- Kodezision
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Das Mitentscheidungsverfahren (auch Kodezisionsverfahren) ist das mittlerweile am häufigsten anzuwendene Gesetzgebungsverfahren in der Rechtsetzung der EG.
Das Mitentscheidungsverfahren wurde erstmals durch den Vertrag von Maastricht eingeführt. Heutzutage bildet Artikel 251 EGV seine rechtliche Grundlage. Die ebenfalls existierende deutsche Bezeichnung Kodezisionsverfahren ist ein Anglizismus (von engl. co-decision „Mit-Entscheidung“). Durch den noch nicht ratifizierten Vertrag von Lissabon soll das Mitentscheidungsverfahren in ordentliches Gesetzgebungsverfahren umbenannt werden.
Inhaltsverzeichnis
Grundlagen
Durch den Vertrag von Amsterdam und den Vertrag von Nizza wurde das Mitentscheidungsverfahren auf weitere Politikbereiche ausgeweitet und gleichzeitig vereinfacht. Angewendet wird es nun in der Regel in den Bereichen, in denen im Ministerrat eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit erfolgt. Beispiele für die Anwendung des Mitentscheidungsverfahrens sind Entscheidungen über:
- Verkehrspolitik
- Umweltpolitik
- Entwicklungspolitik
- Arbeitnehmerschutz
- Freizügigkeit
- Asylrechtliche Mindestnormen
- Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen
Wichtigste Ausnahme ist der Bereich der Landwirtschaft, in dem das Europäische Parlament lediglich angehört wird (siehe Anhörungsverfahren). Überdies wird das Mitentscheidungsverfahren in den Bereichen Außenhandelspolitik und Innere Sicherheit nicht angewendet.
Das Mitentscheidungsverfahren ist relativ umfangreich und muss heute, wie in der aktuellen Fassung des EG-Vertrags vorgesehen, zur Rechtsetzung der meisten Richtlinien verwendet werden. Auch für andere Rechtsakte und Verordnungen, bei denen der EG-Vertrag auf Art. 251 verweist, muss dieses Verfahren angewendet werden.
Das Mitentscheidungsverfahren stärkt die Rolle des Europäischen Parlaments erheblich: Nach diesem Verfahren kann ohne seine Zustimmung ein Rechtsakt (z. B. Richtlinie oder Verordnung) nicht mehr in Kraft treten. Durch den noch nicht ratifizierten Vertrag von Lissabon soll das Mitentscheidungsverfahren auf weitere Politikbereiche ausgedehnt, in ordentliches Gesetzgebungsverfahren umbenannt und dann in Art. 294 AEUV geregelt werden.
Funktionsweise
Die Europäische Kommission hat das Initiativrecht und schlägt einen Rechtsakt vor. Das Verfahren selbst richtet sich nach Art. 251 EGV und umfasst maximal drei Lesungen.
Neben den in Art. 251 EGV geregelten Verfahrensschritten kann über das gesamte Verfahren hinweg ein sogenannter informeller Trilog, das heißt Beratungen zwischen zwei Mitgliedern des Europäischen Parlaments, dem Ratspräsidenten und der Europäischen Kommission, stattfinden.
Übersicht
Erste Lesung
Das Europäische Parlament berät über den Gesetzesvorschlag der Kommission und gibt mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen (ohne Enthaltungen oder Nichtanwesende zu zählen) eine Stellungnahme ab. Das Parlament kann damit den Vorschlag ohne Änderungen billigen oder Änderungsvorschläge machen. Darauf folgt die erste Lesung des Ministerrats. Dieser kann per Beschluss mit qualifizierter Mehrheit entweder den vom Parlament nicht geänderten Vorschlag direkt billigen oder die Änderungsvorschlage des Parlaments annehmen – der Rechtsakt ist damit angenommen.
Lehnt der Ministerrat die Änderungsvorschläge des Parlaments ab, ist er verpflichtet, einen sogenannten „Gemeinsamen Standpunkt“ zu erarbeiten. In diesem Fall folgt die zweite Lesung.
Zweite Lesung
Mit der Verabschiedung des gemeinsamen Standpunkts des Rates und dessen Übermittlung an das Parlament beginnt eine dreimonatige Frist für die zweite Lesung.
Das Parlament entscheidet über den gemeinsamen Standpunkt und hat drei Möglichkeiten:
- Ablehnung (mit absoluter Mehrheit der Mitglieder): Der Rechtsakt ist gescheitert. Die Kommission kann jedoch einen grundlegend überarbeiteten Vorschlag vorlegen.
- Annahme oder kein Beschluss: Der Rechtsakt ist erlassen und tritt mit seiner Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.
- Änderungsvorschläge (mit absoluter Mehrheit der Mitglieder): Eine Dritte Lesung wird einberufen. Das Parlament kann hierbei nicht übernommene Änderungen aus der ersten Lesung wieder vorschlagen und die vom Rat vorgenommenen Änderungen ebenfalls abändern. Der Rat muss dann innerhalb von drei Monaten in einer zweiten Lesung darauf reagieren und kann den vom Parlament geänderten Text entweder billigen (der Rechtsakt wäre dann erlassen) oder ablehnen – dann wird ein Vermittlungsausschuss einberufen.
Vermittlungsausschuss
Stimmt der Rat der geänderten Fassung des Parlaments nicht zu, wird ein Vermittlungsausschuss einberufen. Das Verfahren ähnelt dem zwischen Deutschem Bundestag und Bundesrat.
Der Vermittlungsausschuss ist paritätisch aus Vertretern von Ministerrat und Parlament zusammengesetzt (je 27). Die Kommission nimmt ebenfalls beobachtend teil (Trilog). Innerhalb von sechs Wochen muss eine Entscheidung gefunden werden. Kommt es zu keiner Einigung, ist der Rechtsakt gescheitert. Wird eine Einigung erzielt, folgt binnen sechs Wochen die dritte Lesung.
Dritte Lesung
In der dritten Lesung stimmen Parlament (mit absoluter Mehrheit der abgegebenen Stimmen) und Rat (mit qualifizierter Mehrheit) über das Ergebnis des Vermittlungsausschusses ab. Lehnt auch nur eines der Organe den Text ab, ist der Rechtsakt gescheitert, wird er von beiden angenommen, ist er angenommen.
Geschichte
Das Mitentscheidungsverfahren wurde mit dem Vertrag von Maastricht eingeführt. Es galt damals nur in einigen wenigen Bereichen, wie beispielsweise das Forschungsrahmenprogramm und die Verbraucherpolitik. Mit jeder Vertragsreform (Amsterdam, Nizza, Lissabon) kamen weitere Bereiche hinzu, so dass das Verfahren zur Zeit in mehr als der Hälfte aller Politikbereiche Anwendung findet. Im Amsterdamer Vertrag wurde das Verfahren zudem vereinfacht, sodass es nun schneller durchgeführt werden kann. Der auf EU-Ebene wichtigste Politikbereich, der nicht unter das Mitentscheidungsverfahren fällt, ist allerdings weiterhin die ausgabenintensive Agrarpolitik.
Faktisch zeigt sich, dass nur ein geringer Teil der Verfahren tatsächlich durch ein Vermittlungsverfahren gelöst werden muss - nicht zuletzt durch das Instrument des informellen Trilogs. Die absolute Zahl der Verfahren bleibt nahezu konstant. Im Zeitraum 1994–1999 waren es im Schnitt 12 Vermittlungsverfahren jährlich (was damals 40% von 30 entsprach). In den parlamentarischen Jahren 1999/2000 waren es 17 (26 % von 65), 2000/2001 20 (30% von 66), 2001/2002 17 (23 % von 73) und 2002/2003 15 (17 % von 87). Seit 1999 und dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages ist es möglich, das Verfahren bereits in erster Lesung abzuschließen. Von dieser Möglichkeit wird auch Gebrauch gemacht: 1999/2000 in 13 Fällen (20 %), 2000/2001 in 19 Fällen (29 %), 2001/2002 ebenfalls in 19 Fällen (26 %) und 2002/2003 in 23 Fällen (27 %).
Verfahren kann jedoch auch in dritter Lesung scheitern – dies geschah zum ersten Mal im Dezember 1994 beim Verfahren zur Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen (Rothley-Bericht). In diesem Fall muss die Kommission einen neuen Vorschlag vorlegen und das Verfahren beginnt von vorn.
Anwendungsbereiche des Mitentscheidungsverfahrens in der EU
- Artikel 12 - Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
- Artikel 13 (2) - Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung
- Artikel 18 - Unionsbürgerschaft - Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit
- Artikel 40 - Freizügigkeit der Arbeitnehmer
- Artikel 42**- Freizügigkeit der Arbeitnehmer: Sozialversicherung, Niederlassungsfreiheit
- Artikel 44 - Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit
- Artikel 46(2) - Koordinierung der Bestimmungen über eine Sonderregelung für die Niederlassung von Ausländern
- Artikel 47(1) - Selbstständige Tätigkeit: Anerkennung von Diplomen
- Artikel 47(2)** - Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten
- Artikel 55 - Niederlassungsfreiheit - Dienstleistungen
- Artikel 65 - justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen (Ausnahme: Familienrecht)
- Artikel 71(1) - Verkehr: internationaler Verkehr, Zulassung von Verkehrsunternehmen in Mitgliedstaaten, in denen sie nicht ansässig sind, Verkehrssicherheit
- Artikel 80(2) - See- und Luftverkehr
- Artikel 95(1) - Harmonisierung des Binnenmarkts
- Artikel 129 - Beschäftigung, Fördermaßnahmen
- Artikel 135 - Zusammenarbeit im Bereich Zoll
- Artikel 137(1 und 2) - Sozialpolitik: Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer, Arbeitsbedingungen, Information und Beteiligung von Arbeitnehmern, Gleichheit von Mann und Frau, Bekämpfung sozialer Ausgrenzung
- Artikel 141 - Gleicher Entgelt für gleiche Arbeit für Männer und Frauen
- Artikel 148 - Sozialfonds - Umsetzungsentscheidungen
- Artikel 149(4) - Fördermaßnahmen im Bereich der Bildung
- Artikel 150 - Berufsausbildung - Unterstützung und Ergänzung
- Artikel 151(5)** - Kulturförderung
- Artikel 152(4) - Gesundheitsschutz - Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Substanzen und Organe, Maßnahmen im Veterinärwesen und Pflanzenschutz, Verbesserung der menschlichen Gesundheit
- Artikel 153(4) - Verbraucherschutz
- Artikel 156 - Trans-Europäische Netze - Leitlinien, Finanzierung
- Artikel 157(3) - Industrie - spezifische Maßnahmen zur Unterstützung
- Artikel 159, 3. Absatz - Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt außerhalb der Strukturfonds
- Artikel 162 - Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung (Umsetzungsentscheidungen)
- Artikel 166 - Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung
- Artikel 172 - Forschung: Annahme von Programmen
- Artikel 175(1), (3) - Umwelt: Maßnahmen, Annahme und Umsetzung von Programmen
- Artikel 179 - Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Entwicklung
- Artikel 191 - Regeln für Parteien auf europäischer Ebene eingeschlossen ihre Finanzierung
- Artikel 255 - Transparenz: Allgemeine Prinzipien und Zugang zu Dokumenten
- Artikel 280 - Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung
- Artikel 285 - Statistik
- Artikel 286 - Datenschutz: Einrichtung einer unabhängigen Kontrollinstanz
(** - verlangen die Einstimmigkeit im Ministerrat)
Mitentscheidung kann zu einem späteren Zeitpunkt auf folgende Bereiche ausgedehnt werden:
- Artikel 63(1) - Asyl
- Artikel 63(2) - Flüchtlinge und Vertriebene
- Artikel 63(3) - Illegale Einwanderung
- Artikel 63(3) - Reisefreiheit für Angehörige von Drittstaaten
- Artikel 137(1), d, f und g - Sozialvorschriften
Siehe auch
Weblinks
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