Kümmernis

Kümmernis
Wandbild in Weissenburg in Bayern, Ende 14. Jahrhundert
Darstellung der Geigerlegende von Hans Burgkmair ca. 1507

Kümmernis, auch: Ontkommer (niederländisch), Wilgefortis (abgeleitet von „virgo fortis“), Sankt Hulpe, Sankt Hülfe (niederdeutsch), Sancta Liberata (lat.) – und anders bezeichnet, war eine fiktive Heilige, deren Legende fälschlich mit Bildwerken des mit einer Tunika bekleideten Christus am Kreuz in Verbindung gebracht wurde. Als Wilgefortis wurde sie 1583/86 ins Martyrologium Romanum aufgenommen, inzwischen aber wieder gelöscht.[1]

Inhaltsverzeichnis

Legende

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts erzählen Heiligenlegenden[2] von ihr, sie sei die zum Christentum bekehrte Tochter eines heidnischen Königs gewesen, die sich gegen die vom Vater erzwungene Heirat wehrte. Ihre inständigen Gebete um Verunstaltung wurden erhört: ihr wuchs ein Bart. Der erboste Vater ließ sie daraufhin ans Kreuz schlagen. Bevor sie dort starb, verkündete sie noch drei Tage lang ihren Glauben und bekehrte so viele zum Christentum, unter anderen ihren Vater, der reuevoll eine Gedächtniskirche errichtete und darin ein kostbar ausgestattetes Bildwerk aufstellen ließ. An dieses knüpfen sich weitere Wunderberichte und Legenden, von denen vor allem die wohl von Lucca ausgehende Spielmannslegende von Bedeutung ist:

Vor dem Bilde geigte einst ein in Not geratener Spielmann, den die Heilige mit ihrem herabgeworfenen kostbaren Schuh entlohnte. Der daraufhin des Diebstahls angeklagte Geiger bewies seine Unschuld, indem er erneut vor dem Bilde bittend, von der Heiligen den zweiten Schuh zugeworfen bekam. Die Legende regte u.a. Justinus Kerner 1816 zu seiner Ballade Der Geiger zu Gmünd an. Aber auch in Grimms Märchen fand sie als Die heilige Frau Kummernis Niederschlag.

Bildtradition

Die Entstehung der Legende und die Geschichte ihrer Ikonographie ist abhängig von und verwoben mit dem früh- und hochmittelalterlichen Bildtyp des bekleideten Christus am Kreuz und besonders mit dem Volto Santo von Lucca.[3] So ist von manchen frühen Darstellungen nicht sicher, ob und wann sie als Heiligen- oder als Christusbilder gesehen wurden. Die niederdeutschen Darstellungen des bekleideten Christus am Kreuz dürften, wenn sie als Sankt Hulpe bezeichnet wurden, überwiegend als Bild des hilfreichen Gottessohns verstanden worden sein.[4]

Wie auf byzantinischen oder ottonischen Kreuzigungsdarstellungen wird die Hl. Kümmernis am Kreuz mehr aufrecht als hängend, immer bärtig, gekrönt und gegürtet gezeigt. Spät- und nachmittelalterliche Darstellungen meinten mit Sicherheit schon ursprünglich die Heilige der Legende. In ihnen wird sie daher mit unfixierten Füßen und nur einem Schuh dargestellt, auch der vor dem Altar kniende Geiger kommt jetzt ins Bild.

Verbreitung

Die ältesten Spuren der spätmittelalterlichen Textüberlieferung weisen auf die südlichen Niederlande. Auch eine Wallfahrt zu einem Gnadenbild der Wilgefortis im Mainzer Dom ist überliefert.[5] In Süddeutschland und den Alpenländern hat sich die Verehrung der Heiligen bis über die Barockzeit hinaus fortgesetzt. Noch in jüngster Zeit hat die Wallfahrtskirche in Neufahrn bei Freising ihr Wilgefortis-Patrozinium wieder in den Vordergrund gestellt.

Literatur

  • Sigrid Glockzin-Bever; Martin Kraatz (Hgg.): Am Kreuz – eine Frau: Anfänge – Abhängigkeiten - Aktualisierungen. Münster: Lit 2003 ISBN 3-8258-6589-4
  • Konrad Kunze: Wilgefortis. In: Verfasserlexikon 2. Auflage Bd. 10 (1999), Sp. 1081-1083
  • Regine Schweizer-Vüllers: Die Heilige am Kreuz: Studien zum weiblichen Gottesbild im späten Mittelalter und in der Barockzeit. Bern u.a.: Lang 1997 ISBN 3-906757-98-6
  • Peter Spranger: Kümmernis. In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 8 (1996), Sp. 604-607
  • Peter Spranger: Der Geiger von Gmünd: Justinus Kerner und die Geschichte einer Legende. Schwäbisch Gmünd ²1991 ISBN 3-926043-08-3 Rezension
  • Lexikon der Christlichen Ikonographie, Bd. 7, Ikonographie der Heiligen, Freiburg 1974, Sp. 353-355 (Artikel Wilgefortis, mit Werkliste, Quellen- und Literaturnachweisen)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://www.heiligenlexikon.de/BiographienW/Wilgefortis.html
  2. Referiert in den Acta Sanctorum, Julii tomus V., Antwerpen 1727, Seite 69f.
  3. Gustav Schnürer und Joseph M. Ritz: Sankt Kümmernis und Volto Santo, Düsseldorf 1934
  4. "...dem guten Herrn St. Hulpe, der Gott selber ist..." (Diepholzer Urkundenbuch, Nr. 79 aus dem Jahr 1380)
  5. Michael Matheus: Pilger und Wallfahrtsstätten in Mittelalter und Neuzeit. Franz Steiner Verlag, 1999, S. 105 ISBN 3-515-07431-7

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