KHM 179

KHM 179

Die Gänsehirtin am Brunnen ist ein Märchen (Typ 923 nach Aarne und Thompson). Es ist in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm an Stelle 179 enthalten (KHM 179).

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Eine alte Frau lebt in einem Häuschen in der Einöde. Sie versorgt wacker ihre Gänse und ist zu jedermann freundlich, aber die Leute mögen sie nicht besonders und halten sie für eine Hexe. Ein junger Graf begegnet ihr, als sie im Wald Gras und Obst gesammelt hat, und sie lässt es ihn zu ihrem Haus tragen. Dabei macht sie sich über ihn lustig, weil er sich schwerer tut als zuerst gedacht, setzt sich selbst aufs Tragetuch und haut ihm mit Brennnesseln auf die Beine. Zur Belohnung darf er sich auf der Bank vor ihrer Tür in der lieblichen Umgebung ausruhen. Er versteht nur nicht, weshalb die Alte meint, er könnte sich in ihre hässliche alte Tochter verlieben, aber verlässt sie erfrischt mit einem Büchslein aus Smaragd, das ihm die Alte als Geschenk gibt.

Nach drei Tagen findet er aus der Wildnis in eine Stadt, wo er in das Schloss geführt wird. Als er der Königin das Büchslein vorlegt, fällt sie in Ohnmacht, und er soll abgeführt werden. Aber sie erwacht und erzählt ihm unter vier Augen von ihrer jüngsten und schönsten Tochter, der sogar beim Weinen Perlen als Tränen aus den Augen fielen. So eine Träne war in dem Büchslein. Der König hatte sie verstoßen, als sie auf die Frage, wie sie ihn liebte, geantwortet hatte, sie habe ihn so lieb wie Salz. Der Graf soll das Königspaar zu der Hexe führen.

Die Tochter der Hexe sitzt mit ihr im Haus und spinnt. Auf den dreimaligen Schrei einer Nachteule muss sie hinausgehen zu einem Brunnen unter drei alten Eichen. Sie zieht die hässliche Haut vom Gesicht, wäscht sich und die Haut, die sie trocknen lässt, und weint. Als unter dem Grafen, der sie beobachtet, ein Ast knackt, erschrickt sie und verschwindet. Die Alte kehrt das Haus und lässt sie ihre Haut ab- und ihr altes Kleid als Königstochter anlegen. Die Tochter erschrickt, das sie sie verlassen will. Doch die Hexe erklärt den ankommenden Eltern alles, dann verschwindet sie und das Häuschen ist ein Schloss mit Dienern.

Stilistische Besonderheiten

Im Laufe der Erzählung wechselt mehrmals die Perspektive, was für ein Volksmärchen sehr untypisch wäre. Es beginnt mit der Hexe. Der größte Teil scheint dann aus Sicht des jungen Grafen erzählt zu sein. Gegen Schluss springt der Erzähler zu der Königstochter, um sich dann selbst einzuschalten: Aber ich muss wieder von dem jungen Grafen erzählen.

Auch das Gedicht der Hexe gegen Anfang wirkt etwas redundant in seiner Kürze, Einfachheit und Dysharmonie, zumal es das einzige bleibt:

"schau dich nicht um
dein Buckel ist krumm"

Ihr nächster Satz ist "Wollt ihr mir helfen?", so als hätte sie den jungen Grafen damit verzaubert (wie in Jorinde und Joringel).

Interpretation

Das zentrale Motiv besteht in der missverstandenen Liebe der Königstochter, die sie mit Salz vergleicht. Statt Tränen weint sie Perlen und Edelsteine. Die alte Frau spricht von "Perlen, schöner als sie im Meer gefunden werden" (dazu passt das smaragdgrüne Büchslein), was wie der Brunnen, an dem sie weint, große Tiefe andeutet.

Gleichzeitig haben die steinernen Tränen oder die Perlen eine große Härte an sich. Diese Verbindung aus Härte und Tiefe wird durch das Salz versinnbildlicht, das beim Trocknen von Meerwasser entsteht. Die alte Frau, die im ersten Satz als steinaltes Mütterchen vorgestellt wird, hetzt den Grafen in der heißen Sonne den Berg hinauf, wobei ihm die Steine unter den Füssen wegrollen. Perlen haben in vielen Bibelstellen mit Weisheit zu tun und Salz mit Verfluchung, siehe besonders 1.Mose 19,26.

Dieses Motiv der Ambivalenz oder des Mißverstandenen zieht sich durch die gesamte Schilderung. Die Umgebung des Hauses in der Einöde stellt sich als "recht lieblich" heraus. Die Königstochter versteckt tags unter der hässlichen Haut ihre Schönheit, die sie nur nachts zeigt. Dabei passen Eulenschrei und Mondschein zu dem Hexenhaften, was die Leute an der alten Frau sehen, deren Sichel in ihrer Form schon den Mond andeutet. Auch der „junge Herr“ wird bei der Hütte und in der Stadt mit freundlichem Argwohn bedacht.

Sigmund Freud zeigt im Vergleich mit der Wahl des Paris (Ilias), Amor und Psyche, Aschenputtel, Shakespeares Der Kaufmann von Venedig, König Lear und Die Gänsehirtin am Brunnen, dass die dritte Tochter mit ihrer stillen Gabe die Totengöttin ist, die aber zur Liebesgöttin verklärt wird.[1] Das unbegründete Schuldgefühl und der soziale Rückzug sind auch Symptome einer Depression,[2] was homöopathische Literatur mit dem Arzneimittel Natrium mureaticum (Meersalz) vergleicht.[3]

Herkunft und Varianten

Das Märchen ist in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm seit der 5. Auflage von 1843 an Stelle 179 enthalten. Sie schreiben in ihren Anmerkungen dazu nur: Nach einer Erzählung von Andreas Schuhmacher in Wien in Kletkes Almanach Nr. 2. Der dortige Text ist insgesamt länger, lebendiger und psychologisch aufschlussreicher. Es fehlt dagegen das Gedicht, das nur inhaltlich in etwa im Dialog angelegt ist. Die Perspektivwechsel sind weniger auffällig, das Ende nicht offen. Es werden Bedienstete erwähnt, aber ohne Zusammenhang zu den Gänsen. Die Handlung ist identisch.[4] Noch vorher erschien das Märchen von Andreas Schumacher 1833 in Wien als D' Ganshiadarin.

Zum selben Märchentyp gehört Prinzessin Mäusehaut aus der Erstauflage von Grimms Märchen. Unabhängig davon existieren zahlreiche andere mündliche Varianten und schriftliche Fassungen (Der Salzprinz, Das Allerwertvollste). Sie enden meist damit, dass sich die verstoßene Tochter zunächst unerkannt an den Hof des Vaters begibt, wo er beim Essen die Wichtigkeit des Salzes erkennt. Vgl. ferner KHM 31 Das Mädchen ohne Hände, KHM 65 Allerleirauh, KHM 94 Die kluge Bauerntochter, KHM 54a Hans Dumm.

Film und Theater

Die Gänsehirtin am Brunnen wurde 1979 verfilmt (Regie: Ursula Schmenger; DDR). Die slowakische Version des Märchens, Der Salzprinz, wurde 1982 unter Regie von Martin Hollý als 85-minütiger Spielfilm verfilmt (Deutschland, CSSR). In der Zeichentrickserie SimsalaGrimm (Deutschland 1999) ist Die Gänsehirtin am Brunnen Folge 11 der zweiten Staffel.

Es existieren Bühnenstücke u.a. von Uwe Hoppe (Uraufführung 2000 in Bayreuth), Robert Bürkner. Bei den Brüder-Grimm-Märchenfestspielen in Hanau war Die Gänsehirtin am Brunnen 2001 im Programm.

Literatur

Brüder Grimm

  • Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. S. 730-739. Düsseldorf und Zürich, 19. Auflage 1999. (Artemis & Winkler Verlag; Patmos Verlag; ISBN 3-538-06943-3)
  • Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. S. 263, S. 509. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994. (Reclam-Verlag; ISBN 3-15-003193-1)

Andere Variante

  • Nothwendigkeit des Salzes. In: Zingerle, Ignaz: Kinder- und Hausmärchen aus Tirol. Gesammelt durch die Brüder Zingerle, herausgegeben von Ignaz Vinc. Zingerle. Zweite vermehrte Auflage 1870. S. 155-156.

Interpretationen

  • Schmitt, Christoph: Lieb wie das Salz. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 8. S. 1038-1042. Berlin, New York, 1996.
  • Scherf, Walter: Das Märchenlexikon. Erster Band A-K. S. 380-383. München, 1995. (Verlag C. H. Beck; ISBN 3-406-39911-8)
  • Freud, Sigmund: Das Motiv der Kästchenwahl (1913). In: Sigmund Freud. Studienausgabe. Band X. Bildende Kunst und Literatur. S. 181-193. Frankfurt am Main 1982. (Fischer Taschenbuch Verlag; ISBN 3-596-27310-2)
  • Freud, Sigmund: Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein. In: Sigmund Freud. Studienausgabe. Band X. Bildende Kunst und Literatur. S. 252-253. Frankfurt am Main 1982. (Fischer Taschenbuch Verlag; ISBN 3-596-27310-2)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Freud, Sigmund: Das Motiv der Kästchenwahl (1913). In: Sigmund Freud. Studienausgabe. Band X. Bildende Kunst und Literatur. S. 181-193. Frankfurt am Main 1982. (Fischer Taschenbuch Verlag; ISBN 3-596-27310-2)
  2. Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H., Schulte-Markwort, E. (Hrsg.): Weltgesundheitsorganisation. Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. 3., korrigierte Auflage. S. 104-111. (Verlag Hans Huber; ISBN 3-456-84098-5)
  3. Bomhardt, Martin: Symbolische Materia Medica. 3., erweiterte und neu gestaltete Auflage. S. 955. Berlin, 1999. (Verlag Homöopathie und Symbol; ISBN 3-9804662-3-X)
  4. Kletke: Almanach deutscher Volksmärchen. Berlin 1840. S. 37-64.

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