Hebban olla vogala

Hebban olla vogala

Hebban olla vogala ist ein gebräuchlicher Name für einen bekannten Satz in altniederländischer Sprache.

Der altniederländische Text Hebban olla uogala... befindet sich in der Mitte der rechten Hälfte des Bildes
Fragment Hebban olla uogala nestas hagunnan hinase hi(c)
(a)nda thu uu(at) unbida(t) g(h)e nu

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Dieser Text lautet (in der Transkription des Corpus Gysseling):

quid expectamus nu(nc)
Abent omnes uolucres nidos inceptos nisi ego & tu
Hebban olla uogala nestas hagunnan hinase hi(c)
(e)nda thu uu(at) unbida(t) g(h)e nu

Es handelt sich um zwei altniederländische Zeilen (Zeile 3 und 4) und zwei lateinische Zeilen mit ähnlichem Inhalt (Zeile 2 und 1). Der lateinische Satz fängt in Zeile 2 an, und zwar mit dem Wort Abent, und wird in Zeile 1 fortgesetzt.

Eine ziemlich wörtliche Übersetzung wäre etwa:

Es haben alle Vögel Nester begonnen, nicht aber ich
und du — was wartet Ihr nun?

Das Schriftzeichen u steht mal für v (uogala = vogala, uolucres = volucres), mal für u (thu, tu) und mal für w (uuat = wat). Die Schriftzeichen, die in Klammern stehen, sind nur schwer oder gar nicht zu lesen und sind von Wissenschaftlern ergänzt worden.

Zu einigen der schwer lesbaren Schriftzeichen dieses Textes sind unterschiedliche Ergänzungen möglich:

  • hagunnan ("begonnen") könnte auch bigunnan (mit derselben Bedeutung) sein
  • unbidat ghe ("wartet Ihr") könnte auch unbidan uue ("warten wir") sein
  • enda ("und") könnte auch anda (mit derselben Bedeutung) sein [1]

Interpretation

Es gibt mehrere Theorien zur Bedeutung der altniederländischen Zeilen und zu ihrem Verhältnis zu den lateinischen Zeilen.

Wortspiel

Möglicherweise ist dieser kurze Text ein Wortspiel:

  • Jedes lateinische Wort entspricht einem altniederländischen Wort: abent (habent) — hebban "sie haben"; omnesolla = "alle"; uolucresuogala "Vögel" usw.
  • Dabei ist die Betonung der Wörter gleich: (h)ábenthébban; ómnesólla, uólucresuógala usw.
  • Es gibt eine auffällige lautliche Ähnlichkeit zwischen den lateinischen Wörtern und ihren altniederländischen Äquivalenten. Zum Beispiel fangen das lateinische Wort und das altniederländische Wort häufig mit dem gleichen oder einem ähnlichen Laut an.
  • Die Gesamtzahl der betonten Silben ist gleich, und die Gesamtzahl der unbetonten Silben ist fast gleich. [2]

Verweis auf Bibelstelle

Nach allgemeiner Auffassung enthält der Text Anspielungen auf Textstellen im Neuen Testament, nämlich Mt 8,20 EU und Lk 9,58 EU. In einer modernen katholischen Übersetzung lautet Mt 8,20:

Da sprach Jesus zu ihm: "Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester. Der Menschensohn aber hat nicht, wohin er sein Haupt legen kann."

Diese Bibelstellen hatten für die mönchische Berufung und für das Klosterleben eine große Bedeutung. Wenn die Auffassung zutrifft, dass diese beiden Sätze auf eine Bibelstelle verweisen, ist der lateinische Satz primär und der altniederländische Satz ist eine Übersetzung. [2]

Minnelied

Möglicherweise stammen die altniederländischen Wörter aus einem altniederländischen weltlichen Minnelied, das der Schreiber aus seiner Heimat kannte. Dann wäre der altniederländische Satz primär und der lateinische Satz wäre eine Übersetzung. [2]

Manuskript

Diese altniederländischen und lateinischen Zeilen stehen in einer mittelalterlichen Handschrift, die sich heute in der Bodleian Library in Oxford befindet. Die altniederländischen Zeilen wurden zuerst im Jahre 1933 in einer wissenschaftlichen Zeitschrift beschrieben. [2]

Die altniederländischen und lateinischen Zeilen stehen auf einem Umschlagsblatt dieser Handschrift, gehören also nicht zum eigentlichen Text. Diese Zeilen sind eine probatio pennae si bona sit, also ein Text, den man schrieb, um die Qualität einer Schreibfeder zu testen.

Datierung

Die genaue Entstehungszeit dieses kurzen Textes ist nicht bekannt. Wegen des Zusammenhangs mit den übrigen Texten wird allgemein angenommen, dass er erst nach 1087 geschrieben wurde. Nach paläografischen Erkenntnissen ist er im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts geschrieben oder früher. [2]

Lokalisierung

Der Satz ist wahrscheinlich in der Abtei von Rochester in der englischen Grafschaft Kent entstanden. Diese Abtei hatte in der wahrscheinlichen Entstehungszeit des Satzes intensive Kontakte zum Adel der Grafschaft Flandern. Die Handschrift, die diesen altniederländischen Satz enthält, war um 1100 im Besitz der Abtei Rochester. [2]

Sprache

Die Sprache des altniederländischen Satzes ist südwestliches Altniederländisch, also aus dem Westen der Grafschaft Flandern oder aus dem flämischen Teil der Grafschaft Artois.

  • hebban (3. Person Plural, "haben") entspricht altenglisch habbað, altfriesisch hebbath/habbath und altniederdeutsch hebbiad/habbiad, kann aber deutlich davon unterschieden werden
  • olla ("alle") mit o statt a ist typisch für das südwestliche Niederländisch
  • die Pluralendung auf -s in nestas ("Neste") ist typisch für das südwestliche Niederländisch
  • hinase ist eine Zusammenziehung von hit ne si; hit statt het ("es", "das") ist eine westflämische Form
  • hic statt ic ("ich") und abent statt habent ("sie haben") zeigt, dass der Schreiber nicht genau wusste, wo man ein h spricht und wo nicht; bei hic hat er irrtümlich ein h geschrieben, bei abent hat er es irrtümlich weggelassen; diese Unsicherheit beim h-Laut ist südwestniederländisch [2]

Der belgische Professor Luc De Grauwe der Universität Gent behauptet, der bekannte Satz sei kein altniederländisch, sondern ein lokaler Dialekt (aus Kent).

Siehe auch

Weitere altniederländische Texte:

Weblinks

  • Artikel von M. Schönfeld (auf Niederländisch) mit Abbildung der gesamten Seite
  • Artikel beim Instituut voor Nederlandse lexicologie (auf Niederländisch)
  • Zusammenfassung eines Artikels über einen möglichen Ursprung des Satzes (auf Niederländisch)

Quellen

  1. A. Quak und J.M. van der Horst, "Inleiding Oudnederlands", Leuven 2002, ISBN 90-5867-207-7
  2. a b c d e f g Herman Vekeman und Andreas Ecke, "Geschichte der niederländischen Sprache" (= Langs Germanistische Lehrbuchsammlung, Band 83), Peter Lang, Bern 1993, ISBN 3-906750-37-X

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