Lexikalische Dekomposition

Lexikalische Dekomposition

Die lexikalische Dekomposition (griech. lexikón „das Wort betreffend“; lat. decompositio „Zerlegung“) (auch: lexikalische Zerlegung) ist ein Teilbereich der linguistischen Semantik. Hauptaufgabe ist es, einzelne Wörter oder Lexeme in ihre wesentlichen Bedeutungsmerkmale zu zerlegen, d. h. die wesentlichen Bedeutungsaspekte, die notwendigerweise zur Gesamtbedeutung dieses Ausdrucks beitragen (Intension), zu finden.

Inhaltsverzeichnis

Ziele der Lexikalischen Dekomposition

Seit Ende der 1960er Jahre versuchen zahlreiche Linguisten die Bedeutungen sämtlicher sprachlicher Zeichen in formelle Systeme zu übertragen, mit dem Hauptanliegen am Ende ein begrenztes Inventar an Minimalprädikaten bzw. Semen festlegen zu können. Besonders die Vertreter der generativen Semantik suchten nach universellen Systemen von Bedeutungen und deren Formalisierung. Diese Formalisierung wurde vor allem dadurch etabliert, dass der Wunsch bestand, semantisches Wissen auf Computersysteme übertragen zu können, um die Bedeutungen aller Zeichen einer Sprache "errechnen" zu können. Weiterhin wurde versucht, ein für alle Sprachen gültiges Inventar an semantische Atomen aufzustellen.

Methodik

Die Bedeutung eines Ausdrucks wird immer in Relation zu einem anderen ermittelt. Dies geschieht durch das Bilden von Gegensatzpaaren, wie z. B. Mädchen vs. Frau:

  • Mädchen = [+MENSCHLICH, +WEIBLICH, -ERWACHSEN]
  • Frau = [+MENSCHLICH, +WEIBLICH, +ERWACHSEN]

Bereits Ferdinand de Saussure bemerkte, dass die Bedeutung eines Ausdrucks von der Bedeutung anderer sprachlicher Zeichen abhängig ist. Die lexikalische Dekomposition beschäftigt sich also nicht mit der Erschließung aller Merkmale eines Ausdrucks, sondern nur mit dem Auffinden der Merkmale, die sie nach dem Prinzip der Bedeutungsunterscheidung (Distinktivität) von anderen Ausdrücken abgrenzen.

Anwendungsgebiete

Wortfelder

Ein Wortfeld lässt sich als eine Menge von Lexemen beschreiben, welche mindestens ein gemeinsames Bedeutungsmerkmal haben und untereinander paradigmatische Bedeutungsbeziehungen aufweisen. Mit Hilfe der lexikalischen Dekomposition gilt es, diese gemeinsamen Seme bzw. Sememe zu definieren.

  • So verfügt das Wortfeld TIER über die gemeinsamen Merkmale [+BELEBT] und [-MENSCHLICH].
  • Um Teile dieses Wortfeldes weiter zu beschreiben, werden die nächst-kleineren distinktiven Merkmale verwendet: z. B. [+FLÜGEL] als wesentlichstes Sem eines Vogels.
  • Mögliche weitere Differenzierungen: [+SCHWARZ] als besonderes Merkmal für Raben.
  • etc.

Dieser Unterscheidung sehr dienlich sind die Begriffe genus proximum ("der nächst(höher)en Gattung") und differentia specifica (" des artbildenden Unterschieds"). Im obengenannten Beispiel:

  • genus proximum: "Tier"
  • differentia specifica: "mit Flügeln"

Eine bekannte Analyse des Wortfeldes "Universitätsangehörige" veranschaulicht die These, dass Hyponyme mindestens ein Merkmal gemeinsam mit ihrem Hyperonym haben, In diesem Fall ist das Hyperonym "Universitätsangehöriger", d.h. alle Unterbegriffe haben die Eigenschaft gemeinsam, Angehörige der Universität zu sein. Erst durch weitere Merkmale unterscheiden sich die Hyponyme voneinander:

Student Hiwi Assistent Professor Sekretär
[UNI-ANGEHÖRIGER] + + + + +
[WEISUNGSBEFUGT] - - - + -
[LEHRKRAFT] - - + + -
[ANGESTELLT] - + + + +
[AUSZUBILDENDER] + + -/+ - -
... ... ... ... ... ...

Semantische Relationen

Mit Hilfe semantischer Merkmale lassen sich semantische Relationen beschreiben:

  • Synonyme Ausdrücke beinhalten exakt die gleichen semantischen Merkmale und die gleiche Ausprägung.
  • Heteronyme/ inkompatible Ausdrücke teilen sich mindestens ein Merkmal mit derselben Ausprägung, jedoch unterscheidet sich jeder Ausdruck mindestens durch ein weiteres Merkmal von den anderen.
  • Hyperonyme beinhalten alle wesentlichen Merkmale ihrer Hyponyme.
  • Hyponyme enthalten alle wesentlichen Merkmale ihres Hyperonyms und zusätzlich weitere, um untereinander Unterschiede bestimmen zu können.
  • Komplementäre Ausdrücke scheinen sich durch ein einziges Merkmal bestimmen zu lassen, wobei einer der beiden den Wert "+" und der andere den Wert "-" zugeschrieben bekommt. Zum Beispiel: "männlich" = [-WEIBLICH]; "weiblich" = [+WEIBLICH]
  • Antonyme Ausdrücke können mit relativen Merkmalen, wie [±MINIMAL] und [±MAXIMAL] bzw. [ÜBER/UNTER DER NORM] beschrieben werden.

Analyse von Verben

Bei der Zerlegung von Verben spielt die Möglichkeit der Umschreibung eine entscheidende Rolle. Der Satz David tötet Goliath kann durch David verursacht, dass der Zustand eintritt, dass Golitath tot (=nicht lebendig) ist umschrieben werden. Durch diese Umschreibung wird das Verb töten in drei Bestandteile (Prädikatoren) zerlegt, wobei jeweils ein Bestandteil für das Verursachen, den Eintritt eines Zustandes und der Darstellung des Endzustandes steht. Diese Prädikate werden CAUSE, BECOME und BE-X genannt (wobei in unserem Beispiel X = not-ALIVE ist). Auf diese Weise können jedem Prädikat Argumente zugeschrieben werden. CAUSE hätte demnach zwei Argumente, nämlich einen Verursacher (x) und den, der von der Ursache betroffen ist (y); die Argumente werden in Klammern dargestellt:

  • CAUSE (x,y) oder auch x CAUSE y
  • BECOME (x)
  • BE- [not-ALIVE (x)]

Der obengenannte Satz wäre in formaler Schreibweise folgendermaßen dargestellt:

  • CAUSE [David, BECOME [BE [not-ALIVE (Goliath]]]
  • oder: [David CAUSE [BECOME [BE [not-ALIVE (Goliath]]]]

Somit lässt sich der Unterschied dazu verdeutlichen, wenn Goliath ohne Fremdverschulden stirbt:

  • BECOME [BE[not-ALIVE(Goliath)]]

Daraus ergeben sich diverse Verbaktionsarten:

  • telisch: sterben......................[BECOME[BE[not-ALIVE(x)]]]
  • kausativ: umbringen.................[y CAUSE[BECOME[BE[not-ALIVE(x)]]]]
  • stativisch: ähneln....................[BE[x SIMILAR y]]
  • Aktivität: schlafen...................[DO[SLEEP(x)]]


So können weiterhin die Aktionsarten nach Vendler (1967) abgegrenzt werden (mittels der Merkmale [DURATIV/PUNKTUELL, TELISCH/ATELISCH]):

  • Activity: schweigen...........................[-telisch, +durativ]
  • State: besitzen..................................[-telisch, +durativ]
  • Achievement: finden.........................[+telisch, -durativ/+punktuell]
  • Accomplishment: ein Buch lesen.......[+telisch, +durativ]

Accomplishments können nach Dowty (1979) stets in eine Handlung und ein Ziel der Handlung zerlegt werden, welches am Ende der Handlung als stativisch angegeben werden kann. Wie im folgenden Beispiel:

x zeichnet einen Kreis: "x handelt so, dass am Ende der Handlung der Satz der Kreis ist gezeichnet wahr wird" (Dowty 1967)

Mit Überschneidung zur Temporalinterpretation: x zeichnet einen Kreis im minimalen Intervall t zeigt, dass der Satz der Kreis ist gezeichnet am Beginn von t falsch und am Ende von t wahr ist.

Diese Zielgerichtheit beschreibt das Prinzip der Telizität.

Mängel der Lexikalischen Dekomposition

Obwohl die lexikalische Dekomposition der Bedeutungsbeschreibung von Ausdrücken ein durchaus nützliches Instrument ist, existieren wesentliche Mängel, die den wissenschaftlichen Nutzen dieses Prozesses klar in Frage stellen.

Einer davon ist die Tatsache, dass es nicht möglich ist (und auch nie möglich sein wird), alle Ausdrücke einer Sprache anhand eines überschaubaren Inventars zu analysieren. Das Inventar, dass zurzeit besteht, zeichnet sich zusätzlich mit einigen Unklarheiten in Abgrenzungs- und Definitionsfragen aus. So zum Beispiel in der Unterscheidung von lexikalischen und grammatikalischen Wörtern: Es lässt sich nicht genau bestimmen, wie viel Bedeutung aus Funktionswörtern in die Gesamtbedeutung einfließt. Weiterhin zeichnen sich viele natürlichsprachliche Ausdrücke durch Unschärfe und Vagheit aus, da wir beim Umgang mit derartigen Wortbedeutungen mit prototypischen Vorstellungen operieren, die fern von klar abgegrenzten Konzepten sind. Dies führt häufig zu Ambiguitäten, die die lexikalische Dekomposition in bestimmten Fällen nahezu unbrauchbar macht.

Ein weiterer wesentlicher Mangel ist die fehlende Evidenz dafür, dass sich in den semantischen Merkmalen tatsächlich psychologische bzw. neurophysiologische Begründungen finden lassen. Dekompositionen in anderen Teilgebieten der Linguistik hingegen verfügen über klar nachweisbare Merkmale (z.B. in der Phonologie: phonetisch definierbare Merkmale). Daher können auch keine klaren Gesetze definiert werden, in denen sowohl die Qualität als auch die Quantität der semantischen Merkmale bestimmt werden, die notwendig sind, um eine Bedeutung zu beschreiben.

Zudem wird kompositionelle Erschließbarkeit gänzlich außer Acht gelassen, d.h. zum Beispiel: Zu wissen was "Löffel" und "abgeben" heißt, bedeutet nicht gleichzeitig zu wissen, was "den Löffel abgeben" heißt.

Quellenangabe

  • J. Meibauer: Einführung in die germanistische Linguistik. Metzler, Stuttgart 2002, ISBN 3-476-01851-2.
  • H. M. Müller et al (Hrsg.): Arbeitsbuch Linguistik. Schöningh, Paderborn 2002, ISBN 3-506-97007-0.
  • D. Alan Cruse et al (Hrsg.): Lexikologie: ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. Berlin/New York 2001, ISBN 3-11-011308-2.
  • H. Bußmann et al (Hrsg.): Lexikon der Sprachwissenschaft. Kröner, Stuttgart 2002, ISBN 3-520-45203-0.

Literatur

  • Manfred Bierwisch: Formal and lexical semantics. In: Linguistische Berichte. 80/82 1982, S. 3-17.
  • Manfred Bierwisch: Semantische und konzeptuelle Repräsentation semantischer Einheiten. In: Untersuchungen zur Semantik. ed. R. Růžićka & W. Motsch. Berlin 1982, S. 61-99.
  • David R. Dowty: Word, meaning and montague grammar. The semantics of verbs and time in generative semantics and Montague´s. PTQ. Dordrecht 1979, ISBN 90-277-1008-2.
  • Charles J. Fillmore: Lexical entries for verbs. In: Folia Linguistica 4: 1968, S. 373-393.
  • Ray Jackendoff: Semantic structure. Cambridge, MA 1990, ISBN 0-262-10043-6.
  • George Lakoff: Natural logic and lexical decomposition. In: Chicago Linguistic Society 6 1970, S. 340-362.
  • A. Wierzbicka: Semantic primitives. Frankfurt am Main 1972, ISBN 3-7610-4822-X.
  • Robert Detrick Van Valin, Randy LaPolla: Syntax. Structure, Meaning and Function. Cambridge University Press, Cambridge 1997, ISBN 0-521-49565-2.

Siehe auch


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