Gilbert von Poitiers

Gilbert von Poitiers

Gilbert von Poitiers, auch Gilbert Porreta, Gilbertus Porretanus, Gilbert de la Porrée (* ~1080; † 1155) war ein scholastischer Philosoph und Theologe.

Der Schüler Bernhards von Chartres, Anselms von Laon und Radulfs von Laon war Lehrer in Poitiers, Chartres und Paris und kommentierte u.a. den Boethius. Er wurde im Jahre 1142 Bischof von Poitiers.

Er war Vertreter des Realismus im Universalienstreit. Gilbert unterscheidet wohl als erster Individualität (beruhend auf partieller Unähnlichkeit der Eigentümlichkeit eines Seienden mit anderen) und Singularität (allem Seienden zukommend, welche insofern konform sind). Gilbert wurde u.a. von Bernhard von Clairvaux wegen seiner sprachlogischen Distinktion zwischen Gott und Gottheit angegriffen. Otto von Freising schildert ausführlich seinen Prozess.

Gilbert war eine Leuchte seiner Zeit. Für seine Freunde und Schüler überragte der Bischof von Poitiers alle Zeitgenossen in allen Wissenschaften und verdiente einen klangvolleren Namen als selbst Plato. Für seine Bewunderer war Gilbert das gleichrangige Du der Weisheit und aus ihm schien sogar gleichsam 'die Quelle der Philosophie' zu fließen. Seine Hauptleistung besteht in der Unterscheidung zwischen id quod und id quo.

Wörtlich übersetzt bedeuten die beiden Ausdrücke: „das, welches ist“ und „das, wodurch es ist“. Ihre Verknüpfung wird sofort klar, wenn wir den Bezug zum Gegenpol (in Klammern) jeweils mitdenken: „id quod est (eo quo est)“ und „id, quo est (id quod est)“ Das quod ist also durch das quo und das quo ist jenes, wodurch das quod ist. Der Ursprung dieser Redeweise liegt im Platonismus, wo ja in einem wahren Sinn das einzelne durch die Idee ist.

Theologisch angewandt hat das Kategorienpaar quod/quo aber allen platonischen Geschmack verloren. Darum dürfen wir es frei und weiterführend mit „Wer“ und „Was“ übersetzen. Id quod est bedeutet in der Theologie immer ein Wer, eine Person; id quo est bedeutet eine Natur, einen Umstand, eine Weise zu sein, kurz: ein Was. Jedes Wer ist auf die Weise irgendeines Was, und ein Was ist nicht eigentlich selbst, sondern als Seinsweise eines Wer.

Zweierlei leistet diese Begrifflichkeit:

Erstens verknüpft sie, als verschiedene Begriffe miteinander und durcheinander denkbar, zwei Ausdrücke (Natur und Person), welche die alte Kirche (mit einer gewissen Willkür und Zufälligkeit) mittels verschiedener Namen eines ursprünglich einzigen Begriffs (der konkreten Substanz) als dogmatische Grundkategorien geschaffen hat, ohne sie in eine verständliche Beziehung zueinander zu bringen.

Zweitens übertrifft Gilberts Leistung alle vorherigen Versuche, Natur und Person ins Verhältnis zu setzen, dadurch, dass er die konkrete Substanz als solche zu einem Begriffspaar auseinander spreizt. Wie war es zuvor gewesen? Da bedeutete jedes Verständnis der beiden christlichen Grunddogmen (Trinität und Inkarnation) einen Verlust entweder an Konkretheit oder an Substantialität. Die Dreifaltigkeit konnte aufgefasst werden entweder als die eine Substanz mit drei (akzidentellen) Relationen (Augustinus) oder als die (allgemeine) Natur in drei konkreten Verwirklichungen (Kappadozier). Und die Einheit der Person Christi in zwei Naturen vergleicht noch Boethius ungescheut mit der Einheit eines Chores; der Unterschied zwischen Natur und Person ist für ihn der zwischen einem Allgemeinen und einem Besonderen.

Wollte man also die Worte Natur und Person verständlich aus- und gegeneinanderhalten, so konnte nur entweder die Substanz einem Akzidens oder die spezifische der konkreten Substanz gegenübergestellt werden. Beide Denkmöglichkeiten sind aber natürlich (das wusste man auch damals!) auf die Dogmen nicht anwendbar. Fügte man als Selbstverständlichkeit bei, dass es in Gott keine Akzidentien gebe und Christi Menschheit ebenfalls konkret sei, so erfolgte diese Klärung nicht harmonisch, sondern gewaltsam von außen her und nahm alle Verständlichkeit, die das Schema versprochen hatte, wieder fort. So fand man sich in ausweglosen Engpässen vor, über die vor Gilberts Distinktion zwar der Glaube, aber nicht das Denken hinwegkam.

Sie allein gibt freilich noch keinerlei Antwort auf die Frage, wie sich in der Dreifaltigkeit die verschiedenen Personen und beim Gottmenschen die verschiedenen Naturen jeweils zueinander verhalten. Wohl aber hat Gilbert, und bis heute er allein, zur Mitte seines Denkens ein analog in gleicher Weise auf beide Dogmen anwendbares Begriffsschema, ohne welches diese weiteren Fragen nicht ausgewogen zu beantworten sein dürften, in welchem sie aber auch, als freilich sehr verschiedene Ausfaltungen einer Struktur, fest miteinander verbunden sind.

Um im katholisch/orthodoxen Dialog bei der Frage der göttlichen Energien eine Annäherung zu ermöglichen, wurde 1964 ein Rückgriff auf Gilbert als hilfreich befunden; der damals entworfene „Neu-Porretanismus“ ist inzwischen im Netz veröffentlicht.

Literatur

  • Suitbert Gammersbach: Gilbert von Poitiers und seine Prozesse im Urteil der Zeitgenossen(Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung 5). Münster u.a.: Böhlau 1959
  • Nikolaus Häring: „Gilbert Porretta“. In: TRE 13 (1984), S. 266-268 Google-Booksearch
  • Klaus Jacobi: * Philosophische und theologische Weisheit. Gilbert von Poitiers Interpretation der „Regeln“ des Boethius (‘‘De hebdomadibis‘‘) In: "Scientia" und "disciplina": Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis im Wandel vom 12. zum 13. Jahrhundert. Hrsg. von Rainer Berndt, Matthias Lutz-Bachmann und Ralf M. W. Stammberger (Erudi Sapientia. Studien zum Mittelalter und zu seiner Rezeptionsgeschichte, Bd. III) Oldenbourg Akademieverlag, Berlin 2002. ISBN 978-3-05-003696-0

Weblinks

Werke
 Wikisource: Gislebertus Porretanus – Quellen und Volltexte (Latein)
Sekundärliteratur


Vorgänger Amt Nachfolger
Grimoard Bischof von Poitiers
1142 - 1155?
Calo

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Bischof von Poitiers — Die folgenden Personen waren Bischöfe und Erzbischöfe von Poitiers: Agon Hilarius 349–367 Pascentius Quintianus Gelais Antheme Maixent Adelphius 533 Daniel 541 Pient 555 oder 557–561 Pescentius 561 Marovée 573–594 Platon 594 Venantius Fortunatus… …   Deutsch Wikipedia

  • Gilbert Porreta — Gilbert von Poitiers, auch Gilbert Porreta, Gilbertus Porretanus, Gilbert de la Porrée (* 1080; † 1155) war ein scholastischer Philosoph und Theologe. Der Schüler Bernhards von Chartres, Anselms von Laon und Radulfs von Laon war Lehrer in… …   Deutsch Wikipedia

  • Gilbert de la Porrée — Gilbert von Poitiers, auch Gilbert Porreta, Gilbertus Porretanus, Gilbert de la Porrée (* 1080; † 1155) war ein scholastischer Philosoph und Theologe. Der Schüler Bernhards von Chartres, Anselms von Laon und Radulfs von Laon war Lehrer in… …   Deutsch Wikipedia

  • Gilbert de la Porrée —   [ʒil bɛːr də la pɔ re], Gilbẹrtus Porretanus, Gilbert Porreta, Gilbert von Poitiers [ pwa tje], französischer Philosoph und Theologe, * Poitiers um 1080, ✝ ebenda 4. 9. 1154; Schüler des Bernhard von Chartres und des Anselm von Laon; lehrte in …   Universal-Lexikon

  • Poitiers — Poitiers …   Deutsch Wikipedia

  • Poitiers (Begriffsklärung) — Poitiers ist der Name folgender geographischer Objekte: Poitiers, eine Stadt in Frankreich, davon abgeleitet die Verwaltungseinheiten Arrondissement Poitiers Kanton Poitiers 1 Kanton Poitiers 2 Kanton Poitiers 3 Kanton Poitiers 4 Kanton Poitiers… …   Deutsch Wikipedia

  • Liste der Bischöfe von Poitiers — Die folgenden Personen waren Bischöfe und Erzbischöfe von Poitiers: Agon Hilarius 349–367 Pascentius Quintianus Gelais Antheme Maixent Adelphius 533 Daniel 541 Pient 555 oder 557–561 Pescentius 561 Marovée 573–594 Platon 594 Venantius Fortunatus… …   Deutsch Wikipedia

  • Gilbert (Vorname) — Gilbert ist ein männlicher Vorname. Er beruht auf dem alten germanischen Männernamen Giselbert, der sich aus der beiden Wortstämmen gisil (Nachkomme eines edlen Geschlechts) und bert/beraht (für bekannt oder berühmt) zusammensetzt. Gilbert wird… …   Deutsch Wikipedia

  • Gilbert (Familienname) — Gilbert ist ein Familienname. Bekannte Namensträger Inhaltsverzeichnis A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z …   Deutsch Wikipedia

  • Gilbert de la Porrée — Gilbert de la Porrée, also known as Gilbert of Poitiers, Gilbertus Porretanus or Pictaviensis (1070 ndash; September 4, 1154) was a scholastic logician and theologian.LifeHe was born in Poitiers. He was educated under Bernard of Chartres and… …   Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”