- Gesundes Volksempfinden
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Der Begriff Gesundes Volksempfinden wurde in der Zeit des Nationalsozialismus verwendet, um die Rechtsprechung für die nationalsozialistische Ideologie zu öffnen. Durch eine elastische Gesetzgebung sollte sich das Primat des Politischen gegenüber dem Recht bewähren. [1]
Im Bereich von Kunst und Kultur diente der Begriff dazu, im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie missliebige Werke für „entartet“ oder „volksfremd“ zu erklären. Begründet wurde dieses Vorgehen mit einem unterstellten kollektiven Willen der Volksgemeinschaft.
Inhaltsverzeichnis
Nationalsozialismus
Durch das Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935 (RGBl. 1935 I, S. 839) ging der Ausdruck in die Gesetzestexte ein. In § 2 hieß es nun: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. [...]“ Im Gesetz über den Ausgleich bürgerlich-rechtlicher Ansprüche hieß es, dass Nachteile, welche durch die politischen Vorgänge im Rahmen der nationalsozialistischen Erhebung zugefügt worden seien, Ausgleich erfahren sollten, insofern dieser Anspruch nach gesundem Volksempfinden zur Beseitigung unbilliger Härte erforderlich sei. Die Entscheidung oblag dem Reichsinnenminister nach billigem Ermessen. § 48 Abs. 2 Testamentgesetz bewirkte die Nichtigkeit eines Testamentes, wenn in einer gesundem Volksempfinden widersprechenden Weise gegen die Rücksichten verstoßen wurde, die ein verantwortungsbewusster Erblasser gegen Familie und Volksgemeinschaft zu nehmen hat. Auch das Vollstreckungsmissbrauchsgesetz vom 13. Dezember 1934 (RGBl. I 1934, S. 1234) rekurrierte auf ein gesundes Volksempfinden.
Durch die Generalklausel eines Gesundes Volksempfindens erhielten die Richter eine größeren Spielraum des Ermessens. An ihnen lag es, eine Entscheidung zu treffen, die „der Volksgeist noch nicht vorgeformt hat, sondern noch in dem Fühlen und Denken des Volkes ruht, ohne dass es sich schon zur Regel konkretisiert hätte“[2]. Für den Richter, so interpretierte es Lange, ergebe sich dadurch die „hohe Aufgabe, das Recht nicht nur verstandesmäßig zu erfassen und anzuwenden, sondern aus der Gemeinschaftsverbundenheit heraus das deutsche Recht zu erfühlen und zu gestalten“.[3]
Der Rekurs auf ein gesundes Volksempfinden war in der Zeit des Nationalsozialismus unter Rechtswissenschaftlern allerdings umstritten.[4] L. Zimmerl kritisierte die Versuche, das bestehende Recht umzudenken. Das ständige Verweisen auf das gesunde Volksempfinden biete dem Richter gerade nicht, was er braucht. Das gesunde Volksempfinden sei viel zu unterbestimmt und sein Gehalt offensichtlich strittig. Zimmerl argumentierte: „So wenig derjenige der beste Nationalist sein muß, der am häufisten und lautesten ‚Heil Hitler’! schreit, so wenig ist es ein Beweis für die Volksnähe des Gesetzes, wenn es immer wieder behauptet, es zu sein.“[5]
Rechtshistorischer Hintergrund
Die Nationalsozialisten konnten sich auf zahlreiche Verfassungsrechtler der Weimarer Republik berufen, wenn sie behaupteten, das bisherige Recht sei abstrakt und undeutsch.[6] Eine Wurzel hat das gedankliche Konstrukt in der vaterländisch-nationalistischen Philosophie von Jakob Friedrich Fries (1773–1843), in dessen zentralem Begriff der Ahndung die „richtige“ Gesinnung als objektives Kriterium zum gültigen Rechtsgut erhoben werden sollte. Joachim Rückert führte den Rechtsgedanken eines gesunden Volksempfindens auf Savigny zurück. [7] In der Gegenwart plädierte Ingo von Münch für eine Rehabilitierung des Begriffes. [8]
Literatur
Primärliteratur aus der Zeit des Nationalsozialismus
- H. Lange: Generalklauseln und neues Recht, in: Juristische Wochenschrift, 62 (1933), S. 2858f.
- Karl Peters: Das gesunde Volksempfinden. Ein Beitrag zur Rechtsquellenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts. DStR 1938, S. 337-350
- Erich Mirievsky: Die Volksanschauung und ihre Berücksichtigung in der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts und der bisherigen Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen. Dresden 1940 (Diss. 1940)
- Robert Bartsch: Das ‚gesunde Volksempfinden’ im Strafrecht. Hamburg 1941 (Diss. 1940)
- Ferdinand Kadeçka: Gesundes Volksempfinden und gesetzlicher Grundgedanke. ZStW 62 (1942/44), S. 1-27
Sekundärliteratur
- Joachim Rückert: Das ‚gesunde Volksempfinden’ – eine Erbschaft Savignys?, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 103 (1986), S. 199-247
- Angelika Kleinz: Individuum und Gemeinschaft in der juristischen Germanistik. Die Geschworenengerichte und das ‚gesunde Volksempfinden’. Heidelberg 2001
Einzelnachweise
- ↑ Bernd Mertens: Rechtsetzung im Nationalsozialismus, Tübingen 2009, S. 103
- ↑ Karl Peters: Das gesunde Volksempfinden. Ein Beitrag zur Rechtsquellenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts, DStR 1938, S. 337-350, S. 343
- ↑ H. Lange: Generalklauseln und neues Recht, in: Juristische Wochenschrift, 62 (1933), S. 2858-2859, S. 2859
- ↑ Vgl. Robert Bartsch: Das ‚gesunde Volksempfinden’ im Strafrecht, Hamburg 1941 (Diss. 1940)
- ↑ L. Zimmerl: Gesetz und materielle Gerechtigkeit im Strafrecht, in: Beiträge zur Neugestaltung des Deutschen Rechts. Festgabe der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Marburg zum 70. Geburtstag des o. Professors Dr. jur., Dr. phil., Dr. rer. pol. h.c. Erich Jung, Marburg 1937, S. 222-242, S. 241.
- ↑ Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, S. Fischer-Verlag 2000, S. 188
- ↑ Joachim Rückert: Das ‚gesunde Volksempfinden’ – eine Erbschaft Savignys?, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 103 (1986), S. 199-247.
- ↑ Ingo von Münch: Tabuisierung von Begriffen, NJW 1994, S. 634
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