichtes nach erstmaligem Lesen. Diese kann durch Verifizierungen bestärkt bzw. bestätigt oder durch Falsifizierungen geschwächt bzw. widerlegt werden.
Hauptteil
- Inhalt
- Form
- Metrum und Rhythmus
- Vers- und Strophenbau
- Reimschema (Endreime)
- Rhetorische Figuren
siehe auch: Verslehre
- Sprache
- Wortschatz
- Gestaltungsmittel (Stilmittel (rhetorische Figuren), Binnenreime, Stabreime)
- Weitere Besonderheiten (z. B. Wortneubildungen (Neologismen) etc.)
- Funktion(en) des Herausgearbeiteten in die Interpretation einarbeiten
- Satzbau
- Satzanfänge
- sprachliche Mittel (Metaphern, Personifikation, Vergleiche, Anaphern, Alliteration etc.)
Wertung -persönliche Stellungnahme Biografischer Hintergrund Zeit Autor
Schluss
Der Schlussteil soll eine Gedichtsinterpretation abschließen. Man sollte den Eindruck vermeiden, am Ende die Arbeit abgebrochen oder unfertig abgeschlossen zu haben. Folgende Schlussvarianten sind denkbar:
- Das Klammer-Prinzip: Am Ende kommt man noch einmal auf den Anfangsgedanken/die Einleitung zurück. Man könnte z. B. eine These, die man zu Beginn aufgestellt hat, verifizieren bzw. falsifizieren.
- Ein Ausblick auf weitere Fragestellungen, welche sich noch ergeben, bzw. noch offen sind.
- Die Standardversion ist die Zusammenfassung der wichtigsten Arbeitsergebnisse, wobei man z. B. auf die Aussageabsicht des Autors eingehen kann. Vermieden werden sollten literaturkritische Urteile oder die persönliche Meinung, da es sich bei einer Gedichtinterpretation um eine wissenschaftliche Analyse eines Gedichtes handelt und nicht um eine Erörterung.
- Aktualitätsbezug
Deutung
Die Deutung soll in 2–3 Sätzen gefasst sein. Sie soll den Titel des Gedichts und das Erscheinungsjahr des Gedichts nennen sowie erklären, was der Autor ausdrücken wollte. Außerdem soll sie kurz die Aussage des Textes im heutigen Verständnis wiedergeben.
Arbeitsanweisungen
- Einleitung
- Autor
- Titel
- Gedichtsform
- Entstehungszeit
- Formanalyse
- Reimschema
- Paarreim: aa bb
- Kreuzreim: ab ab
- Umarmender Reim: ab ba
- Verschränkter Reim: abc abc
- Schweifreim: aa b cc b
- Metrum / Versmaß
- Jambus (steigend): unbetont – betont – unbetont – betont; frisch, belebend, dynamisch
- Trochäus (fallend): b – u – b – u; gemäßigt, fest, auch schwer
- Daktylus (doppelt fallend): b – u – u – b; bewegt, häufig z. B. bei Tanzliedern
- Anapäst (langsam steigend): u – u – b – u; häufig im Wechsel mit dem Jambus, ebenfalls belebend
- Kadenz
- Reimschema
- Sprachanalyse
- Satzbau
- Stilmittel
- Hyperbeln (Übertreibungen im weitesten Sinne)
- Metaphern (Bildhafte Umschreibungen von Dingen, Personen etc.)
- Allegorien (abstrakte Begriffe wie Liebe, Hass o. Ä. werden bildhaft umschrieben)
- Symbole und Vergleiche (bildliche Ausdrücke, die auf eine ihnen Ähnliche verweisen)
- Personifikationen (Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Personen ordnet man zur Verdeutlichung abstrakten Begriffen, unbelebten Dingen, Pflanzen oder Tieren zu)
- Antithesen (Gegensätzliche Begriffe oder Aussagen werden einander gegenübergestellt)
- Ellipse (Auslassung, ein Satz wird unvermittelt ausgelassen)
- Enjambement (Eine Sinneinheit zieht sich über mehrere Verse)
- Synekdoche (Ein Detail steht für das Gesamte, eine bestimmte Zahl steht für eine unbestimmte)
- Metonomie (Folgen stehen für die Ursachen, Ein Land führt Etwas aus, was eigentlich seine Bewohner ausführen)
- Periphrase (Umschreibungen verschiedener Begriffe)
- Pathetische Figur (Ausrufe, Laute etc...)
- Rhetorische Frage (Frage, auf welche man keine Antwort erwartet)
- Apostrophe (Anrede einer nicht präsenten Person)
- Syndese (Reihung von Bindewörtern)
- Asyndese (Bindewörter werden ausgelassen)
- Katachrese (Bildbruch, falsche Formulierung)
- Neologismen (Wortneuschöpfung)
- Wortwahl
- Adjektive
- Adverbien
- Wortgruppen bzw. Wortfelder (z.B. Natur...)
- …
- Inhaltliche Untersuchung
- Worauf bezieht sich der Titel
- Thema des Gedichtes
- Wiederaufgreifen von Fakten aus Form- und Sprachanalyse zum Belegen der eigenen Aussagen
- Gliederungen
- Wirklichkeitsbilder und abstrakte Darstellungen
- Rückschlüsse auf Inhalt + Interpretation
- Deutung
- Die Aussage des Autors
- Erscheinungsjahr
- Bedeutung der Überschrift
- Wie versteht man heute die Aussagen?
- Ist es zum Beispiel eher eine moralische Aufforderung (Umweltschutz, Ängste mit Vorwürfen assoziiert) oder eher eine lyrische Darstellung (Liebe, Natur, …)
- Wiederaufgreifen von Fakten aus Form- und Sprachanalyse zum Belegen der eigenen Aussagen
- Schluss
- Fazit
- Ausblick
- Aktualitätsbezug
Weblinks
- Hans-Dieter Gelfert: Fahrplan zur erfolgreichen Gedichtinterpretation
- http://www.gottwein.de/poetik/lyr01.php Interpretationshinweise zur (antiken) Lyrik.
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