Mary (Gedankenexperiment)

Mary (Gedankenexperiment)

Marys Zimmer ist ein philosophisches Gedankenexperiment, das Frank Cameron Jackson 1982 in seinem Artikel Epiphenomenal Qualia vorgestellt und 1986 in seiner Abhandlung What Mary Didn't Know erweitert hat. Das Argument, das durch dieses Gedankenexperiment untermauert werden soll, wird häufig als das Wissensargument gegen den Physikalismus bezeichnet, also gegen die Ansicht, dass alles Existente, auch Geistiges, rein physisch ist.

Inhaltsverzeichnis

Das Gedankenexperiment

Das Gedankenexperiment wurde von Frank Jackson ursprünglich wie folgt formuliert:

„Mary is a brilliant scientist who is, for whatever reason, forced to investigate the world from a black and white room via a black and white television monitor. She specializes in the neurophysiology of vision and acquires, let us suppose, all the physical information there is to obtain about what goes on when we see ripe tomatoes, or the sky, and use terms like ‘red’, ‘blue’, and so on. She discovers, for example, just which wavelength combinations from the sky stimulate the retina, and exactly how this produces via the central nervous system the contraction of the vocal chords and expulsion of air from the lungs that results in the uttering of the sentence ‘The sky is blue’. [...] What will happen when Mary is released from her black and white room or is given a color television monitor? Will she learn anything or not?“
„Mary ist eine brillante Wissenschaftlerin, die, aus welchen Gründen auch immer, gezwungen ist, die Welt von einem schwarzweißen Raum aus mithilfe eines schwarzweißen Fernsehmonitors zu untersuchen. Sie spezialisiert sich auf die Neurophysiologie des Sehens und eignet sich, wie wir annehmen wollen, alle physikalischen Informationen an, die verfügbar sind, über das, was passiert, wenn wir reife Tomaten oder den Himmel sehen, und Begriffe wie ‚rot’, ‚blau’, usw. benutzen. Sie entdeckt zum Beispiel, welche vom Himmel ausgehenden Wellenlängen-Kombinationen genau die Netzhaut stimulieren, und wie genau dies mithilfe des zentralen Nervensystems ein Zusammenziehen der Stimmbänder und Ausstoßen von Luft aus der Lunge hervorruft, das zur Äußerung des Satzes ‚Der Himmel ist blau’ führt. [...] Was wird passieren, wenn Mary aus ihrem schwarzweißen Raum gelassen wird oder wenn man ihr einen Farbfernseher gibt? Wird sie etwas lernen oder nicht?“ (Lit.: Jackson 1982, S. 130)

Mit anderen Worten, stellen wir uns eine Wissenschaftlerin vor, die alles weiß, was es in der Wissenschaft der Farbwahrnehmung zu wissen gibt, die aber nie Farbe erlebt hat. Die interessante Frage, die Jackson aufwirft lautet: Lernt diese Wissenschaftlerin etwas Neues, wenn sie zum ersten Mal eine Farbwahrnehmung außerhalb ihres schwarzweißen Gefängnisses hat?

Folgerungen

Sollte Mary etwas Neues lernen, wenn sie ihre erste Farbwahrnehmung hat, so hat dies zwei wichtige Folgerungen: Die Existenz von phänomenalen (geistig erlebten), qualitativen Eigenschaften, Aspekten oder Bewusstseinsgehalten, die man nur erleben kann, sogenannte Qualia. Da Qualia so eng mit geistigem Erleben zusammenhängen und gerade nicht auf physikalische Erklärungen reduzierbar sind (sonst würde Marys optische Spezialisierung ausreichen, um Farben „wirklich zu kennen“), ist dies außerdem ein Argument für die Existenz von Mentalem (genauer für Wissen von mentalen Fakten) und damit gegen den Physikalismus (das manchmal sog. Wissensargument).

Qualia

Erstens existieren, wenn Mary etwas Neues lernt nach einem Farberlebnis, Qualia (die subjektiven, qualitativen Eigenschaften von Erlebnissen). Wenn wir das Gedankenexperiment für gültig halten, so glauben wir, dass Mary etwas gewinnt - dass sie Wissen über eine bestimmte Entität erwirbt, das sie vorher nicht besaß. Dieses Wissen, so argumentiert Jackson, ist Wissen von den Qualia des Rotsehens. Deswegen müsste anerkannt werden, dass Qualia reale Eigenschaften sind, da es einen Unterschied zwischen einer Person gibt, die Zugang zu bestimmten Qualia hat und einer, die nicht über diesen Zugang verfügt.

Das Wissensargument

Zweitens ist, falls Mary etwas neues lernt nach einem Farberlebnis, der Physikalismus falsch. Besonders ist das Wissensargument ein Angriff auf die Behauptung der Physikalisten, dass eine physikalische Erklärung von mentalen Zuständen vollständig sei. Mary mag alles über die Farbwahrnehmung wissen, was die Wissenschaft darüber wissen kann, aber weiß sie, wie es ist die Farbe Rot zu sehen, wenn sie nie diese Farbe gesehen hat? Jackson behauptet, dass sie durch Erleben etwas neues lernt und somit, dass der Physikalismus falsch ist.

„It seems just obvious that she will learn something about the world and our visual experience of it. But then is it inescapable that her previous knowledge was incomplete. But she had all the physical information. Ergo there is more to have than that, and Physicalism is false.“
„Es scheint offensichtlich zu sein, dass sie etwas neues über die Welt und unser visuelles Erleben dieser lernen wird. Aber dann ist es unausweichlich, dass ihr vorheriges Wissen unvollständig war. Aber sie besaß alle physikalischen Informationen. Somit gibt es mehr, als nur diese zu besitzen, und der Physikalismus ist falsch.“ (Lit.: Jackson 1982, S. 130)

Es ist aber wichtig zu bemerken, dass in Jacksons Artikel Physikalismus die erkenntnistheoretische Doktrin bezeichnet, nach der alles Wissen Wissen über physikalische Fakten ist, und nicht die metaphysische Doktrin, nach der alle Dinge physikalische Dinge sind.

Reaktionen

Frank Jackson

Frank Jackson selbst unterstützte anfangs die antiphysikalistischen Folgerungen des Gedankenexperiments von Marys Zimmer. Jackson glaubte an die vollständige Erklärungskraft der Physiologie, daran dass all unser Verhalten von irgendwelchen physikalischen Kräften verursacht ist. Das Gedankenexperiment scheint dagegen die Existenz von Qualia, nicht-physikalischen geistigen Entitäten, zu zeigen. Wenn also, so argumentierte Jackson, dies beides wahr ist, so ist der Epiphänomenalismus wahr, d.h. mentale Zustände werden durch physikalische Zustände verursacht, diese haben aber umgekehrt keinen kausalen Einfluss auf die physikalische Welt. (Lit.: Jackson 1982 & 1986)

Als er das Gedankenexperiment entwarf, war Jackson also Epiphänomenalist. Später lehnte er den Epiphänomenalismus dagegen ab. (Lit.: Jackson 2003) Dies liegt, wie er erörtert, daran, dass Mary „Wow“ sagt, wenn sie das erste Mal Rot sieht, weswegen es Marys Qualia sein müsse, die sie „Wow“ sagen lässt. Dies widerspricht dem Epiphänomenalismus. Da das Gedankenexperiment von Marys Zimmer diesen Widerspruch hervorruft, müsse etwas an ihm falsch sein. Dieser Standpunkt wird häufig als „‚there must be a reply‘ reply“ („‚es muss eine Erwiderung geben‘-Erwiderung“) bezeichnet.

Am Ende von Mind and Illusion (2003) schlägt Jackson vor, dass nur unter falschen Annahmen bezüglich Sinneswahrnehmungen folgt, dass Mary neues Wissen erwirbt. Mit der korrekten Theorie, nämlich einer repräsentationalistischen, folge dies nicht. Nur wenn Repräsentationalismus angenommen wird, kann außerdem die überzeugendste Reaktion auf das Beispiel entwickelt werden: die u.a. von Nemirow und D. Lewis vorgeschlagene, dass Mary eine neue Fähigkeit (ability) erwirbt. Damit lässt sich der Physikalismus aufrechterhalten.

Daniel Dennett

Der Philosoph Daniel Dennett bezeichnet das Gedankenexperiment von Mary als eine „intuition pump“, als ein Gedankenexperiment, das einfach zu verstehen und intuitiv eingänglich ist und uns dazu ermutigt seine Voraussetzungen allzu leichtfertig misszuverstehen und einfach unserer Intuition zu verfallen, dass der Ausgang des Gedankenexperiments „offensichtlich“ der ist, dass Mary etwas neues lernen wird bei ihrem ersten Farbexperiment. In seiner Monographie „Consciousness explained“ schreibt Dennett hierzu:

„The crucial premise is that ‚She has all the physical information.‘ That is not readily imaginable, so no one bothers. They just imagine that she knows lots and lots — perhaps they imagine that she knows everything that anyone knows today about the neurophysiology of color vision. But that's just a drop in the bucket, and it's not surprising that Mary would learn something if that were all she knew.“
„Die ausschlaggebende Prämisse ist, dass ‚sie alle physikalischen Informationen hat‘. Das lässt sich nicht leicht vorstellen, weswegen niemand zögert. Sie stellen sich einfach vor, dass sie sehr viel weiß - vielleicht stellen sie sich vor, dass sie alles weiß, was heute überhaupt irgendjemand über die Neurophysiologie des Farbsehens weiß. Aber das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und es ist nicht überraschend, dass Mary etwas neues lernen würde, wenn das alles wäre, was sie wüßte.“ (Lit.: Dennett 1991, S. 399)

Wir dürfen also, so Dennett, von unserem heutigen Wissen und aus unserer Not bei der Schließung der Erklärungslücke, nicht abschätzig auf das Wissen von Mary schließen. Wir können uns im Moment nicht vorstellen, wie ein solches Wissen aussieht, aber wenn wir Mary wirklich zubilligen alles zu wissen, was verfügbar sein kann an physikalischen Wissen, so dürfen wir uns dabei jemanden, der absolut alles besitzt, was es gibt, nicht als jemanden vorstellen, der einfach „nur“ verdammt reich ist. Dennett tritt entschieden dagegen ein, dass es „offensichtlich“ sei, dass Mary bei ihrer ersten Farbwahrnehmung etwas neues lernt; dies würde einem von der Art suggeriert, wie das Gedankenexperiment in der Regel präsentiert werde. Er schlägt dem Betrachter stattdessen vor, sich vorzustellen, wie Mary nach ihrer Freilassung eine gelbe und eine blaue Banane präsentiert wird, um sie damit zu testen, und dass sie diesen Test mit Bravour besteht. Dabei ist weniger wichtig, wie sie dies im Detail tut, sondern nur, dass sie es tut. Dieser alternative Ausgang des Experiments, so Dennett, würde zwar nicht beweisen, dass Mary nichts neues lernt, aber dass der üblich nahegelegte Ausgang des Experiments nicht notwendig zeigen würde, dass sie etwas neues lernen müsse. Für Dennett ist Jacksons Gedankenexperiment daher ein

„classic provoker of Philosophers' Syndrome: mistaking a failure of imagination for insight into necessity.“
„klassischer Hervorrufer des Syndroms der Philosophen: das Verwechseln einer Unfähigkeit, sich etwas vorzustellen, mit der Einsicht in Notwendigkeit.“ (Lit.: Dennett 1991, S. 401)

Diese Position wurde von Dennett auch in „What RoboMary Knows“ (Lit.: Dennett 2003) dargestellt.

Die Debatte, die durch dieses Gedankenexperiment ausgelöst wurde, war zuletzt Inhalt einer Sammlung von Essays - There's Something About Mary (2004) - mit Erwiderungen führender Philosophen, wie Daniel Dennett, David Lewis, and Paul Churchland.

Siehe auch

Literatur

  • Daniel Dennett: Consciousness Explained, Little Brown and Co, Boston 1991, ISBN 0316180653.
  • Daniel Dennett: What RoboMary Knows. In: Torin Alter (Hrsg.) Knowledge Argument, 2003. Online-Version
  • Frank Cameron Jackson: Epiphenomenal Qualia. In: Philosophical Quarterly 32, 1982, S. 127-136. Online-Version (Archivversion vom 31. Dezember 2007) im Internet Archive
  • Frank Cameron Jackson: What Mary Didn't Know. In: Journal of Philosophy 83, 1986, S. 291-295.
  • Peter J. Ludlow, Yujin Nagasawa und Daniel Stoljar (Hrsg.). There’s something about Mary: essays on phenomenal consciousness and Frank Jackson’s knowledge argument, MIT Press, Cambridge (Massachusetts) 2004, ISBN 0262621894 (paperback), ISBN 0262122723 (hardcover).

Weblinks

 Commons: Mary's room – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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