Guten Rutsch

Guten Rutsch

Guten Rutsch!“ oderEinen guten Rutsch ins neue Jahr!oderrutsch guet übere“ (in der Schweiz) ist ein im deutschsprachigen Raum verbreiteter Silvester- beziehungsweise Neujahrgruß: Dem Angesprochenen wird gewünscht, dass er gut und wohlbehalten ins Neue Jahr kommen möge. Nachweisen lässt sich der Gruß etwa ab dem Jahr 1900.[1]

Verbreitet,[2] aber nicht unwidersprochen geblieben ist die Ansicht, dieser Ausspruch sei jiddischen Ursprungs und über die Vermittlung des Rotwelschen ins Deutsche gelangt. Ein anderer Erklärungsansatz ergibt sich durch die schon in älteren Wörterbüchern zu findende übertragene Bedeutung des Verbsrutschenalsreisenund der Substantivedie Rutscheundder Rutschfürdas Reisenodereine Fahrt“.

Inhaltsverzeichnis

Zur Herkunft vonReiseoderFahrt

Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm findet sich neben den Erklärungen für das Verbrutschenals sichgleitend bewegen“, „von freiwilligem und unfreiwilligem gleitenoderkriechenauch die freieren Verwendungen des Wortes mitda rutschtich fortundsonntag rutscht man auf das landdurch Johann Wolfgang von Goethe,[3] sowie unter dem Lemma anrutschen die Wendungich werd nächstens bei ihr angerutscht kommen“,[4] die auf den wohl scherzhaften Gebrauch des Wortes im Sinne vonreisenoderfahrenverweisen. Einen weiteren Beleg für diese übertragene Bedeutung bietet Johann Andreas Schmeller in seinem Bayerischen Wörterbuch von 1836, der unter dem Lemma rutschen unter anderemIrgend wohin rutschen, im Scherz: fahren. An Feyertagen rutscht das lebsüchtige München gerne auf Bering oder ins Hessellohvermerkt.[5]

Für das Femininumdie Rutscheist bei den Grimms mit der Wendungglückliche rutsch[6] ebenfalls die BedeutungReiseoderFahrtnachgewiesen. Nach Küpper[1] wird das Wort seit dem Jahr 1800 in dieser Form gebraucht, zusätzlich gibt erauf Rutsch gehenfürauf Reisen gehenfür das 19. Jahrhundert an.

Die maskuline Formder Rutschfindet sich beispielsweise in der Wendungguten (glücklichen) Rutschfürgute Reiseab dem Jahr 1820. Mundartlich ist für Sachsen, Thüringen und Berlin seit dem Jahr 1850 aucheinen Rutsch (Rutscher) machenfüreine kleine Reise machenbelegt.[7] Seit dem 19. Jahrhundert steht alsoder Rutschfür eine kurze Reisestrecke oder eine kleinere Reise, wobei das mit dem Verbrutschenangesprochenegleitensich wohl zunächst auf eine Fahrt mit dem Schlitten bezog und später auf die Eisenbahnfahrt übertragen wurde; Küpper vermutet daher, dass der Wunschguten Rutsch ins neue Jahrfür den guten Übergang ins Neujahr einmühelosHinübergleitenwie auf einem Schlittenandeuten soll.[1] Ähnlich äußert sich Röhrich:Zugrunde liegt die Vorstellung des langsamen, fast unmerklichen Hinübergleitensund ergänzt, dass der Wunsch auch verkürzt mitKomm gut rüber!“ geläufig sei.[7]

Zur Herkunft aus dem Rotwelschen

Siegmund A. Wolf gab in seinem Buch Deutsche Gaunersprache. Wörterbuch des Rotwelschen an, der SilvestergrußGuten Rutschsei eine Ableitung aus dem hebräischen ראש השנה טוב – Rosch ha schana tov, wörtlicheinen guten Kopf (Anfang) des Jahres“; daraus seientstellt das sonst sinnlose ‚guten Rutsch!‘ frohes Neujahr“. Als Quelle gibt er1956 berl. mdl.“ an.[8] Da seine Quelle fürRosch ha schonoNeujahrAdolf Friedrich Thieles Werk Die jüdischen Gauner in Deutschland, ihre Taktik, ihre Eigenthümlichkeiten und ihre Sprache (Berlin 1840) war, das – laut Wolf selbst – „von stärkster antisemitischer Tendenzsei und vor allem rein jiddische Vokabeln enthielte,[9] ist nicht ganz klar, welche Wörter Thiele demgenuin jiddischen und welche er dem rotwelschen Sprachgut entnommenhatte.[10] Für Wolfs Herleitung spräche allerdings, dass schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts das jiddischeroschalsRoschfürKopfundRuschfürCommendantim Rotwelschen verbreitet waren.[10]

Gegen Wolfs These wurden von Walter Röll im Jahr 2002 lautliche und sprachpragmatische Gründe vorgebracht.[11] Zunächst einmal – so Röll – sei die westjiddische Benennung des jüdischen Neujahrfestes rausch haschono/-ne oder rauschaschone/-scheschone und nicht etwa rosch haschana, denn letzteres sei sephardisch und gelte als gehobener Sprachgebrauch. Zudem sei dielautliche Distanz zwischen ‚rauschund ‚Rutsch‘ […] ziemlich groß“, und aus sprachhistorischen Gründen sei auch eine ältere Form des Wortes ausgeschlossen, denndie Diphthongierung von /o:/ zu /ou/ ist […] vor 1500 schon gesprochen worden“.[11] Ein weiterer Einwand gegen Wolf ergibt sich für Röll aus der Tatsache, dass nicht nur die Termine des christlichen und des jüdischen Neujahrsfestes nicht zusammenfallen, sondern dass auch die jiddischen Bezeichnungen für die jüdischen und christlichen Feiertage unterschiedlich seien. So sei Carl Wilhelm Friedrichs Wörterbuch Unterricht in der Judensprache (Prenzlau 1784) zu entnehmen, dass das Neujahr der Christen schone chadosche (wörtlich neues Jahr) genannt wurde, das Neujahr der Juden aber rosch chaschone („der Anfang des Jahres“). Auch Johann Heinrich Callenberg bezeuge in seinem Jüdischteutschen Wörterbüchlein … (Halle 1736), dass der Neujahrwunsch gegenüber Christen schone chadosche („Gott verleihe dir ein gutes neues Jahr“) gewesen sei, und so fragt Röll, wieim Verkehr mit Nichtjuden aus einem Wunsch zur christlichen ‚schone chadoscheein ‚guter Rutsch‘“ geworden sein soll.[11]

Gemeinsam mit Simon Neuberg schlug Walter Röll ebenfalls im Jahr 2002 einen anderen Ansatz als den sprachlichen zur Klärung der Herkunft des Neujahrwunsches vor:[12] Ausgehend davon, dass weder die Grimms in ihrem Deutschen Wörterbuch noch Daniel Sanders in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache (Leipzig 1876) den AusdruckGuten Rutschkannten, sei mit einer Entstehung der Wendung als Neujahrsgruß womöglich erst um das Jahr 1900 zu rechnen, und möglicherweise habe zu dessen Verbreitung ein Multiplikator in Form einesLeitmediumsbeigetragen. Dieses Leitmedium könnte nach Neuberg und Röll die Bildpostkarte gewesen sein, die sich um 1890/1895 zu verbreiten begann. Nach der Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts habe sich der Markt füroffen verschickte Glückwünsche … explosionsartigvermehrt, und ein häufiges Motiv für Neujahrsglückwünsche sei unter anderem derGute Rutschgewesen.[13] Neuberg und Röll gehen davon aus, dassbei geduldigem Suchenauch Bildpostkarten vom Beginn des 20. Jahrhunderts zu finden sein müssten, auf denen dasBildmotiv ‚guter Rutschauch verbalisiert ist“.[12]

Siehe auch

Literatur

  • Heinz Küpper: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. 1. Auflage. 6. Nachdruck. Klett, Stuttgart u. a. 1997, ISBN 3-12-570600-9, S. 684 (Lemmata Rutsch I und Rutsch II).
  • Simon Neuberg, Walter Röll: Anmerkungen zumGuten Rutsch. In: Jiddistik Mitteilungen Nr. 28, November 2002, ISSN 0947-6091, S. 1619.
  • Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Band 4: ObenSpielverderber. 4. Auflage. Herder, Freiburg u. a. 1999, ISBN 3-451-04800-0, S. 1266 (Lemma Rutsch).
  • Walter Röll: Guten Rutsch? In: Jiddistik Mitteilungen Nr. 27, April 2002, ISSN 0947-6091, S. 1416.
  • Hansjörg Roth: Guten Rutsch!“. In: Jiddistik Mitteilungen Nr. 28, November 2002, ISSN 0947-6091, S. 1215.
  • Siegmund A. Wolf: Deutsche Gaunersprache. Wörterbuch des Rotwelschen. Unveränderter Nachdruck der 2. Auflage von 1985. Buske, Hamburg 1993, ISBN 3-87118-736-4, S. 269 (Nummer 4633 Rosch).

Einzelnachweise

  1. a b c Heinz Küpper: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, 1. Auflage, 6. Nachdruck, Stuttgart, München, Düsseldorf, Leipzig 1997, Seite 684, Lemmata Rutsch I und Rutsch II.
  2. Exemplarisch sei hier genannt: Zwiebelfisch Was rutscht da an oder zu S/y/i/lvester?.
  3. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bände [in 32 Teilbänden], Leipzig 18541960, Band 14, Spalte 1568f.; dieanwendungen in freierem gebrauchesiehe unter II, 1), c).
  4. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bände [in 32 Teilbänden], Leipzig 18541960, Band 1, Spalte 432, Lemma anrutschen.
  5. Johann Andreas Schmeller: Bayerisches Wörterbuch, Theil 3, Stuttgart, Tübingen 1836, Spalte 191, Lemma rutschen.
  6. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bände [in 32 Teilbänden], Leipzig 18541960, Band 14, Spalte 1568 Lemma Rutsche, f. unter 3).
  7. a b Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 4, 4. Auflage Freiburg, Basel, Wien 1999, Seite 1266, Lemma Rutsch.
  8. Siegmund A. Wolf: Deutsche Gaunersprache. Wörterbuch des Rotwelschen, unveränderter Nachdruck der 2. Auflage von 1985, Hamburg 1993, Seite 269, Nummer 4633 Rosch.
  9. Siegmund A. Wolf: Deutsche Gaunersprache. Wörterbuch des Rotwelschen, unveränderter Nachdruck der 2. Auflage von 1985, Hamburg 1993, Seite 19.
  10. a b Hansjörg Roth: Guten Rutsch!“ In: Jiddistik Mitteilungen Nr. 28/November 2002, Seite 1215
  11. a b c Walter Röll: Guten Rutsch? In: Jiddistik Mitteilungen Nr. 27/April 2002, Seite 1416
  12. a b Simon Neuberg, Walter Röll: Anmerkungen zumGuten Rutsch; in: Jiddistik Mitteilungen Nr. 28/November 2002, Seite 1619
  13. Simon Neuberg, Walter Röll: Anmerkungen zumGuten Rutsch; in: Jiddistik Mitteilungen Nr. 28/November 2002, Seite 1619 mit einem Zitat der Internetseite Die Geschichte der offenen Postkarte.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Guten Rutsch! — „Guten Rutsch!“ oder „Einen Guten Rutsch ins neue Jahr!“ ist ein im deutschsprachigen Raum verbreiteter Silvester beziehungsweise Neujahrgruß, mit dem dem Angesprochenen gewünscht wird, dass er gut und wohlbehalten in das Neue Jahr kommen möge.… …   Deutsch Wikipedia

  • Rutsch — Rụtsch 〈m. 1〉 1. gleitende Bewegung abwärts, bes. von Stein , Erdmassen (BergRutsch, ErdRutsch) 2. 〈umg.〉 kleiner Ausflug, kurze Fahrt ● einen Rutsch machen ausrutschen, ausgleiten u. dabei hinfallen; 〈umg.〉 einen kleinen Ausflug machen; wir sind …   Universal-Lexikon

  • Rutsch — Etwas auf einen Rutsch erledigen: eine Sache schnell, in einem ⇨ Zug hinter sich bringen.{{ppd}}    Einen Rutsch (Rutscher) machen: eine kleine Reise machen, mundartlich seit 1850 für Sachsen, Thüringen und Berlin bezeugt.{{ppd}}    Einen guten… …   Das Wörterbuch der Idiome

  • Rutsch — Rụtsch der; nur in 1 in einem Rutsch / auf einen Rutsch gespr; ohne Unterbrechung 2 (einen) guten Rutsch (ins neue Jahr)! gespr; verwendet, um jemandem alles Gute für das neue Jahr zu wünschen …   Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache

  • Rutsch — rutschen: Das seit dem 15. Jh. bezeugte Verb ist – wie z. B. auch »flutschen« ugs. für »schnell vonstatten gehen« – wahrscheinlich lautnachahmenden Ursprungs. – Dazu stellen sich die vorwiegend in der Umgangssprache gebräuchlichen Bildungen… …   Das Herkunftswörterbuch

  • Rutsch — Rụtsch, der; [e]s, e; guten Rutsch [ins neue Jahr]! …   Die deutsche Rechtschreibung

  • Guter Rutsch — „Guten Rutsch!“ oder „Einen Guten Rutsch ins neue Jahr!“ ist ein im deutschsprachigen Raum verbreiteter Silvester beziehungsweise Neujahrgruß, mit dem dem Angesprochenen gewünscht wird, dass er gut und wohlbehalten in das Neue Jahr kommen möge.… …   Deutsch Wikipedia

  • Rutsch — RutschIm 1.Geburt.1950ff. 2.kurzeReisestrecke.Substantivzu»rutschen=gleiten«;meintbesondersdasgemächlicheDahingleitenaufglatterBahn(Schlittenfahrt);vondaübertragenaufdieEisenbahnfahrt.Seitdem19.Jh. 3.guten(glücklichen)Rutsch!=guteReise!1820ff.… …   Wörterbuch der deutschen Umgangssprache

  • Altjahrstag — Feuerwerk der Silvesternacht 2008/2009 in Frankfurt am Main Als Silvester wird in einigen europäischen Sprachen der 31. Dezember, der letzte Tag des Jahres im gregorianischen Kalender, bezeichnet. Auf Silvester folgt der Neujahrstag, der 1.… …   Deutsch Wikipedia

  • Jahresbeginn — Neujahr (auch: der Neujahrstag) ist der erste Tag des Kalenderjahres. In nahezu allen Kulturen, jedoch mit teils sehr unterschiedlichen Zeitrechnungen und damit auch Kalendern, ist mit dem Neujahr ein Neujahrsfest verbunden, das in der Folge auch …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki/556860 Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”