KHM 50

KHM 50
Dornröschen, Aquarell von Henry Meynell Rheam (1899)

Dornröschen ist ein Märchen (Typ 410 nach Aarne und Thompson). Es ist in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm seit der Erstauflage von 1812 an Stelle 50 enthalten (KHM 50). Die französische Fassung, La belle au bois dormant (Die schlafende Schöne am Wald[1]) von Charles Perrault, erschien allerdings schon viel früher im Druck, nämlich 1697.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Die dreizehnte weise Frau verflucht Dornröschen. Briefmarke der Deutschen Bundespost (1964)

Nach langem vergeblichen Warten wird einem König von der Königin eine Tochter geboren. Aus Freude darüber lädt er seine Untertanen zu einem Fest, darunter auch zwölf weise Frauen (Hexen). Die dreizehnte Hexe, die aus Mangel an Geschirr nicht zur Taufe der neugeborenen Königstochter eingeladen wird, belegt das Mädchen mit einem Fluch, durch den es sich an seinem fünfzehnten Geburtstag an einer Spindel stechen und sterben soll. Eine der zwölf übrigen Hexen, die an dem Fest teilnehmen durften, wandelt den Todesfluch in einen hundertjährigen Schlaf um, woraufhin der König alle Spindeln im Königreich verbrennen lässt.

An des Mädchens fünfzehntem Geburtstag erkundet es ein Turmzimmer, in dem es eine alte Frau beim Spinnen entdeckt. Die Prinzessin will es auch einmal versuchen und sticht sich mit der Spindel in den Finger. Sie fällt gemeinsam mit dem gesamten Hofstaat in einen tiefen Schlaf. Jahr für Jahr wird das Schloss mit immer größer werdenden Dornenhecken umringt, die sich nach genau hundert Jahren in Rosen verwandeln. Erst an diesem Tag gelingt es einem Prinzen, in den Turm zu gelangen, wo er die Königstochter wachküsst und schließlich heiratet.

Herkunft, Märchenforschung und Psychologie

Dornröschen entdeckt das Turmzimmer mit der alten Frau. Illustration von Alexander Zick (um 1890)

Jacob Grimm notierte Dornröschen in der handschriftlichen Urfassung von Grimms Märchen (1810) nach Marie Hassenpflug. Wilhelm Grimm glich die Druckfassungen nach und nach an Perraults La belle au bois dormant (1697) an. Ihre Anmerkung erwähnt noch Basiles Version (die ihnen Clemens Brentano nahebrachte) und Brünhild. Zum Schlaf vergleichen sie Schneewittchen. Den Schluss der französischen und der italienischen Fassung fanden sie andernorts als Bruchstück Die Schwiegermutter wieder.

Der Stoff begegnet uns in seiner schriftlichen Fassung auch in zwei Werken des 14. Jahrhunderts, dem Roman de Perceforest (um 1330, altfranzösisch) und der Novelle Frayre de Joy es Sor de Plaser (um 1350, katalanisch), in denen das schlafende Mädchen geschwängert wird. Giambattista Basile nimmt in seinem Märchen Sonne, Mond und Talia das vollständige Thema auf, während bei Perrault die Schwangerschaft nicht mehr auftaucht.

„Dornröschen“ gilt manchen Forschern als eine entmythisierte Fassung der Figur der Brünhild (vergleiche die Nibelungensage). Zu beachten sind hier folgende Topoi: Das herangewachsene Mädchen wird (in der Sage von Wotan) mit dem „Schlafdorn“ (vergleiche die Spindel) gestochen und dadurch in einen langen Schlaf versetzt. Ihre Burg wird in der Sage von einem Feuerkranz (der „Waberlohe“ - vergleiche die rote Rosenhecke) gegen Zugang gesichert. Siegfried (vergleiche ‚ein Prinz‘) durchdringt sie dennoch und (er)weckt die Schlafende (vergleiche …〈〉den andeutenden „Kuss“). Hier ist auch der Unterschied zur nordischen Sage zu sehen, denn in dieser erwacht Brünhild nachdem Siegfried sich mit ihr sexuell vereinigt hat. Joachim Fernau interpretiert Dörnröschen daher als die entschärfte und der sittlichen Moral der Zeit angepasste Fassung der Sage. [2]

Für die Deutung der weisen Frauen oder Feen ist jedoch auch auf ältere Traditionen zu verweisen. In den weisen Frauen spiegeln sich Druidinnen, Hexen und Beginen, die als unabhängige, unverheiratete Frauen einen Gegenpol zu verheirateten Frauen wie der Königin oder der Jungfrau Dornröschen bilden. Wenn die dreizehnte Fee ausgeladen wird, reflektiert sich darin nach Meinung etlicher Forscher der Übergang vom Mondkalender (z. B. bei den Kelten üblich) zum Sonnenkalender (bei Griechen, Römern und Christen üblich), verbunden mit einem Aufschwung des Patriarchats über das Matriarchat (vgl. KHM 9 Die zwölf Brüder).

Der Hofstaat ist in einen hundertjährigen Schlaf gefallen. Illustration von Gustave Doré (1867)

Ein verwunschenes Schloss kommt auch in den "Kinder- und Hausmärchen" KHM 62 Die Bienenkönigin, KHM 137 De drei schwatten Prinzessinnen, KHM 197 Die Kristallkugel, KHM 130a Der Soldat und der Schreiner, das Erwecken der Schlafenden in KHM 163 Der gläserne Sarg, KHM 82a Die drei Schwestern vor. Das Spinnen - als typisch weibliche Kunstfertigkeit - spielt in vielen Märchen eine Rolle (KHM 9, 14, 24, 49, 55, 65, 67, 79, 128, 156, 181, 179, 188).

Ausführliche und wichtige psychologische Deutungen finden sich bei Bruno Bettelheim (Kinder brauchen Märchen, 1975), Marie-Louise von Franz (Das Weibliche im Märchen, 1977) oder Eugen Drewermann (Dornröschen). Bettelheim interpretiert den Dornröschenschlaf als typisches Adoleszenz-Phänomen bei Mädchen und Jungen:

„Bei größeren Veränderungen im Leben wie bei der Adoleszenz sind für ein erfolgreiches Wachstum sowohl aktive wie geruhsame Perioden nötig. Zu einem Sich-nach-innen-Kehren, das nach außen wie Passivität (oder Verschlafenheit) wirkt, kommt es dann, wenn sich in dem Betreffenden innere Prozesse von solcher Wichtigkeit abspielen, dass er keine Energie mehr für nach außen gerichtete Aktivitäten aufbringt. (...) Der glückliche Ausgang gewährleistet dem Kind, dass es nicht dauernd im scheinbaren Nichtstun verhaftet bleiben wird.“

Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, S. 262

Rezeption

Belletristik

Der Prinz findet Dornröschen im Schloss. Lichtdruck von Joseph Albert (1869) mit Prinz Otto als Prinz
Dornröschen erwacht in den Armen des Prinzen. Illustration von Walter Crane (um 1880)
  • Der Roman „Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz“, von DDR-Autorin Irmtraud Morgner 1974 veröffentlicht, variiert in der Spielfrau Beatriz de Diaz das Schlaf-Motiv.
  • In „Da fielen auf einmal die Sterne vom Himmel“ behandelt der Dichter Ludwig Harig 2002 ausführlich „Dornröschen“, wobei er besonders den Prinzen berücksichtigt, der den Kairos (glücklichen Moment) beim Schopf zu packen weiß.
  • A. N. Roquelaure, besser bekannt als Anne Rice, hat eine Trilogie namens "Dornröschen" (im Original: "Sleeping beauty") geschrieben, in der das Dornröschen-Märchen nacherzählt wird, jedoch mit vielen sadomasochistischen Elementen. Die letzten beiden Bände sind in Deutschland indiziert, jedoch in den USA frei erhältlich.

Oper

Dornröschen von Engelbert Humperdinck, Libretto: Elisabeth Ebeling und Bertha Filhés

Ballett

Zu dieser Geschichte in der Version von Charles Perrault komponierte Pjotr Iljitsch Tschaikowski eine Ballettmusik: siehe Dornröschen (Ballett).

Eine weitere Bearbeitung des Stoffes für Ballett stammt von Jean-Pierre Aumers nach der Musik von Ferdinand Hérold, die 1829 in Paris uraufgeführt wurde.

Film

  • 1959 kam Walt Disneys Version von Dornröschen als Zeichentrickfilm in die Kinos. Der Film kostete sechs Millionen Dollar, spielte aber nur drei Millionen Dollar ein. Er brachte die Firma an den Rand des Ruins. Heute gilt er als Klassiker der Filmgeschichte. Das Schloss der „Sleeping Beauty“ ist ein fester Bestandteil der Disney-Themenparks.
  • Dornröschen (DEFA-Trickfilm, DDR 1967, Regie: Katja Georgi, ca. 21 min.)
  • Dornröschen Defa Film 1971, ca. 70 min
  • Wie man Dornröschen wachküßt (Jak se budi princezny), tschechischer Märchenfilm von 1978, Regie: Václav Vorlícek. 83 min.
  • 1987 Dornröschen, Gehört zu der Serie Cannon Movie Tales, Mit Tahnee Welch und Morgan Fairchild
  • Gurimu Meisaku Gekijō, japanische Zeichentrickserie 1987, Folge 18: Dornröschen.
  • 1989 drehte Regisseur Stanislav Parnicky einen Dornröschenfilm mit Danka Dinkova, Judy Winter und Gedeon Burkhard.
  • SimsalaGrimm, deutsche Zeichentrickserie 1999, Staffel 2, Folge 9: Dornröschen
  • Dornröschen - Ab durch die Hecke, Komödie aus Die ProSieben Märchenstunde (Deutschland/Österreich, ab 2006)
  • 2007/08 Dornröschen, eine Koproduktion von ZDF / PROVOBIS FILM / Moviepool / SK-Film mit Anna Hausburg

Literatur

  • Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. S. 281-284. Düsseldorf und Zürich, 19. Auflage 1999. (Artemis & Winkler Verlag; Patmos Verlag; ISBN 3-538-06943-3)
  • Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. S. 97, 463-464. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994. (Reclam-Verlag; ISBN 3-15-003193-1)
  • Rölleke, Heinz (Hrsg.): Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810 und der Erstdrucke von 1812. Herausgegeben und erläutert von Heinz Rölleke. S. 106-111, 359. Cologny-Geneve 1975. (Fondation Martin Bodmer; Printed in Switzerland)
  • Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Berlin 2008. S. 117-122. (de Gruyter; ISBN 978-3-11-019441-8)

Weblinks

Informationen und Quellen

  1. Die schlafende Schöne am Wald und nicht Die Schöne am schlafenden Wald (auch wenn diese letzte Titelform besser klingt und viele Franzosen diesen Fehler machen). Im Französischen kann nämlich La belle au bois dormant beide Bedeutungen haben. Charles Perrault, Contes (introduction, notices et notes de Catherine Magnien), Editions Le Livre de Poche Classique.
  2. Joachim Fernau, Disteln für Hagen. Bestandsaufnahme der deutsche Seele, Ulm 2005, S.38-39

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