- Kunta (Mauren)
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Die Kunta (auch: Kuntah) sind ein maurisches Nomadenvolk, das im 17. Jahrhundert aus dem heutigen Mauretanien in den Norden von Mali einwanderte und heute zum großen Teil in der Umgebung von Timbuktu bis hinauf zum Adrar-n-Ifoghas lebt.
Die Kunta zählen nicht zur Kriegerkaste der Mauren, sondern sind überwiegend Ulama (maurisch: zawaya), d. h. Korangelehrte. In der Fachliteratur werden sie ebenfalls mit dem Fachbegriff M'rabatin (sing. Marabut) bezeichnet. Sie gehören überwiegend der Sufi-Bruderschaft (tariqa) der Qadiriyya an. Traditionell leiten sich die Kunta von dem arabischen Feldherrn Uqba ibn Nafi (683), dem Eroberer Nordafrikas, ab. Sie sprechen zwar den arabischen Dialekt Nordwestafrikas, das Hassānīja, gehören aber ihrer Herkunft nach zum Zanaga- oder Sanhadscha-Zweig der Berbervölker an, wobei im Lauf der Jahrhunderte eine nicht unbeträchtliche Beimischung durch arabische Zuwanderer aus dem nordafrikanischen Raum stattgefunden haben dürfte. Die Genealogien bringen die Kunta auch gern in Zusammenhang mit den Almoraviden.
Als deutlich eigenständige Ethnie unter den Mauren formten sich die Kunta bis spätestens zum 16. Jahrhundert heraus. Zu dieser Zeit fanden sich Kunta-Clans zwischen dem Hodh im heutigen Mauretanien, der Sakiya al-Hamra im Norden und östlich bis zu den Tuat-Oasen. Die Handelsstadt Walata in Mauretanien war ein Zentrum der Kunta-Gelehrten. Im 17. oder 18. Jahrhundert spaltete sich das Kunta-Volk. Ein Teil, die so genannten Kunta al-Kibla, verbreitete sich bis an den Senegal, während die andere Stammesgruppe, die Awlad Sidi-l Wafi, in Richtung Nigerbogen und Azawad (im heutigen Mali), teilweise sogar bis nach Gobir (im heutigen Niger) und Katsina (im heutigen Nigeria) abwanderte.
Der bedeutendste Clan unter den in Richtung Timbuktu gewanderten Kunta waren die Angehörigen der Familie al-Baqqai, deren Gründer Sidi Ahmad al-Baqqai al-Kunti im 16. Jahrhundert lebte. Die Oberhäupter des Clans dominierten als herausragende Theologen und Juristen zwischen 1811 und 1864 die Stadt Timbuktu und konnten ihren religiösen Einfluss auch über die Tuareg bis in die zentrale Sahara hinein ausdehnen. Viele Nomaden pilgerten nach al-Hilla, nur um Sidi Mukhtar zu sehen und hierdurch Anteil an seinem baraka, seinem Charisma, zu erlangen.
Der von dem Kunta-Gelehrten Sidi al-Mukhtar al-Kunti († 1811) gegründete Zweig der Qadiriyya (Mukhtariyya oder Baqqa`iyya) zeichnete sich durch Offenheit gegenüber anderen Religionen und eine weniger strenge Auslegung der heiligen Schriften aus. Der britische Islamforscher John Hunwick schreibt, dass diese Bruderschaft großen Wert auf Tugenden wie Barmherzigkeit, Vergebung der Sünden und den „Djihad der Worte, nicht des Schwerts“ legte, d. h. auf die Bekehrung durch Überredung und durch das Vorbild eines gottgefälligen Lebens. Dies führte einerseits dazu, dass die Baqqa'iyya bei den teilweise nur oberflächlich islamisierten Konföderationen der Tuareg in der mittleren Sahara rasch Anhänger fand. Gleichzeitig gerieten sie durch diese Haltung in schroffen Gegensatz zu den fundamentalistischen Fulbe, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts im gesamten Westsudan einen Djihad mit dem Ziel, eine besonders strenge Form des Islam durchzusetzen, führten. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass die Forderung nach einer Wiederbelebung und Reinigung des Islam, wie sie von Teilen der Mukhtariyya vertreten wurde, zum Fulbe-Djihad mit beigetragen hatte und einige Fulbe-Führer aus dem Umfeld des Reformators Usman dan Fodio vor dem Ausbruch des Djihad Schüler von Sidi Mukhtar in al-Hilla gewesen waren.
Der bedeutendste Gelehrte des al-Baqqai-Clans in der zweiten Jahrhunderthälfte war Sidi Ahmad al-Baqqai (1803-1865), dessen Rat in theologischen und juristischen Fragen im gesamten Sudan und in der Westsahara gefragt war. Sein Einfluss war so groß, dass er dem Fulbe-Emir von Massina die Stirn bieten und die Auslieferung des deutschen Afrikaforschers Heinrich Barth, der 1853 nach Timbuktu kam, verweigern konnte.
Während der Kolonialzeit (1893-1960) gelang es den Franzosen, die latenten Zwistigkeiten zwischen Kunta und Tuareg, die durch Sidi Ahmad al-Baqqai nur zeitweise hatten beigelegt werden können, geschickt auszunutzen. Angesichts der fortschreitenden Dürre im Azawad und im Adrar-n-Ifoghas (Grenzgebiet zwischen Mali und Algerien) und der Knappheit von Weiden und Wasservorräten kam es in den 1950er Jahren mehrfach zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Volksgruppen, über die der deutsche Völkerkundler und Schriftsteller Herbert Kaufmann in mehreren seiner Büchern berichtet hat.
Literatur
- Jamil M. Abun-Nasr, Tidjaniyya: A Sufi Order in the Modern World. Oxford 1965 (enthält auch viel Material über die Kunta-Theologen von Timbuktu)
- Heinrich Barth: Reisen und Entdeckungen in Nord- und Westafrika in den Jahren 1849 bis 1855. Gotha 1857-58, Bd. 4 u. 5.
- Albert Adu Boahen: Britain, the Sahara and the Western Sudan, 1788-1861. Oxford 1964 (u. a. über das Verhältnis der Kunta-Marabuts gegenüber den Europäern).
- Abd-al-Aziz Abd-Allah Batran, The Qadiryya Brotherhood in West Africa and the Western Sahara : The Life and Times of Shaykh Al-Mukhtar Al-Kunti (1729 – 1811). Rabat 2001.
- John Hunwick, "Kunta" u. "Timbuktu", in, Encyclopédie de l'Islam. Nouvelle Édition. Bd. 5 u. 10. Leiden 1986 u. 2002.
- Paul-Nicolas Marty, Études sur l'Islam et les tribus du Soudan. Bd. 1: Les Kounta de l'Est. Les Berabich. Les Iguellad. Paris 1920.
- Ann McDougall,“The Economics of Islam in the Southern Sahara: The Rise of the Kunta Clan", in, Nehemiah Levtzion u. Humphrey Fisher (Hgg.), Urban and Rural Islam in West Africa. Westview 1987.
- H. T. Norris, The Arab Conquest of the Western Sahara. Harlow 1986.
- Rainer Oßwald, Die Handelsstädte der Westsahara: Die Entwicklung der arabisch-maurischen Kultur von Šinqīt, Wādān, Tišīt und Walāta. Berlin 1986.
- Elias N. Saad, Social History of Timbuktu: The Role of Muslim Scholars and Notables, 1400-1900. Cambridge 1983.
- John Spencer Trimingham: Islam in West Africa. Oxford 1959.
- John Spencer Trimingham, A History of Islam in Western Africa. London - Oxford - New York 1962.
- Thomas Whitcomb, „New Evidence on the Origins of the Kunta“, in, Bulletin of the School of Oriental and African Studies, University of London 38 (1975), 103-123, 407-417.
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