Sonett

Sonett

Das Sonett (von lat. sonus ‚Klang, Schall‘, auch: Klanggedicht oder auch lat. sonare ‚tönen‘ und ital. sonetto ‚Klinggedicht‘) ist eine Gedichtform. Der Name bedeutet „kleines Tonstück“ und wurde im deutschen Barock als „Klinggedicht“ übersetzt.

Inhaltsverzeichnis

Aufbau und Varianten

Ein Sonett besteht aus 14 metrisch gegliederten Verszeilen, die in der italienischen Originalform in vier kurze Strophen eingeteilt sind: zwei Quartette und zwei sich daran anschließende Terzette.

Die einzelnen Verse (Zeilen) des italienischen Sonetts sind Endecasillabi (Elfsilbler) mit meist weiblicher Kadenz. Dem entspricht im Deutschen der fünfhebige Jambus, dessen Kadenz weiblich (11 Silben) oder männlich (10 Silben) sein kann.

In der spanischen und portugiesischen Lyrik wurde das Sonett im Ganzen nach italienischem Vorbild übernommen.

In der französischen Klassik und in der ersten Rezeptionsphase in Deutschland während der Barockzeit war das bevorzugte Versmaß der Alexandriner, ein sechshebiger Jambus mit Zäsur in der Mitte, der Dramenvers der französischen Klassik.

In die englische Literatur hielt das Sonett im 16. Jahrhundert Einzug. Sehr schnell wurde die Form geändert: Drei Quartette führen zu einem zweizeiligen heroic couplet; das Versmaß war der jambische Fünfheber mit - seltener - weiblicher oder - häufiger - männlicher Kadenz. Das englische Sonett wurde auch als „Shakespeare-Sonett“ nach seinem bedeutendsten Vertreter bekannt.

Auch in Deutschland gilt der jambische Fünfheber seit A. W. Schlegel als Idealform mit männlicher (stumpfer) oder weiblicher (klingender) Kadenz und dem Reimschema

abba – abba – cdc – dcd

oder

abba – cddc – eef – ggf

In den beiden Terzetten kamen jedoch zu allen Zeiten viele Varianten vor, beispielsweise

abba – abba – ccd – eed
abba – abba – cde – cde
abba – abba – ccd – dee
abba – abba – cde – ecd

Das englische Sonett reimte

abab – cdcd – efef – gg

Sonettzyklen

Oft werden mehrere Sonette zu größeren Zyklen zusammengestellt:

  • Tenzone: Streitgespräch zwischen zwei Dichtern, wobei in einer strengen Form die Reim-Endungen des vorangehenden Sonetts aufgegriffen werden.
  • Sonett(en)kranz: Der Sonettenkranz ist gefügt aus 14 + 1 Einzelsonetten, wobei jedes Sonett in der Anfangszeile die Schlusszeile des vorangehenden aufnimmt. Aus den 14 Schlusszeilen ergibt sich in unveränderter Reihenfolge das 15. oder Meistersonett.
  • Hunderttausend Milliarden Gedichte von Raymond Queneau, 1961 (literarischer Hypertext avant la lettre)
  • Sonettennetz: Das Sonettennetz ist eine von Thomas Krüger erstmals im Gedichtband „Im Grübelschilf“[1] entwickelte Gedicht-Form, die die Form des Sonettenkranzes weiterentwickelt, wobei allerdings die 14 Basissonette nicht durch wieder aufgenommene Zeilen verbunden sind. Bei einem Sonettennetz werden 14 Sonette gegeben, deren parallele Verse im Sinne eines Geflechtes wiederum 14 neue Sonette ergeben. Der Reiz dabei ist, dass aus den 14 Basis-Sonetten 14 neue Sonette abgeleitet werden, ohne dass neue Zeilen hinzugefügt werden. Wie beim Sonettenkranz aus den 14 Schlusszeilen ein neues 15. Sonett entsteht, so entstehen beim Sonettennetz aus den ersten Zeilen, in unveränderter Reihenfolge aneinandergefügt, ein weiteres Sonett, desgleichen gilt für alle zweiten Zeilen und für alle dritten Zeilen usw. Das Reimschema abba–abba–ccd–eed wird auch bei den 14 abgeleiteten Sonetten beibehalten. Man erhält in der Summe schließlich 28 Sonette.

Poetischer Inhalt

Ideale inhaltliche Strukturierungen sind:

  • im italienischen Sonett:
    • These im 1. Quartett
    • Antithese im 2. Quartett
    • Synthese in den Terzetten
  • alternativ ebenfalls im italienischen Sonett:
    • These in den Quartetten
    • Antithese in den Terzetten
  • im englischen Sonett:
    • These in den ersten beiden Quartetten
    • Antithese im dritten Quartett
    • aphorismusartige Synthese im Couplet.

Geschichte

Beginn in Italien im 13. Jahrhundert

Der Ursprung des Sonetts liegt in Italien, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Es wurde vermutlich am apulisch-sizilischen Hof des staufischen Kaisers Friedrich II. in Palermo vor 1250 „erfunden“. Hier befand sich die höfische Sizilianische Dichterschule, die in der sizilianischen lingua volgare Minnelyrik verfasste. Giacomo da Lentini, der eine Spitzenstellung in der Sizilianischen Dichterschule innehatte, könnte der erste Anwender der Form und damit der „Erfinder“ des Sonetts gewesen sein. Gelegentlich wird auch eine Verwandtschaft mit bestimmten Formen der arabischen Lyrik vermutet. (Arabisch war neben sizilianischem Italienisch Verkehrssprache in Palermo.)

Die Gedichte aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wiesen alle das gleiche Muster auf, das später von den Meistern der Sonettkunst, Petrarca und seinen Nachfolgern, übernommen wurde: Sonette bestanden stets aus vierzehn elfsilbigen Versen, die in eine Oktave bzw. ein Oktett und ein Sextett aufgeteilt waren.

Die Oktave unterlag einer Zweizeilerstruktur aus alternierenden Reimen (abababab). Die beiden Quartette (oder das Oktett) und die nachfolgenden Terzette (oder das Sextett) trennte ein rhetorischer Neuansatz. Das Reimschema der beiden Terzette war unterschiedlich, meist cde cde, aber es gab auch Varianten.

Diese Gruppe der ältesten bekannten Sonette umfasst 19 Gedichte. Fünfzehn von Giacomo da Lentini, je eines von Jacopo Mostacci und Pier delle Vigne (auch Petrus de Vinea) und zwei weitere vom Abt des Klosters Tivoli. Eine genauere Datierung der überlieferten Texte des Dichterkreises um Friedrich II. (auch der Kaiser selbst dichtete, wenn auch keine Sonette) ist nicht möglich.

Bekannt gemacht hat die Sonettform Francesco Petrarca (1304–1374). Seine Gedichtsammlung, der Canzoniere, entstand in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und erschien 1470 erstmals im Druck. Das Werk, der Beginn des zweiten großen erotischen Lyriksystems der abendländischen Literaturgeschichte nach dem Minnesang, der dolce stil nuovo, besteht im Wesentlichen aus Sonetten, die an des Dichters „Madonna angelicata“, an Laura, gerichtet sind, und gibt damit eine nachhaltige Vorlage für zahlreiche Nachahmer bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts (Shakespeares Sonette). Man redet vom Petrarkismus.

Petrarcas Zeitgenosse Antonio da Tempo beschrieb in seinem Buch „Summa artis rithmici“ schon 16 Reimvarianten des Sonetts. Vier dieser Formen wurden später zur hohen Sonettdichtung gezählt, die vier Arten, die Petrarca in seinem Canzoniere nutzte: die umschlingenden (abba–abba) und die alternierenden Reime für die Oktave, die dreireimige Form (cde–cde) und die alternierende Form (cdc–dcd) für das Sextett.

Ausbreitung über Europa bis zum deutschen Barock

Nach einer ersten Blüte bei Petrarca und Dante – ein berühmter Petrarkist und Sonettdichter war später auch Michelangelo (1475–1564) – und der sofortigen Rezeption in hebräischer Sprache durch Immanuel ha-Romi verbreitete sich das Sonett im ganzen romanischen Kulturraum, im 16. Jahrhundert auch in England und Deutschland, wenig später dann in den Niederlanden und Skandinavien. Der älteste bekannte deutsche Sonettzyklus stammt von Johann Fischart. Mit der Romantik wurde das Sonett auch in den slawischen Ländern populär.

Um 1450 gelangte das petrarkistische Sonett nach Spanien (Íñigo López de Mendoza) und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach Portugal (Francisco de Sá de Miranda[2], später Luís de Camões). In der Mitte des Jahrhunderts kam es nach Frankreich (Joaquim du Bellay, Pierre de Ronsard) sowie gegen Ende desselben nach Holland und Deutschland.

In Frankreich, wie später in Deutschland, erfuhr der Sprachrhythmus eine wesentliche Änderung. Das von den Italienern bevorzugte elfsilbige Versmaß fand im Französischen keine Entsprechung. Die französischen Dichter verwendeten daher den Alexandriner, ein zwölf- bzw. dreizehnsilbiges Maß mit Zäsur nach Silbe 6 oder 7, das von den deutschen Dichtern des Barock als jambischer Sechsheber mit einer Mittelzäsur, adaptiert wurde.

In England gab es eine bedeutende Sonettkultur unter den Dichtern der elisabethanischen Epoche (Sir Philip Sidney, Edmund Spenser, Michael Drayton u. v. a.). Vor allem William Shakespeare (1564–1616) brachte die besondere Form des elisabethanischen Sonetts im Jahr 1609 zu einer letzten Blüte.

Bedeutend für die Einführung des Sonetts in Deutschland waren Georg Rudolf Weckherlin und die Poetik von Martin Opitz. Als eigenständige aussagekräftige Form gewinnt das Sonett allerdings erst Bedeutung bei Andreas Gryphius, wenn auch in der Alexandriner-Form Frankreichs. Der Petrarkismus war bei Gryphius aber längst verlassen. Gryphius vereinte das Sonett mit den Zielen religiöser Dichtung (etwa dem Vanitasgedanken der Zeit) und verarbeitete im Sonett die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges.

Eine Besonderheit im Ursprungsland der Form stellen die „sonetti romaneschi“ des römischen Volksdichters Giuseppe Gioacchino Belli (1791–1863) dar. Belli bedient sich meisterhaft der alten Form zum Zweck einer realistischen Berichterstattung über seine römische Umwelt in weit über 2000 Sonetten.

Das Sonett in Deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert

Sonett vom 3. April 1816 „zum 67. Geburtstag“ von einem unbekannten Autor

Nach dieser Blütezeit folgte eine Zeit, in der die überbeanspruchte Form von den Dichtern gemieden oder die Regeln bewusst gebrochen wurden, bis die Form zaghaft im späten 18. Jahrhundert wiederentdeckt wurde.

An ernsthafter Bedeutung gewann das Sonett wieder mit Gottfried August Bürgers Gedichtsammlung von 1789. Bürger nutzte für seine Sonette den zu dieser Zeit durch die Shakespeare-Rezeption modern gewordenen jambischen Fünfheber.

Sein Schüler August Wilhelm Schlegel machte das Sonett mit seiner Poetik und seinen Gedichten zu einem hervorgehobenen Paradigma der deutschen Romantik. Die Themen des Sonetts wendeten sich der Kunstphilosophie zu. Es entstanden Sonette auf Gemälde oder Musikstücke.

Wie zuvor rief die angesehene Form aber auch steten Spott hervor. Sonett-Liebhaber und Sonett-Gegner führten einen regelrechten Krieg gegeneinander. Unter diesen Bedingungen bezog auch Johann Wolfgang von Goethe Position und versuchte sich sehr erfolgreich an Sonetten. Während der antinapoleonischen Befreiungskämpfe wurde das Sonett zum politischen Sonett (vgl. Friedrich Rückerts „Geharnischte Sonette“, 1814).

Durch das Junge Deutschland und den Vormärz wurde das Sonett zu der am häufigsten verwendeten lyrischen Form der Zeit.

Im Symbolismus fand das Sonett neue Bewertung durch Stefan George (vor allem in dessen Übersetzungen), Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke. Auch in der Lyrik des Expressionismus trat es auf; es hatte dort den Untergang der alten Werte oder Groteskes und Komisches widerzuspiegeln. Unter den expressionistischen Dichtern bedienten sich Georg Heym, Georg Trakl, Jakob van Hoddis, Theodor Däubler, Paul Zech der Form des Sonetts.

Der verbrecherischen Gewalt des nationalsozialistischen Staates stellte Reinhold Schneider christliche Gesinnung in der streng geordneten Sprache seiner Sonette entgegen. Sie wurden damals in einer Art Samisdat verbreitet und konnten erst nach dem Ende des Krieges gedruckt werden (vgl. die Olympischen Sonette Jochen Kleppers von 1936, veröffentlicht 1947; jetzt in: ders.: Ziel der Zeit). In und nach dem Zweiten Weltkrieg klammerten sich Verfolgte und Eingekerkerte (Albrecht HaushofersMoabiter Sonette“, 1946), Emigranten und Überlebende an die strenge Form des Sonetts.

Das Sonett wurde in den 1950er bis 1970er Jahren in der BRD wenig gepflegt (Christoph Meckel, Volker von Törne, Robert Wohlleben, Klaus M. Rarisch). Die Sonette, die geschrieben wurden, zeigen nicht selten die Sonettform als eine sinnentleerte vor. Beinahe wieder ein Lob des Sonetts ist Robert Gernhardts berühmtes Sonett Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs.[3] In der DDR wurde das Sonett von der Sächsischen Dichterschule (Karl Mickel, Rainer Kirsch und andere) häufig aufgegriffen und produktiv weiterentwickelt. Seit den 1980er Jahren werden wieder mehr Sonette geschrieben, zum Beispiel von Andreas Altmann, Ernst-Jürgen Dreyer, Eugen Gomringer, Durs Grünbein und Ulla Hahn. In der jüngeren Generation ist diese Gedichtform unter anderem bei Jan Wagner zu finden.

Weitere bedeutende Sonettdichter

Ein bedeutender französischer Sonettdichter war in der Mitte des 19. Jahrhunderts Charles Baudelaire. In seinem Hauptwerk „Les Fleurs du Mal“ sind etwa die Hälfte der Gedichte in Form von Sonetten geschrieben. Auch Stéphane Mallarmé und Arthur Rimbaud schrieben formvollendete Sonette. Bei äußerlich eingehaltener Strenge sind bei den Letztgenannten zugleich innere Auflösungstendenzen des Sonetts hin zu einer mehr gleitenden, freieren Verwendung der Form zu erkennen. Während die Sonette des Expressionismus an die Rauheit der Sonette Rimbauds anknüpfen, wird der schwebend-luftige Ton der Sonette Mallarmés am ehesten von Rilke in den Sonetten an Orpheus dem Deutschen anverwandelt und weitergeführt.

Beispiele

Francesco Petrarca

Io canterei d'amor sí novamente
ch'al duro fiancho il dí mille sospiri
trarrei per forza, et mille alti desiri
raccenderei ne la gelata mente;

e 'l bel viso vedrei cangiar sovente,
et bagnar gli occhi, et piú pietosi giri
far, come suol chi de gli altrui martiri
et del suo error quando non val si pente;

et le rose vermiglie in fra le neve
mover da l'òra, et discovrir l'avorio
che fa di marmo chi da presso 'l guarda;

e tutto quel per che nel viver breve
non rincresco a me stesso, anzi mi glorio
d'esser servato a la stagion piú tarda.

Francesco Petrarca: Sonett 131 [4]

Andreas Gryphius

Wir sind doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret!
Der frechen Völker Schar, die rasende Posaun
Das vom Blutt fette Schwerdt, die donnernde Carthaun
Hat aller Schweiß und Fleiß und Vorrath auffgezehret.

Die Türme stehn in Glutt, die Kirch ist umgekehret.
Das Rathhauß ligt im Grauß, die Starcken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschänd’t, und wo wir hin nur schaun,
Ist Feuer, Pest, und Tod, der Hertz und Geist durchfähret.

Hir durch die Schantz und Stadt rinnt allzeit frisches Blutt.
Dreymal sind schon sechs Jahr, als unser Ströme Flutt,
Von Leichen fast verstopfft, sich langsam fort gedrungen,

Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest und Glutt und Hungersnoth,
Dass auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.

Andreas Gryphius: Thränen des Vaterlandes anno 1636 [5]

Johann Wolfgang von Goethe

    Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
       Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden;
       Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
       Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.

    Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
       Und wenn wir erst, in abgemessnen Stunden,
       Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
       Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.

    So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen.
       Vergebens werden ungebundne Geister
       Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

    Wer Großes will, muss sich zusammenraffen.
       In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
       Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

Johann Wolfgang von Goethe: Natur und Kunst [6]

Heinrich Heine

Im tollen Wahn hatt’ ich dich einst verlassen,

Ich wollte gehn die ganze Welt zu Ende,
Und wollte sehn ob ich die Liebe fände,
Um liebevoll die Liebe zu umfassen.

Die Liebe suchte ich auf allen Gassen,

Vor jeder Thüre streckt’ ich aus die Hände,
Und bettelte um gringe Liebesspende, –
Doch lachend gab man mir nur kaltes Hassen.

Und immer irrte ich nach Liebe, immer

Nach Liebe, doch die Liebe fand ich nimmer,
Und kehrte um nach Hause, krank und trübe.

Doch da bist du entgegen mir gekommen,

Und ach! was da in deinem Aug’ geschwommen,
Das war die süße, langgesuchte Liebe.

Heinrich Heine: Im tollen Wahn hatt’ ich dich einst verlassen [7]

Georg Trakl

Verhallend eines Gongs braungoldne Klänge –
Ein Liebender erwacht in schwarzen Zimmern
Die Wang’ an Flammen, die im Fenster flimmern.
Am Strome blitzen Segel, Masten, Stränge.

Ein Mönch, ein schwangres Weib dort im Gedränge.
Guitarren klimpern, rote Kittel schimmern.
Kastanien schwül in goldnem Glanz verkümmern;
Schwarz ragt der Kirchen trauriges Gepränge.

Aus bleichen Masken schaut der Geist des Bösen.
Ein Platz verdämmert grauenvoll und düster;
Am Abend regt auf Inseln sich Geflüster.

Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen
Aussätzige, die zur Nacht vielleicht verwesen.
Im Park erblicken zitternd sich Geschwister.

Georg Trakl: Traum des Bösen [8]

August Wilhelm Schlegel

Zwei Reime heiß’ ich viermal kehren wieder,
Und stelle sie, getheilt, in gleiche Reihen,
Daß hier und dort zwei eingefaßt von zweien
Im Doppelchore schweben auf und nieder.

Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder
Sich freier wechselnd, jegliches von dreien.
In solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen
Die zartesten und stolzesten der Lieder.

Den werd’ ich nie mit meinen Zeilen kränzen,
Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket,
Und Eigensinn die künstlichen Gesetze.

Doch, wem in mir geheimer Zauber winket,
Dem leih’ ich Hoheit, Füll’ in engen Gränzen.
Und reines Ebenmaß der Gegensätze.

August Wilhelm Schlegel: Das Sonett [9]

William Shakespeare

William Shakespeare hat mit The Sonnetts den nach Petrarcas Canzoniere wohl berühmtesten Sonettenzyklus aller Zeiten geschaffen. Viele Lyriker haben sich an der Übersetzung seiner Sonette erprobt und geschult.

Let me not to the marriage of true minds
Admit impediments. Love is not love
Which alters when it alteration finds,
Or bends with the remover to remove:

O, no! it is an ever-fixed mark,
That looks on tempests and is never shaken;
It is the star to every wandering bark,
Whose worth’s unknown, although his height be taken.

Love’s not Time’s fool, though rosy lips and cheeks
Within his bending sickle’s compass come;
Love alters not with his brief hours and weeks,
But bears it out even to the edge of doom.

If this be error and upon me proved,
I never writ, nor no man ever loved.

William Shakespeare: Sonnet CXVI [10]

Übersetzungsbeispiel: Stefan George

Man spreche nicht bei treuer geister bund
Von hindernis! Liebe ist nicht mehr liebe
Die eine ändrung säh als ändrungs-grund
Und mit dem schiebenden willfährig schiebe

O nein, sie ist ein immer fester turm
Der auf die wetter schaut und unberennbar.
Sie ist ein stern für jedes schiff im sturm:
Man misst den stand, doch ist sein wert unnennbar.

Lieb’ ist nicht narr der zeit: ob rosen-mund
Und -wang auch kommt vor jene sichelhand …
Lieb’ ändert nicht mit kurzer woch und stund,
Nein, sie hält aus bis an des grabes rand.

Ist dies irrtum der sich an mir bewies,
Hat nie ein mensch geliebt, nie schrieb ich dies.

Stefan George: Shakespeare Sonnette. Umdichtung [11]

Literatur

  • Jörg-Ulrich Fechner: Das Deutsche Sonett. Dichtungen – Gattungspoetik – Dokumente. München 1969
  • Hans Jürgen Schlütter: Sonett. Sammlung Metzler; 177: Abt. E, Poetik. Stuttgart 1979
  • Jochen Vogt: Einladung zur Literaturwissenschaft. 3., durchgesehene und aktualisierte Auflage, München 2002
  • Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett. Universitätsschriften: Münchener komparatistische Studien; Band I. Göttingen 2006
  • Andreas Böhn: Das zeitgenössische deutschsprachige Sonett. Vielfalt und Aktualität einer literarischen Form. Stuttgart 1999
  • Raoul Schrott: Giacomo da Lentino oder von der Erfindung des Sonetts. In: ders.: Die Erfindung der Poesie. dtv, München 1999, S. 391–432 (Originalausgabe: Eichborn, Frankfurt am Main 1997)
  • Theo Stemmler: Dem Kaiser folgend, begannen die Beamten zu dichten. In: FAZ, 15. September 2010, Seite N4

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Sonett – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. 2006, ISBN 3-87023-154-8
  2. Francisco de Sá de Miranda: Obras Completas. Texto fixado, notas e prefácio pelo Prof. M. Rodrigues Lapa, Bd. I, 3. Auflage, Lisboa: Sá da Costa, 1960
  3. Vgl. dazu z. B. Hans-Walter Schmidt-Hannisa, Erniedrigen – um zu erhöhen. Sonettistische Sonettkritik bei Robert Gernhardt und einigen seiner Vorläufer, in: Klaus H. Kiefer, Armin Schäfer, Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hrsg.): Das Gedichtete behauptet sein Recht. Festschrift für Walter Gebhard zum 65. Geburtstag. Peter Lang, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2001, S. 101–114.
  4. Zitiert nach: Il Canzoniere, Sonetto 131
  5. Zitiert nach: Andreas Gryphius auf Wikisource
  6. Zitiert nach: Johann Wolfgang von Goethe: Was wir bringen. Vorspiel bei der Eröffnung des neuen Schauspielhauses zu Lauchstädt. In: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, hg. v. Eduard der Hellen, Stuttgart Berlin: Cotta o. J., Bd. 9, S. 235
  7. Zitiert nach: Heinrich Heine auf Wikisource
  8. Zitiert nach: literaturnische.de, abgerufen 3. April 2010
  9. Zitiert nach: hor.de
  10. Zitiert nach: shakespeares-sonnets.com
  11. Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Bd. 2, S. 208

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