- Heinrich Drendorf
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Der Nachsommer mit dem Untertitel Eine Erzählung (1857) ist ein Roman in drei Bänden von Adalbert Stifter. Das Werk gehört zu den großen Bildungsromanen des 19. Jahrhunderts. Beschrieben wird ein idealisierter, vom Leben abgeschirmter, teilweise synthetischer Weg eines jungen Menschen in das Erwachsenwerden.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt und Einführung vermittels des ersten Kapitels
Das erste Kapitel des Ersten Bandes, Die Häuslichkeit, beschreibt das Heranwachsen Heinrich Drendorfs in „der Stadt“, deren Namen im Roman nicht genannt wird, nach Meinung der Interpretatoren Wien. Die Familie des als Kaufmann tätigen Vaters bewohnt zur Miete die erste Etage eines Stadthauses: „Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen“ (9). Der vielbeschäftigte Vater, der sich nur selten „einen Augenblick abkargen“ (10) kann zu müßiger Betrachtung, bestimmt die Erziehung des Sohnes wie der Tochter mit einer auf dessen Bildung bedachten Strenge, die auch die Mutter, „eine freundliche Frau“ (11) aus „Furcht vor dem Vater“ nicht zu durchbrechen wagt. Schon zu Beginn scheint hier in der Person des Vaters, bei dem „kein Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches zeigen“ (10) darf, eine Vorstellung von Ordnung hindurch, die nach dem antiken Leitsatz unum est verum pulchrum et bonum Schönheit und Sittlichkeit eng aneinander bindet - wenngleich dies immer wieder, sei es beabsichtigt oder unbeabsichtigt, von den Anklängen des kaufmännischen Pragmatismus durchbrochen wird:
- „Als wir nach und nach heranwuchsen, wurden wir immer mehr in den Umgang der Eltern gezogen, der Vater zeigte uns seine Bilder und erklärte uns manches in denselben. Er sagte, dass er nur alte habe, die einen gewissen Wert besitzen, den man immer haben könne, wenn man einmal genötigt sein sollte, die Bilder zu verkaufen.“ (15).
Auch wird hier schon ersichtlich, dass die Besinnung auf das Alte der Bildung förderlich sei, wie dann folgend die Kunstbetrachtung einer Naturbetrachtung gleicht, wenn der Vater ausführt, dass zu einem gelungenen Werk Bewegung gehöre, dann aber in der „Bewegung doch wieder eine Ruhe herrsche“ und „Ruhe in Bewegung [...] die Bedingung eines jeden Kunstwerkes“ (ibd.) sei, womit sich die Grundlegung der künstlerischen Ästhetik in der Rezeption der Schöpfung schon andeutet.
So lässt mit der sittlichen Reifung Heinrichs auch die Strenge der väterlichen Erziehung nach, weicht einer Forderung von Verantwortung im allmählichen Übertrag der Verwaltung der Rente (die einem Erbe entstammt) auf den Jungen und ermöglicht sogar eine Offenheit, diesen sein Ziel und seinen Sinn erst finden zu lassen, wo gesellschaftliche Konvention das Gegenteil forderte:
- „[...] was die Leute meinem Vater übelnahmen [war], er hätte mir einen Stand, der der bürgerlichen Gesellschaft nützlich ist, befehlen sollen, damit ich demselben meine Zeit und mein Leben widme und einmal mit dem Bewußtsein scheiden könne, meine Schuldigkeit getan zu haben.
- Gegen diesen Entwurf sagte mein Vater, der Mensch sei nicht zuerst der menschlichen Gesellschaft wegen da, sondern seiner selbst willen. Und wenn jeder seiner selbst willen auf die beste Art da sei, so sei er es auch für die menschliche Gesellschaft. Wen Gott zum besten Maler auf dieser Welt geschaffen hätte, der würde der Menschheit einen schlechten Dienst tun, wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte.“ (17).
Die Offenheit, die hier der Entwicklung des Sohnes gegeben wird, ist gleichermaßen von Anklängen eines Gedanken der Entelechie wie Prädestination bestimmt, wie auch denen der Nützlichkeit und Ordnung. Gerade vor denen, die behaupten, „sie seien zum Wohle der Menschheit Kaufleute, Ärzte, Staatsdiener geworden“ (18) aber ist zu warnen, denn „in den meisten Fällen ist es nicht wahr“, hatten diese doch vielmehr oft nur „Geld und Gut“ im Sinn, als das beschworene Gemeinwohl. Das Gute aber ist nicht nur von diesen, sondern von jedweden Zwecken frei:
- „Gott hat uns auch nicht bei unseren Handlungen den Nutzen als Zweck vorgezeichnet, weder den Nutzen für uns, noch für andere, sondern er hat der Ausübung der Tugend einen eigenen Reiz und eine eigene Schönheit gegeben, welchen Dingen die edlen Gemüter nachstreben. Wer Gutes tut, weil das Gegenteil dem menschlichen Geschlechte schädlich ist, der steht auf der Leiter der sittlichen Wesen schon ziemlich tief.“ (19).
Damit ist im ersten Kapitel das Programm des Romans schon nahezu vollständig gegeben. Die natürliche Ordnung, die nicht aus dem Zwang der Gesellschaft, sondern aus dem rechtschaffenden Menschen heraus sich bildet, schafft Sittlichkeit und Schönheit in einem – jedoch nicht als letztes vollkommenes Ergebnis, sondern in der Bewegung der lebenslangen Reifung, der zugesellt ist die ebenso notwendige Ruhe der Verinnerlichung.
Kapitelübersicht
- Die Häuslichkeit
- Der Wanderer
- Die Einkehr
- Die Beherbergung
- Der Abschied
- Der Besuch
- Die Begegnung
- Die Erweiterung
- Die Annäherung
- Der Einblick
- Das Fest
- Der Bund
- Die Entfaltung
- Das Vertrauen
- Die Mitteilung
- Der Rückblick
- Der Abschluss
Werkausgaben
Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar (Hrsg.) Stifters Werke in vier Bänden, Der Nachsommer I, Bd. 3 und Der Nachsommer, II, Bd. 4, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1973. Mit einer Einleitung von Joachim Müller.
Adalbert Stifter, Der Nachsommer. Roman. Mit einem Nachwort und Auswahlbibliographie von Uwe Japp. Artemis und Winkler, Düsseldorf, Zürich, 2005.
Besonderheiten des Romans
Zum Umfeld: Der Roman ist ein typisches Beispiel seiner Zeit, sowohl in Sprache als auch in Form und Gehalt. Das Biedermeier als Form der Romantik besinnt sich darin auf den einzelnen Menschen, zeigt Privates und beleuchtet das bürgerliche Leben. Nach den Repressionen der Karlsbader Beschlüsse durch Metternich spielen große politische Themen, die auf Änderungen der momentanen Lage abzielen, keine Rolle. Die Menschen waren zufrieden, wenn sie mit ihrem kleinen Leben vom Staat in Ruhe gelassen wurden. Eine frühe Form der Politikverdrossenheit? Der inneren Emigration?
Zum Inhalt: Wichtigster Punkt des Romans ist das zentrale Thema der Bildung. Herzensbildung im engeren Sinne, klassische Bildung mit „Körperlehre, Seelenlehre, Denklehre, Sittenlehre, Rechtslehre, Geschichte“ und alten Sprachen, der Bildungsreise, wissenschaftlichem Interesse und einem universalistischen Ansatz, der in einem wohlmeinenden Dilettantismus endet. Wissenschaft ohne Wissenschaftlichkeit? Das lässt sich vielleicht damit erklären, dass das Ziel nicht die Naturerkenntnis, sondern eine Selbsterkenntnis war. Diese Selbsterkenntnis kam durch eine sinnvolle Beschäftigung zustande. Der Weg war auch hier das Ziel.
Zum Titel: Der „Nachsommer“ ist die Zeit des verlängerten Sommers ohne dessen Hitze, mit milden, sonnigen Tagen, aber noch ohne die Kühle der Herbstnacht. Im übertragenen Sinn ist es auch die Zeit des reifen Menschen, der die Höhe seines Lebens gerade so überschritten hat, ohne jedoch dem Greisenalter näher zu sein. Der Begriff „Nachsommer“ fällt zweimal im Roman durch den Gastfreund (wie Stifter den Gastgeber des Ich-Erzählers in merkwürdiger Umkehrung des Verhältnisses nennt), dieser bezeichnet zum Einen damit seinen jetzigen Lebensabschnitt, zum Anderen erleben die Vögel einen Nachsommer, bei dem sie noch einmal die Freiheit genießen können, bevor sie im Winter das Land verlassen.
Namen: Stifter führt erst sehr spät die Namen seiner Hauptpersonen ein. Meistens umschreibt er die Personen durch ihre Funktion: der Vater, die Mutter, die Schwester, der Gastfreund, die Fürstin, der Gärtner, der Zitherspieler. Vorsichtig nähert er sich der Benennung mit den Vornamen der wichtigsten Personen: Mathilde, Natalie, Gustav, Eustach, Roland und Klotilde. Der Ich-Erzähler bezeichnet sich erst spät als Heinrich Drendorf, sein Gastgeber, der Freiherr von Risach, bleibt bis auf Andeutungen namenlos bis fast zum Schluss. Warum benennt Stifter nicht die Personen seines Romans? Vielleicht geht es ihm nicht so sehr darum, dass die Leser sich von den Personen „ein Bild machen“, sondern vom Weg der Personen durch das Leben. Die verschlungenen Pfade entwirren sich und alles wird gut.
Idealisierung der Liebe. Auch die Liebe kommt in diesem Roman nicht zu kurz. Tragische und glückliche Geschichten der Liebe als Band und Bund zwischen zwei Menschen kitten das Ziel der Persönlichkeitsbildung zusammen. Trotzdem bleibt die Liebe immer „rein“ und keusch, die Liebenden sind schüchtern und „erröten“ auch nur beim Gedanken an die geliebte Person. Da erscheint ein Kuss als unbeherrschter Überschwang der Gefühle. Ruhe und (Selbst-) Beherrschung ist das Ziel der Liebe, nicht die Glückserfüllung der Emotion. Liebe ist nicht alltäglich, und die Liebenden denken nicht an das Morgen, ihre Wohnung, ihr Einkommen und schon gar nicht an Probleme, die sie durch ihr Verliebtsein für sich und andere schaffen. Dies gilt für beide zentralen Liebesgeschichten des Romans. Die Idealisierung der Liebesauffassung macht den Roman schwer verständlich für heutige Leser, dass nämlich die Erfüllung des Begehrens nicht im Vordergrund steht, sondern das persönliche innere Wachsen an der Suche danach.
Humor. Der Roman ist nicht nur ernst. Stifter beschreibt an einigen Stellen augenzwinkernd heitere Szenen: Heinrich kommt nach Hause und hat seiner Familie eine wichtige persönliche Mitteilung zu machen, die ihn innerlich aufwühlt. „Hierauf waren sie beruhigt, und wie es ihre Art war, fragten sie mich nun nicht nach meinem Grunde.“ Oder Heinrich verreist mit seiner hübschen Schwester. Sobald sie am Gasthof angekommen sind, passiert folgendes: „Alle, die ein Ruder führen konnten oder geübt waren, ein Steigeisen anzulegen oder einen Alpenstock zu gebrauchen, kamen herzu und boten ihre Dienste an.“
Rosen. Rosen sind das Zeichen der Liebe in diesem Roman, und die Zeit der ersten Knospen bis zum vollen Erblühen gilt als die schönste Zeit des Jahres. Übertragen auf das Leben der Menschen lässt sich die Parallele zum Reifungsprozess ziehen, der in der vollen Entfaltung der Persönlichkeit besteht.
Zitate
- „Glaubt nicht der größte Teil, daß der Mensch die Krone der Schöpfung sei? Und meinen die, welche aus ihrem Ich nicht herauszuschreiten vermögen, nicht, daß das All nur der Schauplatz dieses Ichs sei, selbst die unzähligen Welten des ewigen Raums dazugerechnet? Und dennoch dürfte es ganz anders sein.“
- „Der Meister sagte zu diesem Lobe nichts, sondern er senkte den Blick zu Boden, meinen Gastfreund aber schien mein Urteil zu freuen.“
- „Das Meer, vielleicht das Großartigste, was die Erde besitzt, nahm ich in meine Seele auf.“
- „Ich sah Völker und lernte sie in ihrer Heimat begreifen und oft lieben.“
- „Kein Dank, bis alles vorüber ist.“
- „Als ich ziemlich weit hinaus gekommen war, und mich in einem Theile des Landes befand, wo sanfte Hügel mit mäßigen Flächen wechseln, Meierhöfe zerstreut sind, der Obstbau gleichsam in Wäldern sich durch das Land zieht, zwischen dem dunkeln Laube die Kirchthürme schimmern, in den Thalfurchen die Bäche rauschen und überall wegen der größeren Weitung die das Land gibt, das blaue gezackte Band der Hochgebirge zu erblicken ist, mußte ich auf eine Einkehr denken.“
Inhalt
Stifter erzählt im Nachsommer eine Bildungs-, Liebes- und Familiengeschichte. Darin sind die Lebensverläufe zweier spiegelbildlich aufeinander bezogener Paare so ineinander verschlungen, dass das jüngere Paar Erfüllung findet, wo das ältere nur einen Nachsommer erlebt. Die Negativerfahrungen des älteren Paares schaffen Einsicht, Orientierung und materielle Bedingungen als Voraussetzung für das gelingende Leben der Jüngeren.
Heinrich Drendorf, der Ich-Erzähler, nimmt nach seiner Erziehung im Elternhaus in Wien – der Vater ist Kaufmann und seine Mutter Hausfrau – Wanderungen ins Gebirge auf, um seine Entwicklung zu vervollkommnen und sich zum Geologen auszubilden. Als er vor einem Gewitter Schutz sucht, locken ihn die voll erblühten Rosen an einer Hauswand in den Asper- respektive Rosenhof, wo ihn der ältere Besitzer, der Gastfreund, freundlich aufnimmt. Dessen Name, Gustav Freiherr von Risach, bleibt bis zuletzt ungenannt, und Heinrich fragt nicht danach. Durch regelmäßige Besuche im Rosenhaus vertieft sich die Beziehung, und der Gastfreund wird zu Heinrichs Mentor und Vorbild.
Der Gastfreund hat in einer tempelartigen Ausgestaltung auf der zentralen Marmortreppe seines Hauses eine Mädchenskulptur aufgestellt, die er auf einer Italienreise in Gerümpel gefunden und alsbald erworben hat und die sich zuhause, gereinigt und poliert, als ein marmornes antikes Kunstwerk entpuppt. Ziemlich genau in der Mitte der Erzählung berichtet Heinrich – wiederum ist ein Gewitter im Spiel – von einem Erweckungserlebnis vor diesem Mädchenbildwerk, das ihm den Zugang zur Kunst eröffnet und in dem sich zugleich seine erwachende Liebe zu Natalie spiegelt. In Heinrichs Phantasien verschmelzen die Statue und Natalie und auch eine dritte Gestalt, Nausikae, die ihm bei seiner Odysseelektüre lebendig wird.
Regelmäßig zur Rosenblüte kommen Natalie und ihre Mutter Mathilde von ihrem nahe gelegenen Gut, dem Sternenhof, ins Rosenhaus, wo auch Heinrich immer wieder Station macht. Vor den voll erblühten Rosen an der Wand des Herrenhauses geschieht – meditative Einkehr vor den Blumen – eine zeremonielle Aufstellung, in die auch Heinrich eingereiht wird, ohne noch um deren Bedeutung zu wissen. Allmählich, unter der wissenden, aber sich nicht einmischenden Begleitung von Risach und Mathilde, im Bannkreis der Rosen, vertieft und festigt sich die Liebe zwischen Heinrich und Natalie, die beide lange in sich verschließen.
Das wechselseitige Liebesgeständnis bricht hervor, als sich die beiden eines Tages – Heinrich ist Gast auf dem Sternenhof – in einer Grotte begegnen, die Mathilde auf ihrem Landsitz angelegt hat. Die dort aufgestellte Brunnennymphe ist in das vielfältige Beziehungsspiel eingebunden, das die Erzählung mit den weiblichen Gestalten in Bezug auf die handelnden Personen treibt. Vor der Nymphe schwören sich Heinrich und Natalie ewige Liebe, machen aber deren Vollzug, eine Eheschließung, von der Zustimmung der Eltern abhängig – über die der Leser im Vorhinein Gewissheit hat. Die Liebesgeschichte Heinrichs und Natalies endet mit der Heirat, der Begründung einer Familie.
Die Pracht der blühenden Rosen an der Frontseite des Asperhofes hatte Heinrich in das Anwesen gelockt, als er vor einem nahenden Gewitter Unterschlupf suchte. Vielfältige Andeutungen lenken Heinrichs Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Rosenwand, deren endgültige Entschlüsselung an das Erreichen wesentlicher Ziele seines Bildungs- und Entwicklungsgangs geknüpft ist. Bevor Heinrich für die enthüllende Konfession des Gastfreundes reif ist, führt ihn dieser immer mehr in seine Kulturarbeit ein. Sie erstreckt sich gleichermaßen auf die umgebende Natur und Landschaft, in der er als Gutsherr einen ökologischen Landanbau betreibt, wie auf die ästhetisierende Ausgestaltung des Lebensraums mit dem Haus als Mittelpunkt. Die im Wesentlichen sammelnde und restaurierende Kunsttätigkeit folgt einem umfassenden Verschönerungsprogramm, das sich etwa auf die Renovierung von Kirchen und Altären der Gegend ebenso richtet wie auf die Herstellung von Geräten des täglichen Gebrauchs für den Asper- und Sternenhof. Neben der Teilhabe an Risachs Aktivitäten vertieft sich Heinrich in Werke der Kunst und studiert die großen Autoren aus Naturwissenschaft, Geschichte und Literatur, zu deren Verständnis ihm Risach ausführliche Kommentare liefert.
Auf seinen ausgedehnten Exkursionen, denen Heinrich im Hauptberuf nachgeht, versucht er zeichnend, sammelnd, messend, Hypothesen bildend immer genauer in die ihm zugänglichen Formationen der Erde einzudringen und ein dokumentiertes Abbild der Landschaft mit ihren Seen und Gebirgszügen zu erstellen. Seine Erforschungen gipfeln in der winterlichen Besteigung eines Gletschers. Er beobachtet einen Sonnenaufgang, dessen großartige Beschreibung vom Übergang eines naturwissenschaftlichen Zugangs zur Natur zu einem transzendentalen zeugt.
Nachdem Heinrich, wie er sagt, auch noch die Weihe dieser Unternehmung auf sich genommen hat, darf er in die Zeichenhaftigkeit der Rosenwand eingeweiht werden. In der „Mitteilung“ und dem „Rückblick“, den vorletzten Kapiteln der Erzählung, konfrontiert Risach seinen Adepten mit der tragischen Vorgeschichte der Nachsommerwelt gleich einer Initiation, die Heinrich die Stiftungsereignisse des Rosenzeremonials nachvollziehen und nacherleben lässt und ihn darin für die endgültige Aufnahme in den (adoptierten) Familienverband Risachs vorbereitet.
Risach erzählt, wie er, Waise aus bescheidenen Verhältnissen, als junger Hauslehrer auf das Anwesen Hainbach kommt, wo er Gustav, den Sohn der begüterten Familie Makloden, erziehen und unterrichten soll. Zwischen Mathilde, der älteren Schwester Gustavs, und Risach entwickelt sich, unbemerkt von den Eltern Mathildes, eine leidenschaftliche Zuneigung. Wie von einer fremden Macht eingegeben gestehen sie sich eines Tages ihre Liebe und schwören einander, sich auf ewig anzugehören. Lange Zeit halten sie ihre keusche Liebe geheim. Als sich schließlich Risach der Mutter Mathildes offenbart, beginnt etwas, das Risach mit dem Unheil in der antiken Tragödie vergleicht. Die Eltern des Mädchens verlangen die Trennung. Risach unterwirft sich der Entscheidung der Eltern. Von der Mutter lässt er sich bewegen, das Gebot der Eltern in eigener Person an Mathilde zu überbringen. Mathilde ist fassungslos, empört, zutiefst getroffen. Sie empfindet das Verhalten Risachs als einen ungeheuerlichen Verrat und erklärt die Bindung für beendet.
Die dramatische Szene des Bruchs spielt vor einer Rosenhecke im Garten von Hainbach. Mathilde ruft in einem leidenschaftlichen Ausbruch die tausend blühenden Rosen als Zeugen für eine Liebe auf, die sie für unzerstörbar hielt. In maßlosem, stummem Schmerz greift Risach in die Rosenzweige, presst die Dornen in seine Hand und lässt das Blut an ihr niederrinnen.
Risach verlässt Hainbach und ist versucht, seinem Leben ein Ende zu machen. Der Gedanke an seine verstorbene Mutter hält ihn jedoch davon ab. Nach langer Trauer tritt er in den Staatsdienst ein, macht dort Karriere, gewinnt Ansehen und Vermögen, wird in den Adelsstand erhoben, kündigt aber Stellung und Position vorzeitig auf. Trotz großer persönlicher Erfolge vergewaltige ihn die Tätigkeit im Staate in unerträglicher Weise, erklärt er Heinrich, und verallgemeinert: Die gesellschaftlichen Verhältnisse seien so geworden, dass immer mehr Menschen in der Maschinerie, die sich zur allgemeinen Bedürfnisbefriedigung entwickelt habe, ihr wahres Wesen verfehlten. So sei auch er gescheitert, danach zu handeln, was „die Dinge nur für sich forderten, und was ihrer Wesenheit gemäß war.“
Der Freiherr erwirbt den Asperhof und beginnt dort seine „dem Wesen der Dinge“ verpflichtete Tätigkeit. Eine Wand seines Hauses bepflanzt er mit den jährlich in allen Farben erblühenden Rosen als ein Denkzeichen des Unheils und zugleich als ein Bild von Überwindung und Erneuerung.
Eines Tages steht Mathilde, die Risachs zaghafte Versuche einer Wiederannäherung bis dahin abgewiesen hat, vor ihm vor der Rosenwand. Es kommt zu einer tränenreichen, versöhnenden Begegnung. Beide sind nach einer Ehe, die sie aus Konvention eingingen, und nach dem Tod ihrer Partner wieder allein und erneuern ihre Verbindung. Mathilde übergibt Risach, der kinderlos geblieben ist, den jüngeren Sohn Gustav zur Erziehung und erwirbt in der Nachbarschaft den Sternenhof, den sie mit Risachs Hilfe renoviert und einrichtet. Zwischen dem gealterten Paar entwickelt sich ein reger Besuch, die verschüttete Liebe erwacht aufs neue zu einer nachsommerlichen, von der Risach erklärt, sie sei „vielleicht das Spiegelklarste“, „was menschliche Verhältnisse aufzuweisen haben.“ Aber Mathilde verweigert eine späte Eheschließung.
Die Erzählung endet mit der Zusammenführung der Familie Heinrichs und des Kreises um Risach und Mathilde und lässt eine weitere Ehe zwischen der Schwester Heinrichs, Klotilde, und Natalies Bruder, Gustav, erwarten. Mit ihrer Heirat erfüllen Heinrich und Natalie ein oberstes Postulat Risachs, die Begründung eines „grundgeordneten Familienlebens“, das der Zeit mehr Not tue als „Aufschwung, Fortschritt, oder wie alles heißt, was begehrenswert erscheint.“ „Auf der Familie ruht die Kunst, die Wissenschaft, der menschliche Fortschritt, der Staat.“ Mit dem Ende der Erzählung scheint eine Familien- und Generationenfolge begründet, die Zukunft verspricht.
Zitate zum "Nachsommer"
- Drei starke Bände! Wir glauben Nichts zu riskieren, wenn wir Demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen. Friedrich Hebbel, 1858.
- Wenn man von Goethes Schriften absieht und namentlich von Goethes Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es gibt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Literatur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenbergs Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stillings Lebensgeschichte, Adalbert Stifters Nachsommer und Gottfried Kellers Leute von Seldwyla, – und damit wird es einstweilen am Ende sein. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 1878.
Literatur (Auswahl)
Erstausgabe: Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Pesth: G. Heckenast 1857, 3 Bde. 483, 420, 444 S., Titel von Bd. 1 lithographiert und mit Abbildung.
Nachdruck: Jeßing, Benedikt (Hg.): Adalbert Stifter: Der Nachsommer, Stuttgart 2005, ISBN 3-15-018352-9 (historisch-kritische Ausgabe)
- Hugo von Hofmannsthal, Stifters „Nachsommer“; in: Ariadne, Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, München 1925, 27–35
- Walther Killy, Utopische Gegenwart. Stifter: „Der Nachsommer“, in: ders., Wirklichkeit und Kunstcharakter. Neun Romane des 19. Jhds., München 1963, 83–103
- Victor Lange, Stifter. Der Nachsommer, in: Wiese 1962, Bd. 2, 34-75
- M.-U. Lindau, Stifters „Nachsommer“. Ein Roman der verhaltenen Rührung, Bern 1974
- K.-D. Müller, Utopie u. Bildungsroman. Strukturuntersuchungen zu Stifters „Nachsommer“, in: ZfdPh 90 (1971), 199–228
- W. Rehm, „Nachsommer“. Zur Deutung von Stifters Dichtung, München 1951
- Urban Roedl Adalbert Stifter mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1965
- Max Rychner, Stifters „Nachsommer“ und „Witiko“, in: ders., Welt im Wort. Literarische Aufsätze, Zürich 1949, 181–210
- Arno Schmidt, Der sanfte Unmensch. Ein Jahrhundert „Nachsommer“, in: ders., Dya na Sore. Gespräche in einer Bibliothek, Karlsruhe 1958, 194–229
- Chr. Oertel Sjörgen, The Marble Statues as Idea. Collected Essays on Adalbert Stifter's „Der Nachsommer“, Chapel Hill 1972
- Emil Staiger, Adalbert Stifter, „Der Nachsommer“, in: ders., Meisterwerke deutscher Sprache aus dem 19. Jahrhundert, Zürich 1943, 147–162.
- W. Wittkowski, Daß er als Kleinod gehütet werde. Stifters „Nachsommer“. Eine Revision, in: LJb 16 (1975), 73–132
- Arnold Stadler, Mein Stifter. DuMont, Köln, 2005.
- Iris Hermann, Vom Durchqueren der Blicke. Die allmähliche Verfertigung der Erotik in Stifters „Nachsommer“, in: Durchquerungen. Für Ralf Schnell zum 65. Geburtstag, hrsg. von Iris Hermann und Anne Maximiliane Jäger-Gogoll, Heidelberg 2008, S. 109-118 ISBN 978-3-8253-5553-1
Weblinks
- Der Nachsommer als Online-Text im Project Gutenberg
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