Imre Lipschitz

Imre Lipschitz
Imre Lakatos

Imre Lakatos (* 9. November 1922 in Debrecen, Ungarn; † 2. Februar 1974 in London, England) war ein ungarischer Mathematiker, Physiker und Wissenschaftstheoretiker.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Lakatos wurde in Ungarn als Imre Lipschitz geboren. Um der Verfolgung durch die ungarische Rechte zu entgehen und seine jüdische Herkunft zu verschleiern (er konnte sich so den ungarischen Judengesetzen entziehen), änderte er während des zweiten Weltkriegs seinen Namen zunächst in Imre Molnár und nach dem Krieg in Imre Lakatos.

Er studierte Mathematik, Physik und Philosophie in Debrecen und vertiefte sein Wissen in Budapest und Moskau. Er war wissenschaftlich und politisch sehr aktiv, aber lange wegen Revisionismus inhaftiert. Nach seiner Flucht in den Westen setzte er in Cambridge seine Studien fort. Er bekam mehrere Anstellungen als Dozent und war Professor an mehreren Universitäten.

Neben Arbeiten zur mathematischen Beweistheorie, welche durch die Hegelsche und Marxsche Dialektik beeinflusst war, versuchte Lakatos die Differenz zu überbrücken zwischen dem von Karl Popper vertretenen Falsifikationsbegriff und der Entwicklung von Wissenschaft, wie sie von T.S. Kuhn dargestellt wurde.

Falsifikationismus

Die Auffassung, dass Theorien ganz aufgegeben werden müssen, wenn sie falsifiziert, d. h. von experimentellen oder empirischen Resultaten widerlegt werden, verwarf Lakatos als "naiven Falsifikationismus". Seine Kritik betraf dreierlei:

  1. Es gibt keine reinen Daten, die nur aus Beobachtung bestünden. Jede Aussage enthält Theorie, und jedwede Beobachtung ist nur möglich, weil ihr eine Theorie zugrunde liegt.
  2. Es ist kein ausreichender Grund, eine Theorie zu verwerfen, wenn sie mit den Daten nicht übereinstimmt. Vielmehr sind stets mehrere Aussagen zu betrachten, die hierbei nicht in Einklang miteinander stehen: 1. die Theorie, 2. die Daten und 3. die Ceteris paribus-Klausel (und meistens noch weitere Aussagen). Es ist daher keineswegs offensichtlich, wenn die Gesamtheit aller zu betrachtenden Aussagen inkonsistent ist, dass ausgerechnet die Theorie fallen gelassen werden muss.
  3. Auch praktisch geht Wissenschaft nicht so vonstatten. Lakatos sucht den realen Verlauf wissenschaftlicher Theorienentstehung logisch-rational nachzuzeichnen. Und in der Praxis verläuft es anders, als der methodologische Falsifikationismus es vorzeichnet. Nach Lakatos existieren vielmehr lediglich verschiedene Theorien, aber keine reine Beobachtung. Jede Theorie steht im Wettstreit mit anderen Theorien.

Eine neue Theorie sollte indessen stets einen epistemologischen und empirischen Gehaltsüberschuss gegenüber der alten Theorie haben ("progressive Problemverschiebung").

Eine ganz neue Theorie, die nicht bloß Weiterentwicklung einer alten ist, besitzt außerdem eine positive und negative Heuristik. Eine "positive Heuristik" ist nach Lakatos, was eine Forschergemeinschaft hofft, an Erkenntnissen mit der neuen Theorie zu erreichen. Die "negative Heuristik" ist ein harter Kern an Grundüberzeugungen, die unter keinen Umständen und gegen keine Fakten aufgegeben werden dürfen.

"Falsifikationismus" nennt Lakatos dieses Modell, weil er es als Weiterentwicklung von Poppers Falsifikationismus sieht. Es wird jedoch bestritten, dass dieses Modell im wissenschaftstheoretischen Sinn noch ein Falsifikationismus sei. Lakatos spricht auch selber beim "raffinierten Falsifikationismus" von einer historischen Falsifikation, was etwa soviel bedeutet wie: Die Geschichte und der (in Lakatos' Metaphorik) darwinistische Kampf ums Dasein der an die Welt am besten angepassten Theorien falsifizieren sozusagen rückwirkend die Theorien, die sich als nicht praktikabel erwiesen.

Beispielsweise sind nach Lakatos die drei Newtonschen Gesetze als Teil des Kernes der Newtonschen Mechanik nicht widerlegbar. Erst durch Einführung zusätzlicher falsifizierbarer Gesetze (Gravitationsgesetz, Coulombsches Gesetz, etc.) werden die Newtonschen Gesetze zur testbaren Theorie erweitert. Falsifizierung einer Theorie, bestehend aus den Newtonschen Gesetzen plus Kraftgesetzen, führt damit auch nicht zur Aufgabe der Newtonschen Gesetze, sondern nur zur Modifizierung der Kraftgesetze. Prinzipiell aufgegeben wurde die Newtonsche Mechanik erst, als durch die spezielle Relativitätstheorie ein neues leistungsfähigeres Forschungsprogramm zur Verfügung stand.

Lakatos geht davon aus, dass Theorien nie isoliert, sondern nur als Teile größerer Theoriensysteme und Methodenregeln, sogenannter "Forschungsprogramme", beurteilt werden können. Sein Begriff des Forschungsprogramms ist mit dem Paradigma-Begriff T. S. Kuhns verwandt (Paradigmenwechsel).

Im Gegensatz zu Kuhn jedoch ist Lakatos der Auffassung, dass verschiedene Forschungsprogramme rational verglichen und diskutiert werden können. Die Wissenschaft kann Fortschritte machen und sich vernünftig entwickeln. Lakatos betrachtet Fortschritt der Wissenschaft indes nicht als eine kontinuierliche Annäherung an die Wahrheit, sondern als eine Reihe von Problemverschiebungen, die uns ständig auf eine höhere Stufe gelangen lassen.

Literatur

  • Lakatos: Proofs and Refutations. Cambridge University Press, Cambridge 1976, ISBN 0521290384
  • Lakatos: The Methodology of Scientific Research Programmes: Philosophical Papers Volume 1. Cambridge University Press, Cambridge 1977
  • Lakatos: Mathematics, Science and Epistemology: Philosophical Papers Volume 2. Cambridge University Press, Cambridge 1978

Weblinks


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