Anhörungsverfahren

Anhörungsverfahren

Als eigenständige Organisation mit Rechtspersönlichkeit haben die Organe der europäischen Gemeinschaften auch eigene Rechtsetzungsbefugnisse.

Während in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten das Parlament den Willen des Volkes vertritt, sind es in der Europäischen Union die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat, denen eine wichtige Rolle bei der Rechtsetzung zukommt. Bei verbindlichen Rechtsakten mit allgemeiner Geltung (Verordnungen und Richtlinien) hat das Europäische Parlament ein Mitentscheidungsrecht, die Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten müssen jedoch auch in diesen Bereichen zustimmen.

Inhaltsverzeichnis

Rechtssetzungsverfahren

Grundsätzlich verläuft die Rechtsetzung der EG wie folgt:

  • Vorschlag der Kommission
  • Entscheidung des Rats
  • Beteiligung des Parlaments in unterschiedlichem Umfang: Zunehmender Einfluss
    • keine Beteiligung
    • Anhörung
    • Zusammenarbeit
    • Zustimmung
    • Mitentscheidung
  • Anhörung durch beratende Organe

Die unterschiedliche Beteiligung des Parlaments bildet somit den wesentlichen Unterschied in den verschiedenen Rechtsetzungsverfahren. Nach dem EG-Vertrag sind folgende Gesetzgebungsverfahren möglich:

Konsultationsverfahren (CNS)

Das Konsultations- oder Anhörungsverfahren (Code CNS, Artikel 308 EG-Vertrag) ist das ursprüngliche Rechtsetzungsverfahren der EG. Es findet nur mehr in Fällen Anwendung, die nicht ausdrücklich dem Verfahren der Zusammenarbeit oder dem Mitentscheidungsverfahren unterliegen.

Nach einem Vorschlag der Kommission und Stellungnahme des Europäischen Parlaments, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen entscheidet der Rat über die Annahme des Vorschlags, eventuell, wie es ursprünglich Tradition in der EG war, einstimmig.

Mitentscheidungsverfahren (COD)

Beim Mitentscheidungs-, auch Kodezisionsverfahren (Code COD, Artikel 251 EG-Vertrag) hat das Parlament ein vollwertiges Mitbestimmungsrecht und kann einen Rechtsakt auch verhindern. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Rat und Parlament ist die Einberufung eines Vermittlungsausschusses vorgesehen.

Zustimmungsverfahren (AVC)

Das Zustimmungsverfahren (Code AVC) wurde mit der Einheitlichen Europäischen Akte eingeführt und gibt dem Parlament die Möglichkeit, der Annahme bestimmter Rechtsakte des Rates zuzustimmen oder seine Zustimmung zu verweigern. Es hat in diesen Bereichen ein Vetorecht. Das Verfahren war ursprünglich nur für den Abschluss von Assoziierungsabkommen oder die Prüfung von Anträgen auf den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft vorgesehen und findet derzeit in acht vom EG-Vertrag bestimmten Bereichen Anwendung:

  • Menschenrechtsverletzungen (Artikel 7 EU-Vertrag);
  • Verstärkte Zusammenarbeit (Artikel 11 Absatz 2);
  • Beitritt neuer Mitgliedstaaten (Artikel 49 EU-Vertrag);
  • Besondere Aufgaben der EZB (Artikel 105 Absatz 6);
  • Änderung der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (Artikel 107 Absatz 5);
  • Struktur- und Kohäsionsfonds (Artikel 161);
  • Verfahren für allgemeine unmittelbare Wahlen (Artikel 190 Absatz 4);
  • Bestimmte internationale Übereinkünfte (Artikel 300 Absatz 3);

Verfahren der Zusammenarbeit (SYN)

Das Verfahren der Zusammenarbeit (Code SYN, Artikel 252 EG-Vertrag) gab dem Europäischen Parlament bei seiner Einführung durch die Einheitliche Europäische Akte das erste Mal die Möglichkeit, am Gesetzgebungsprozess mitzuwirken. Das Parlament kann darin den Gemeinsamen Standpunkt des Rates abändern; anders als beim Mitentscheidungsverfahren beschließt aber letztendlich der Rat allein.

Heute wird das Verfahren der Zusammenarbeit nur noch in bestimmten Bereichen der Wirtschafts- und Währungsunion angewendet. Alle anderen Bereiche, in denen zuvor dieses Verfahren zur Anwendung kam, unterliegen seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam dem Mitentscheidungsverfahren.

Kritikpunkte

Kritiker bemängeln, dass die Arbeitsweise, insbesondere bei den Verfahren der Zusammenarbeit und der Anhörung, nicht transparent genug sei (Komitologie). Insgesamt wird die Mitwirkungsmöglichkeit der nationalen Parlamente oft als zu begrenzt kritisiert (Demokratiedefizit der EU) – um dem entgegenzuwirken, ist im noch nicht ratifizierten Vertrag von Lissabon ein „Frühwarnsystem“ vorgesehen, in dem die nationalen Parlamente über alle Gesetzesvorhaben der Kommission unterrichtet werden und diese die Möglichkeit haben, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu überprüfen und gegebenenfalls zu intervenieren.

Darüber hinaus arbeiten die Parlamente der Mitgliedsstaaten in der Konferenz der Europaauschüsse (COSAC) zusammen.

Umsetzung

Die Umsetzung der Rechtsakte der Europäischen Union findet in überwiegendem Maße im Rahmen der Komitologie statt.

Siehe auch

Literatur

  • Ines Härtel: Handbuch Europäische Rechtsetzung. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, New York 2006, ISBN 3-540-30664-1.
  • Wolfgang Wessels: Gesetzgebung in der Europäischen Union. In: Wolfgang Ismayr (Hrsg.): Gesetzgebung in Westeuropa. EU-Staaten und Europäische Union. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-8100-3466-3, S. 653–683.

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