Anhörungsrüge

Anhörungsrüge

Die Anhörungsrüge oder Gehörsrüge ist ein besonderer Rechtsbehelf im deutschen Prozessrecht, der es erlaubt, Verstöße einer Entscheidung gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) geltend zu machen, wenn gegen die Entscheidung sonst ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf nicht gegeben ist. Eine Verfassungsbeschwerde, mit der die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) gerügt werden soll, ist nur dann zulässig, "wenn gegen die angegriffene Entscheidung ein anderer Rechtsbehelf nicht gegeben ist und zuvor versucht wurde, durch Einlegung einer Anhörungsrüge (insbesondere § 321a ZPO, § 152a VwGO, § 178a SGG, § 78a ArbGG, § 44 FamFG, § 133a FGO, §§ 33a, 356a StPO) bei dem zuständigen Fachgericht Abhilfe zu erreichen".[1]

Inhaltsverzeichnis

Zivilprozessrecht

Im Zivilprozessrecht ist die Anhörungsrüge in § 321a ZPO geregelt und wurde durch Gesetz vom 9. Dezember 2004 mit Wirkung ab 1. Januar 2005 neu gestaltet. Hintergrund der Neuregelung war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2003[2], nach welcher wegen des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde der Schutz gegen Verletzungen des rechtlichen Gehörs in erster Linie durch die Fachgerichte selbst erfolgen müsse, hierzu müssten entsprechende Rechtsbehelfe im Gesetz vorgesehen werden.

Die Bezeichnung ergibt sich nicht aus der Paragraphenüberschrift oder dem Gesetzestext (§ 321a ZPO spricht nur von „Rüge“), allerdings trägt das Gesetz vom 9. Dezember 2004 den Kurztitel „Anhörungsrügengesetz“. In der Literatur ist auch der Ausdruck „Gehörsrüge“ im Gebrauch, der den Bezug zum Anspruch auf rechtliches Gehör verdeutlicht.

Voraussetzungen des Rügeverfahrens

Statthaftigkeit

Das Urteil oder die instanzabschließende Entscheidung (auch Beschlüsse)[3] muß unanfechtbar sein.

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

Der Anspruch der beschwerten Partei setzt einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG voraus; hierbei ist zu beachten, dass der zivilprozessuale Begriff des rechtlichen Gehörs grundsätzlich weiter als der verfassungsgerichtliche Begriff zu fassen ist.

Entscheidungserheblichkeit

Der Gehörsverstoß muß sich auf das Ergebnis der Entscheidung ausgewirkt haben. Das ist dann der Fall, wenn die Entscheidung möglicherweise bei Gehörsgewährung anders ausgefallen wäre.

Form der Rügeschrift

Der bestimmende Schriftsatz muß

  • die angegriffene Entscheidung bezeichnen
  • Umstände darlegen, wodurch der Gehörsanspruch verletzt wurde
  • und angeben, inwiefern sich dies auf das Ergebnis der Entscheidung ausgewirkt hat.

Frist

Die Rüge ist innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen nach Kenntnis von der Verletzung rechtlichen Gehörs schriftlich bei dem Gericht, dessen Entscheidung angegriffen wird, zu erheben; der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen.

Adressat

Die Rügeschrift ist bei dem Gericht, das den Gehörsanspruch verletzt haben soll, einzureichen.

Begründetheit der Rüge

Ist die Rüge begründet, wurde also das rechtliche Gehör verletzt, wird das Verfahren in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor der Entscheidung befand. Anderenfalls wird die Rüge durch unanfechtbaren Beschluss verworfen oder zurückgewiesen.

Abgrenzung zur Gegenvorstellung

Umstritten war, ob neben der Anhörungsrüge auch eine Gegenvorstellung erhoben werden kann. Die Frage war, ob das neue Rechtsinstitut die bisher von der Rechtsprechung anerkannte Gegenvorstellung gegen nicht mehr anfechtbare gerichtliche Entscheidungen verdrängt oder ob neben der Anhörungsrüge auch die Gegenvorstellung wegen schwerwiegender formeller oder materieller Rechtsfehler weiterhin möglich ist.

Bis vor geraumer Zeit wurde insoweit die Auffassung vertreten, dass spätestens mit Einführung der Anhörungsrüge kein Raum mehr für die Zulässigkeit einer Gegenvorstellung sei. Dabei wurde jedoch verkannt, dass mit der Anhörungsrüge ausschließlich die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend gemacht werden kann. Anderweitige prozessuale oder materiell rechtliche Mängel wie auch sonstige unbeabsichtigte Unzulänglichkeiten einer auf anderem Wege nicht mehr anfechtbaren Entscheidung können mit diesem Rechtsbehelf nicht korrigiert werden. Daher hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass solche nicht (allein) auf der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beruhende Fehler einer Entscheidung nach wie vor von dem Spruchkörper auf die Erhebung einer Gegenvorstellung hin behoben werden können (BVerfG 1 BvR 848/07 vom 25. November 2008 Ziffer 33 ff.).

Andere Verfahrensordnungen

Ähnliche Regelungen gibt es auch für den Strafprozess (§ 33a und § 356a StPO), den Prozess vor den Arbeitsgerichten (§ 78a ArbGG), den Verwaltungsprozess (§ 152a VwGO), den Prozess vor den Sozialgerichten (§ 178a SGG), den Prozess vor den Finanzgerichten (§ 133a FGO) und in den Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (§ 44 FGG).

Weblinks

http://www.bundesverfassungsgericht.de/organisation/vb_merkblatt.html

Einzelnachweise

  1. so Merkblatt des BVerfG zur Verfassungsbeschwerde, 2. Erschöpfung des Rechtswegs, siehe http://www.bundesverfassungsgericht.de/organisation/vb_merkblatt.html
  2. BVerfGE 107, 395
  3. Saenger (Hrsg.), Kommentar zur ZPO, § 321a, Rn. 4

Literatur

  • Daniel Schnabl: Die Anhörungsrüge nach § 321a ZPO – Gewährleistung von Verfahrensgrundrechten durch die Fachgerichte, Mohr Siebeck Verlag, 2007 (ISBN 978-3-16-149222-8).
  • Jürgen Gehb: Vom langsamen Ende eines verfassungsrechtlichen Dogmas? – Der trickreiche Weg des Bundesverfassungsgerichts zum Anhörungsrügengesetz –, DÖV 2005, 683–687.
  • Jürgen Treber: Neuerungen durch das Anhörungsrügengesetz, NJW 2005, 97–101.
  • Bernhard Ulrici: Das Anhörungsrügengesetz, Jura 2005, 368–372.
  • Rüdiger Zuck: Das Verhältnis der Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde, NVwZ 2005, 739–743.
  • Wolf-Rüdiger Schenke: Außerordentliche Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozessrecht nach Erlass des Anhörungsrügengesetzes, NVwZ 2005, 729–739.
  • Frank-Michael Goebel (RiOLG, Hrsg.): AnwaltFormulare Zivilprozessrecht, Deutscher Anwaltverlag, 2006, ISBN 3-824-00766-5
  • Ingo-Jens Tegebauer: Die Anhörungsrüge in der verfassungsgerichtlichen Praxis, DÖV 2008, 954-958
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