Lotuseffekt

Lotuseffekt

Als Lotuseffekt, auch Lotoseffekt, wird die geringe Benetzbarkeit einer Oberfläche bezeichnet, wie sie bei der Lotospflanze beobachtet werden kann. Wasser perlt in Tropfen ab und nimmt dabei auch alle Schmutzpartikel auf der Oberfläche mit. Verantwortlich dafür ist eine komplexe mikro- und nanoskopische Architektur der Oberfläche, die die Haftung von Schmutzpartikeln minimiert.

Auch andere Pflanzen, wie beispielsweise die Kapuzinerkresse (Tropaeolum), Schilfrohr (Phragmites), Weißkohl (Brassica oleracea convar. capitata var. alba), Wassersalat (Pistia stratiotes), Frauenmantel (Alchemilla) oder die Akelei (Aquilegia) zeigen, genauso wie manche Tiere (viele Insektenflügel), diesen Effekt.[1]

Die Selbstreinigungsfähigkeit wasserabweisender mikro-nanostrukturierter Oberflächen wurde in den 1970er Jahren entdeckt und seit Mitte der 1990er Jahre in biomimetisch-technische Produkte übertragen. Diese sind mit dem Markennamen Lotus-Effekt gekennzeichnet.

Effekt bei Kapuzinerkresse

Inhaltsverzeichnis

Funktionsprinzip

Beispiel für den Lotuseffekt
Auf den Lotosblättern bilden sich silbrig glänzende Regentropfen (Bildmitte), die Blätter der normalen Seerose (unterer Bildrand) werden komplett vom Wasser benetzt.
Unterschied zwischen einer normalen und einer hydrophoben Glasoberfläche
Computergrafik der Oberfläche des Lotosblatts

Wassertropfen haben, aufgrund ihrer hohen Oberflächenspannung, die Tendenz zur Minimierung ihrer Oberfläche und versuchen daher, eine Kugelform zu erreichen. Bei Kontakt mit einer Oberfläche wirken Adhäsionskräfte (Anhaftungskräfte an die Oberfläche), so dass es zur Benetzung derselben kommt. Abhängig von der Beschaffenheit der Oberfläche und der Oberflächenspannung der Flüssigkeit kann es zu vollständiger (spreiter) oder unvollständiger Benetzung kommen.

Die Ursache der Selbstreinigung liegt in einer hydrophoben (wasserabweisenden) Doppelstruktur der Oberfläche. Dadurch wird die Kontaktfläche und damit die Adhäsionskraft zwischen Oberfläche und den auf ihr liegenden Partikeln und Wassertropfen so stark verringert, dass es zur Selbstreinigung kommt. Diese Doppelstruktur wird aus einer charakteristisch geformten Epidermis, deren äußerste Schicht Kutikula heißt, und sich auf ihr befindenden Wachsen gebildet. Die Epidermis der Lotospflanze bildet etwa 10 bis 20 Mikrometer hohe und 10 bis 15 Mikrometer voneinander entfernte Papillen, auf die die sogenannten epikutikularen Wachse aufgelagert sind. Diese aufgelagerten Wachse sind hydrophob und bilden den zweiten Teil der Doppelstruktur. Somit hat Wasser nicht mehr die Möglichkeit, in die Zwischenräume der Blattoberfläche zu gelangen, was zur Folge hat, dass sich die Kontaktfläche zwischen Wasser und Oberfläche drastisch verringert.

Die Hydrophobie von Oberflächen wird mit dem Kontaktwinkel bestimmt. Je höher der Kontaktwinkel, desto hydrophober die Oberfläche. Oberflächen mit einem Kontaktwinkel <90° werden als hydrophil, solche mit einem Kontaktwinkel >90° als hydrophob bezeichnet. Bei einigen Pflanzen können Kontaktwinkel von bis zu 160° (Superhydrophobie) erreicht werden. Das bedeutet, dass nur etwa 2 bis 3 % der Tropfenoberfläche mit der Oberfläche der Pflanze in Kontakt stehen, diese also eine extrem geringe Benetzbarkeit besitzt. Durch die Doppelstruktur der Lotospflanze können ihre Blätter einen Kontaktwinkel von etwa 170° erreichen, wodurch ein Tropfen eine Auflagefläche von nur etwa 0,6 % hat. Die Adhäsion zwischen Blattoberfläche und Wassertropfen ist dabei so gering, dass das Wasser leicht abperlen kann. Aufliegende Schmutzpartikel – die ebenfalls nur eine kleine Kontaktfläche besitzen – werden dadurch mitgeführt und weggespült. Selbst hydrophobe Schmutzpartikel werden von der Pflanzenoberfläche abgewaschen, weil deren Adhäsion zur Pflanzenoberfläche geringer ist als zum Wassertropfen.
Durch die zentrale Bedeutung der Oberflächenspannung wässriger Lösungen für die Minimierung der Kontaktfläche wird verständlich, dass die Selbstreinigung in dieser Form nicht bei stark benetzenden Lösungsmitteln auftreten kann, deshalb stellen solche Oberflächen keinen Schutz gegen jegliche Arten von Lack und Tinten dar.


Die biologische Bedeutung des Lotuseffekts liegt für die Pflanze im Schutz vor einer Besiedlung durch Mikroorganismen, Krankheitserreger oder Keime, beispielsweise Pilzsporen, oder vor Bewuchs mit Algen. In ähnlicher Weise gilt dies auch für Tiere wie Schmetterlinge, Libellen und andere Insekten: Mit ihren Beinen können sie nicht jede Stelle ihres Körpers zum Säubern erreichen, und umso vorteilhafter ist es, wenn Feuchte und Schmutz eigenständig abperlen. Eine weitere positive Wirkung der Selbstreinigung ist die Verhinderung von Verschmutzungen, die den Lichteinfall und damit die Fotosynthese vermindern und Spaltöffnungen verschließen könnten.

Technische Anwendungen

Selbstreinigende Oberflächen sind von zunehmend technischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Bei dieser begehrten Eigenschaft durch superhydrophobe mikro- und nanostrukturierte Oberflächen handelt es sich um ein rein physiko-chemisches Phänomen, und es lässt sich biomimetisch auf technische Oberflächen übertragen. Inzwischen gibt es allein mit diesem Produkt weltweit etwa 600.000 Gebäude, die mit Lotus-Oberflächen ausgestattet sind.

Die Selbstreinigungsfähigkeit wasserabweisender nanostrukturierter Oberflächen wurde in den 1970er Jahren von Wilhelm Barthlott entdeckt. In Bezug auf die technische Lehre zur Umsetzung des Selbstreinigungseffekts meldete Barthlott internationalen Patentschutz an. Weiterhin sind Produkte, die auf die von Barthlott entwickelte technische Lehre zur Umsetzung des Selbstreinigungseffekts zurückgehen, durch die Marken „Lotus-Effekt“ bzw. „Lotus-Effect“ international umfassend geschützt. Exklusiver Markeninhaber ist die Sto AG in Stühlingen, Hersteller unter anderem der Fassadenfarben „Lotusan“ [2], welche 1999 von der Sto AG als erstes kommerzielles Produkt in Umsetzung der Lehre von Barthlott auf den Markt eingeführt wurde.

Weitere Anwendungsbereiche sind selbstreinigende Gläser nach dem Prinzip der Lotuspflanze der Firma Ferro GmbH, die zum Beispiel an den Mautsystemkameras der Bundesautobahnen in Deutschland eingesetzt werden. Die Firma Degussa AG hat Prototypen von Kunststoffen und von Sprays entwickelt.

In der Werbung werden teilweise bewusst sogenannte „Easy-to-clean“-Oberflächen mit den selbstreinigenden Oberflächen nach dem Lotusprinzip verwechselt.

Außerdem haben die Schweizer Firmen HeiQ Materials AG und Schoeller Textil AG Produkte entwickelt, bei denen es sich um schmutzabweisende Textilien handelt unter Marktnamen „Barrier by HeiQ“ und „NanoSphere“. Im Oktober 2005 ergaben Tests des Forschungsinstitutes Hohenstein, dass Kleidung der NanoSphere-Reihe, selbst nach mehrmaligem Waschen, Tomatensoßen, Kaffee und Rotwein einfach ablaufen lassen.[3] Eine weitere Einsatzmöglichkeit gibt es bei selbstreinigenden Markisen, Planen und Segeln, die sonst schnell verschmutzen und schwer zu reinigen sind.

Weiter lassen sich durch superhydrophobe Oberflächen nicht nass werdende Schwimmanzüge und besser gleitende Schiffsrümpfe entwickeln. Besagte Schwimmanzüge wurden bereits auf internationalen Turnieren eingesetzt und sollen ab 2010 wieder verboten werden, da sie die Zeiten der Schwimmer erheblich verbessern.[4]

Forschungsgeschichte

Obwohl das Phänomen der Selbstreinigung von Lotos in Asien seit mindestens 2000 Jahren bekannt ist (Lotos ist unter anderem das Symbol der Reinheit im Buddhismus), wurde der Effekt erst seit Beginn der 1970er Jahre mit dem Einsatz der Rasterelektronenmikroskopie von dem Botaniker Wilhelm Barthlott untersucht[5][6]. Die ursprünglichen Arbeiten wurden vor allem an der Kapuzinerkresse durchgeführt. Die erste wissenschaftlich grundlegende Analyse erfolgte an den Lotusblättern (W. Barthlott, C. Neinhuis).[7][8] Mitte der 1990er Jahre gelang diesen beiden Autoren auch die erste Umsetzung auf technische Prototypen und die ersten Industriekooperationen. Die Verfahren sind patentiert. Seit Ende der 1990er Jahre haben vor allem Physiker und Materialwissenschaftler das Phänomen intensiv untersucht, und es existieren inzwischen eine sehr umfangreiche Literatur und Dutzende von abhängigen Patenten. Für die Aufklärung des Funktionsprinzips der selbstreinigenden Oberflächen der Lotosblume und ihre Umsetzung in technische Produkte wurden die Arbeiten von Wilhelm Barthlott mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet (1997 Karl-Heinz Beckurts Preis, 1998 Nominierung für den Deutschen Zukunftspreis des Bundespräsidenten, 1999 Philip Morris Forschungspreis, 1999 Deutscher Umweltpreis, 2005 Innovationspreis des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und andere).

Animation zum Thema Lotuseffekt

Computeranimation des Lotuseffekts.
Computeranimation Version 2
Diese Animation im .avi-Format
(Codec: MS-MPEG4 V2)
Diese Animation im .avi-Format
(Codec: MS-MPEG4 V2)

Literatur

Bücher
  • Peter Forbes: The Gecko’s Foot: Bio-inspiration: Engineering New Materials from Nature. W. W. Norton, 2006, ISBN 0-393-06223-6.
Zeitschriftenaufsätze
  • W. Barthlott: Scanning electron microscopy of the epidermal surface in plants. In: Systematics Association’s Special. 41, 1990, S. 69–94.
  • Wilhelm Barthlott, Zdenek Cerman, Anne Kathrin Stosch: Der Lotus-Effekt: Selbstreinigende Oberflächen und ihre Übertragung in die Technik. In: Biologie in unserer Zeit. 34, Nr. 5, 2004, S. 290–296, doi:10.1002/biuz.200410260.
  • P. Forbes: Self-Cleaning Materials. In: Scientific American Magazine. 299, Nr. 2, 2008, S. 88–95.
  • S. Herminghaus: Roughness-induced non-wetting. In: Europhysics Letters. 52, Nr. 2, 2000, S. 165–170, doi:10.1209/epl/i2000-00418-8.
  • Kerstin Koch, Bharat Bhushan, Wilhelm Barthlott: Diversity of structure, morphology and wetting of plant surfaces. In: Soft Matter. 4, Nr. 10, 2008, S. 1943–1963, doi:10.1039/b804854a.
  • Aurelie Lafuma, David Quéré: Superhydrophobic states. In: Nat Mater. 2, Nr. 7, 2003, S. 457–460, doi:10.1038/nmat924.
  • M. Reyssat, D. Quéré: L’effet lotus. In: Pour la science. Nr. 347, 2006, S. 34–40.
  • Andreas Solga, Zdenek Cerman, Boris F. Striffler, Manuel Spaeth, Wilhelm Barthlott: The dream of staying clean: Lotus and biomimetic surfaces. In: Bioinspiration & Biomimetics. 2, Nr. 4, 2007, S. S126–S134, doi:10.1088/1748-3182/2/4/S02.
  • H. C. von Baeyer: The lotus effect. In: The Sciences. 40, 2000, S. 95–106.

Weblinks

 Commons: Lotuseffekt – Album mit Bildern und/oder Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Rolf Froböse: Wenn Frösche vom Himmel fallen. Die verrücktesten Naturphänomene. Wiley-VCH, Weinheim 2007, ISBN 3-527-31659-0, S. 170.
  2. Lotusan
  3. : Textile Beschichtungen: Nanotechnologie macht Stoffe zu Hightech-Gewebe. In: Der Siebdruck. März 2009. Abgerufen am 4. Dezember 2010.
  4. Andreas Morbach: Schwimm-WM: Britta Steffen und das perfekte Rennen. In: Der Tagesspiegel, 1. August 2009. Abgerufen am 4. Dezember 2010. 
  5. W. Barthlott, N. Ehler: Rasterelektronenmikroskopie der Epidermisoberflächen von Spermatophyten. In: Tropische und subtropische Pflanzenwelt. 19, 1977, S. 367–467.
  6. W. Barthlott, E. Wollenweber: Zur Feinstruktur, Chemie und taxonomischen Signifikanz epicuticularer Wachse und ähnlicher Sekrete. In: Tropische und subtropische Pflanzenwelt. 32, Nr. 1, 1981, S. 35–97.
  7. W. Barthlott, C. Neinhuis: Purity of the sacred lotus, or escape from contamination in biological surfaces. In: Planta. 202, Nr. 1, 1997, S. 1–8, doi:10.1007/s004250050096.
  8. C. Neinhuis, W. Barthlott: Characterization and Distribution of Water-repellent, Self-cleaning Plant Surfaces. In: Ann. Bot.. 79, Nr. 6, 1997, S. 667–677 (oxfordjournals.org, abgerufen am 2. November 2008).

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