Harriet Martineau

Harriet Martineau
Harriet Martineau

Harriet Martineau (* 12. Juni 1802 in Norwich, Norfolkshire; † 27. Juni 1876 bei Ambleside, Westmoreland, Grafschaft Cumbria) war eine britische Schriftstellerin, die vor allem in gemeinverständlicher Art die reformbewußten politischen und naturwissenschaftlichen Ideen ihrer Zeit in zahlreichen Zeitungsartikeln und Büchern darlegte. Sie wird oft als erste feministische Soziologin bezeichnet.[1]

Inhaltsverzeichnis

Leben und Werk

Die Tochter eines Tuchfabrikanten hat eine schwere Kindheit, die von Krankheit und Nervosität geprägt ist. Nicht nur ihr Tast- und Geschmacksempfinden ist beeinträchtigt; zu allem Unglück macht sich mit 12 Jahren eine Schwerhörigkeit bemerkbar, die sie nie mehr los wird. Auch deshalb entscheidet sie sich um 1830 – nach Unterrichtung durch unitarische (radikal lutherische) Geistliche, ersten Artikeln in unitarischen Blättern und dem Tod des Vaters – für eine literarische Laufbahn. Ein neunbändiges Werk mit Geschichten, die Fragen der Nationalökonomie im Sinne von Malthus und Ricardo erläutern, erschienen 1832-34, wird auf Anhieb ein Bestseller. Dieser „populärwissenschaftlichen“ Orientierung bleibt sie treu. Neben den genannten Ökonomen ist ihr „sozialreformerisches“ Wirken – das letztlich der Entfaltung eines ungeknebelten Kapitalismus zu dienen trachtet – von Bentham und Mill beeinflusst.

Unter Whigs

Durch ihre Artikel und Bücher kann Martineau ihren Lebensunterhalt bestreiten. Während Darwins Biographen Desmond/Moore von „schmalzigen Novellen“ sprechen, versichern ihm dessen Schwestern schon in Briefen auf das vor Feuerland ankernde Forschungsschiff Beagle, sie verschlängen die „kleinen Bücher“ der „großen Londoner Gesellschaftslöwin“ mit Genuss.[2]. Als ihm Martineau 1837 aus ihrem entstehenden Roman Deerbrook vorliest, zeigt sich auch Darwin selber von ihrer „flüssigen Prosa“ angetan, die sie sogar aus dem Ärmel schreibe, also nie zu korrigieren pflege.[3] Von Reisen in die USA (1834-36) und nach Italien (1839) abgesehen, bleibt Martineau in den 30er Jahren auch der britischen Hauptstadt treu. Hier wird sie zu einer Attraktion der „fortschrittlichen“ Literaten- und Gelehrtenkreise, obwohl sie, wie der junge Darwin findet, erstaunlich hässlich ist.[4] Gleichwohl hat sie eine längere Liebschaft mit Darwins älterem Bruder Erasmus. Die laut Darwin stark selbstbezogene[5], jedoch beredsame Dame mit dem Hörrohr macht die Bekanntschaft zahlreicher Berühmtheiten, darunter Malthus persönlich, der sie für ihre Popularisierung seiner Leitideen – etwa: Förderung des Konkurrenzkampfes statt Armenfürsorge; es gibt schon viel zu viel Arme – ausdrücklich lobt.[6] Die Zirkel, in denen sie (wie auch die Darwins) verkehrt, stehen in politischer Hinsicht den Whigs im „Gegensatz“ zu den Tories nahe – dem Vorläufertandem des Gespanns Sozialdemokratie-Christdemokratie. In diesem reformerischen Sinne prangert sie die Sklaverei, die Korruption des Klerus und andere religiösen Hemmnisse des freien Handels und der industriellen Expansion an.[7]

Abwendung vom Christentum

Auf ihrer Italienreise in Venedig schwer erkrankt, sucht Martineau 1839 den Beistand ihres Schwagers Thomas Michael Greenhow in Tynemouth bei Newcastle upon Tyne, wo er als Arzt niedergelassen ist. Man diagnostiziert einen Unterleibstumor. In den nächsten fünf Jahren erwartet sie ihren Tod, während sie gegen die Schmerzen Opiate nimmt, sich freilich auch vom Mesmerismus eine Heilung verspricht.[8] 1845 lässt sie sich nahe den Schriftstellern William Wordsworth und Matthew Arnold, mit denen sie befreundet ist, in einem eigens für sie errichteten Haus (The Knoll) in Ambleside/Cumbria nieder, wo sie noch rund 30 Jahre leben wird. Sie schreibt weiter, darunter regelmäßig für die Londoner Daily News, fertigt dabei auch Übersetzungen aus dem Französischen an. Eine Auswahl aus Auguste Comtes Cours de philosophie positive erscheint 1853. Daneben betreibt Martineau, die nun als wiedergenesen gilt, etwas Landwirtschaft, hält im Winter Kurse für Arbeiter ab und vermietet ihren Landsitz den Sommer über an Urlauber. Reisen führen sie durch England und Irland, 1846 sogar in den Nahen Osten, was ihre Abwendung vom Christentum bestärkt, wenn sie auch nach wie vor an ein Weiterleben nach dem Tod glaubt.[8]

Harriet martineau portrait.jpg

Scheinbare Herzbeschwerden führen 1856 zu der Diagnose, der als geheilt betrachtete Tumor Martineaus sei beträchtlich angeschwollen. Sie wird unter anderem von ihrer Nichte Maria (die allerdings 1864 an Typhus stirbt) und deren jüngerer Schwester Jane (Jenny) betreut. Zu Martineaus (Brief-)Freundinnen zählen Florence Nightingale und Charlotte Brontë. 1866 unterzeichnet sie wie viele andere prominente Vorkämpferinnen der Emanzipation eine Petition an das Londoner Parlament für das Frauenwahlrecht. Im selben Jahr stellt sie ihr Schreiben krankheitsbedingt ein. 10 Jahre darauf erliegt sie einer Bronchitis.[8]

Martineaus jüngerer Bruder James Martineau war unitarischer Geistlicher und Professor am Manchester New College in London. Er verfasste verschiedene theologische Werke.

Werke

  • Illustrations of taxation; 5 Bände, Charles Fox, 1834
  • Illustrations of Political Economy; 9 Bände, Charles Fox, 1834
  • Miscellanies; 2 Bände, Hilliard, Gray and Co., 1836
  • Society in America; 3 Bände, Saunders and Otley, 1837, Neuauflage Cambridge University Press, 2009
  • Retrospect of Western Travel, Saunders and Otley, 1838
  • How to Observe Morals and Manners, Charles Knight and Co, 1838
  • Deerbrook; London, 1839
  • The Crofton Boys. A Tale, Charles Knight, 1841
  • Eastern Life. Present and Past, 3 Bände, Edward Moxon, 1848
  • Mit H. G. Atkinson: Letters on the Laws of Man's Nature and Development, Chapman, 1851, Neuauflage Cambridge University Press, 2009
  • The Positive Philosophy of Auguste Comte, von M. ausgewählt und übersetzt, 2 Bände, Chapman, 1853, Neuauflage Cambridge University Press, 2009
  • Harriet Martineau's Autobiography. With Memorials by Maria Weston Chapman, 2 Bände, Smith, Elder & Co, 1877

Literatur

  • Maria Weston Chapman: Autobiography, with Memorials, ursprünglich 1877, Wiederauflage Virago, London 1983
  • Florence Fenwick Miller: Harriet Martineau, ursprünglich 1884, Neuauflage Nabu Press, 2010
  • R. K. Webb: Harriet Martineau, a radical Victorian, Heinemann, London 1960
  • Paul L. Riedesel: "Who Was Harriet Martineau?", in: Journal of the History of Sociology, Nr. 3, 1981, Seite 63–80
  • Gaby Weiner: "Harriet Martineau: A reassessment (1802–1876)", in: Dale Spender (Hrsg): Feminist theorists: Three centuries of key women thinkers, Pantheon 1983, Seite 60–74
  • Valerie Sanders: Reason Over Passion: Harriet Martineau and the Victorian Novel, New York 1986
  • Deirdre David: Intellectual Women and Victorian Patriarchy: Harriet Martineau, Elizabeth Barrett Browning, George Eliot, Cornell University Press, 1989
  • Joan Rees: Women on the Nile: Writings of Harriet Martineau, Florence Nightingale, and Amelia Edwards, Rubicon Press 1995 und 2008
  • Michael R. Hill: Harriet Martineau: theoretical and methodological perspectives, Routledge, 2002
  • Deborah Anna Logan: The Hour and the Woman: Harriet Martineau's "Somewhat Remarkable" Life, Northern Illinois University Press, 2002
  • Deborah Anna Logan (Hrsg): The Collected Letters Of Harriet Martineau, Pickering and Chatto, London 2007
  • Ella Dzelzainis und Cora Kaplan (Hrsg): Harriet Martineau: Authorship, Society, and Empire (Sammelband mit Aufsätzen), Manchester University Press, 2011

Einzelnachweise

  1. Michael R. Hill 2002
  2. Adrian Desmond / James Moore: Darwin, London 1991, zitiert nach der Rowohlt-Ausgabe Hamburg 1994, Seite 178
  3. Desmond/Moore 1994 Seite 285
  4. Desmond/Moore 1994 Seite 237
  5. Desmond/Moore 1994 Seite 280
  6. Desmond/Moore 1994 Seite 231
  7. Desmond/Moore 1994 Seite 250
  8. a b c Uni Graz, abgerufen am 21. Juli 2011

Weblinks

 Commons: Harriet Martineau – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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