Negro Spiritual

Negro Spiritual

Negro Spiritual ist eine Musikrichtung, die in den USA mit Beginn der Sklaverei im 16. Jahrhundert entstanden ist. Die Spirituals sind als Wurzel des Gospels anzusehen.

Inhaltsverzeichnis

Inhalte

Die überlieferten Spiritual-Texte sind fast ausschließlich religiösen Inhalts und erzählen von dem Leben geschlagener, geschundener und sehnsüchtiger Menschen (der Sklaven). Die Texte erzählen von der Hoffnung dieser Menschen und ihrem Glauben an Gott. Die emotional klingenden Spirituals beschreiben meist Situationen aus dem Alten Testament, die denen der Sklaven ähneln. Sie identifizierten sich besonders mit dem "erwählten Volk" Israel, das aus der Gefangenschaft fliehen konnte, da diese Analogie ihnen half, sich mental gegen die Abwertung durch das Sklavereisystem zu wehren. Die Traurigkeit erklärt sich nicht allein aus den prekären Lebensbedingungen der afroamerikanischen Sklaven, sondern auch aus der Trauer um Angehörige, die sie insbesondere während der Deportationswelle der Zweiten Mittelpassage zu Tausenden verloren haben. Im Mittelpunkt vieler Texte stehen mutterlose Kinder und verwaiste Eltern.[1] Es gab jedoch auch Liebeslieder und satirische Texte, die die Lebenswelt der Sklaven oder die Sklavenhalter parodierten, sowie Texte, die in versteckter Form Neuigkeiten über den Abolitionismus verbreiteten.

Die Entstehungsgeschichte des Spirituals

Im Jahre 1619 trafen die ersten aus Afrika verschleppten Sklaven im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia ein. Sie wurden auf den großen Tabak- und Baumwoll-Plantagen zur Zwangsarbeit eingesetzt. Diese Arbeit war hart, kleinste Vergehen wurden streng und brutal geahndet. Die Bestrafung mit der Peitsche war üblich und alltäglich.

Die tiefe Verwurzelung des christlichen Glaubens in der weißen Bevölkerung erklärt die Skrupel, Christen als Sklaven zu halten. So erklärt sich auch, warum niemand auch nur das geringste Interesse hatte, diese Menschen zu missionieren. Man hätte sie nicht mehr als Sklaven halten und einsetzen können. Diesem „Dilemma“ entkamen die Sklavenhalter durch ein Gesetz im Jahr 1667, welches festlegte, dass der Übertritt eines Sklaven zum Christentum an dessen sozialer Stellung nichts änderte.

Schon vor Verabschiedung dieses Gesetzes gingen die Schwarzen mit ihren Besitzern in die Gottesdienste der christlichen Kirchen, wobei die inhaltliche Gestaltung des Gottesdienstes sich nach den Vorstellungen der weißen Oberschicht richtete. Nach 1667 änderte sich dies langsam. So kamen die Gottesdienste der Methodisten und Baptisten durch ihre bodenständige Art bei den Sklaven besonders gut an. Die Leidensgeschichte Jesu berührte sie zunehmend. Sie identifizierten sich damit und nutzten andererseits eine der wenigen ihnen erlaubten Ausdrucksmöglichkeiten, ihre Anliegen zu formulieren. Diese versteckten sie hinter christlichen Metaphern. Diese Doppeldeutigkeit der Sprache ist bis heute typisch für afroamerikanische Musikstile. Die Afrikaner brachten auch Einflüsse ihrer Heimatkulturen mit in die vorhandene weiße Kirchenmusik: ihre Überlieferungen, ihren Mehrgottglauben und die religiöse Ekstase, aber auch musikalische Elemente wie die Polyrhythmik und andere Töne als die der europäischen Tonleiter (Blue Notes).

So entstanden eigenständige schwarze Kirchen und die afrikanische Religiosität vermischte sich mit der christlichen Lehre. Da Musik, Tanz und Gesang untrennbar mit dem afrikanischen Alltag verbunden waren, wurden sie zu einem wichtigen Bestandteil der schwarzen Gottesdienste. In der rhythmischen Zwiesprache des Predigers mit der Gemeinde (Call and Response) entwickelten sich spontan Lieder, die einen Bibeltext als zentrales Element hatten. Die Spirituals wurden auch im Alltag gesungen. Sie entstanden in freier Improvisation und wurden mündlich überliefert.

Typisch war ein fließender Übergang von Predigt zu Musik[2]: Die mit gehobener Stimme vorgetragene Predigt eines Laienpredigers wurde von der Gemeinde mit "Moans", d.h. Ausrufen wie "Amen" oder "Oh Lord" begleitet, die nach und nach in einen meist synkopierten gemeinsamen Rhythmus übergingen, der durch Schrittfolgen oder Klatschen verstärkt wurde. Auf dieses rhythmische Fundament konnten nun einzelne Gemeindemitglieder ihre "Calls", d.h. emotionale Aussagen oder Bibelstellen rufen, die von dem Rest der Gemeinde mit "Responses" beantwortet, d.h. ergänzt oder teilweise wiederholt wurden. Spirituals entstanden also aus einer Mischung aus individueller und gemeinsamer Improvisation auf der Basis allen bekannter rhythmischer Figuren aber auch biblischer Texte. Ihrem improvisierten Ursprung gemäß waren die Spirituals, wenn sie einmal entstanden waren, auch nicht statisch, sondern konnten je nach Situation und Kontext in Tempo etc. abgewandelt werden.

Die Vielschichtigkeit der corn ditties („Mais-Liedchen“), wie die frühen Spirituals im ausgehenden 18. Jahrhundert genannt wurden, lässt unterschiedliche Deutungen zu. Zum einen stehen Anspielungen auf die soziale Situation neben der Jenseitsgläubigkeit. Der Aufruf zum Protest steht neben der Sehnsucht nach Freiheit. Der Glaube an Jesus steht neben dem Bedürfnis nach einer Errettung aus der Sklaverei.

Sobald die weiße Herrschaft Elemente der Spirituals als heidnisch erkannte, wurden diese verboten. So verschwanden der Tanz, die Fetische und Altäre. Auch das Trommeln war zumeist verboten, da die weißen Sklavenhalter darin eine Form der Konversation sahen, die sie nicht verstanden. So wurde es durch das bekannte Klatschen oder Stampfen ersetzt oder den Trommeltanz, bei dem mit einem Trommelschläger in der Hand auf einem Bein gehüpft wird.

Spiritual als Kommunikationsmittel

In den rund 250 Jahren der Sklaverei wurden etwa 10 Millionen Schwarze nach Amerika verschleppt. Die unmenschliche Unterdrückung der afrikanischen Bevölkerung in den USA führte zu geplanten Aufständen gegen die Sklaverei. Zwischen 1670 und 1865 gab es 130 bewaffnete Aufstände durch Sklaven, die aber weitgehend blutig niedergeschlagen wurden. Der Wunsch der Befreiung war unter der schwarzafrikanischen Bevölkerung immer präsent. Allerdings war der Weg aus dem Süden ins freie Kanada weit und beschwerlich. Ab 1838 organisierten Gegner der Sklaverei die Underground Railroad – einen Fluchtplan mit Schutzhäusern, Fluchthelfern und geheimen Kommunikationsmitteln, z. B. verschiedenen versteckten Codes, etwa auf den Quilts (kunstvoll dekorierten Flicken-Steppdecken) und in Gesängen. Diese teilten das Wann, Wo und Wie der organisierten Fluchten mit. Es wurde auch eine religiös kodierte Sprache entwickelt. So wurde das Gebiet ohne Sklaverei mit My Home, Sweet Canaan oder The Promised Land umschrieben. Dieses Gebiet lag auf der nördlichen Seite des Ohio River, den man in der verschlüsselten Sprache als „Jordan“ bezeichnete. Die Flüchtlinge wateten durch das Wasser, um die Hunde der Verfolger abzuschütteln (Wade in the Water). In Swing Low, Sweet Chariot steht „Chariot“ für den Großen Wagen, einen Teil des Sternzeichens Ursa Major (Großer Bär), das sich innerhalb eines Tages um den Polarstern herum dreht. Im Frühling, der wohl besten Zeit zur Flucht, ist kurz nach Sonnenuntergang der „Chariot“ an seinem tiefsten Punkt und weist den Weg nach Norden. Berühmt wurde die 29-jährige geflohene Sklavin Harriet Tubman, die 1849 selber Fluchthelferin bei der Underground Railroad wurde. Ihr Codename war „Moses“ – Go down, Moses war ihr Erkennungszeichen. Manche Spirituals waren auch ganz einfach ein Ruf nach Freiheit und Aufforderung zur Flucht (Steal Away). Diese Vermischung von religiösen und weltlichen Aussagen sowie das Singen der überwiegend religiösen Spirituals in weltlichen Kontexten wurde jedoch nicht als Profanierung verstanden sondern entsprach eher den in vielen afrikanischen Religionen üblichen fließenden Übergang zwischen Alltagswelt und Religion. Ein direktes Zusammentreffen mit Gott ist daher Bestandteil vieler Spiritual-Texte (z.B. in "My Lord What a Mourning": I'm going to live with God).

Musikalische Merkmale

Der afroamerikanische Spiritual übernimmt wesentliche Merkmale der afrikanischen Musikkultur. Die Musik der Afrikaner ist zur Zeit vor der Entstehung der Negro Spirituals im Gegensatz zur europäischen Musikkultur sehr improvisatorisch und baut hauptsächlich auf der Pentatonik auf. Während dieser urafrikanischen Musik eine Harmonielehre wie die der Europäer fremd ist, wird eine gesangliche Mehrstimmigkeit durch Stimmen im Terzabstand erreicht. Später nach Anpassung an die christliche Religion wurden auch europäische Musikmerkmale wie die Verwendung von Dur und Moll sowie die typischen harmonischen Zusammenhänge übernommen. Neben der Verwendung der Stimme wurde und wird in Afrika häufig von Schlaginstrumenten Gebrauch gemacht, die aber während der Sklaverei in den USA aufgrund der begründeten Angst, die Sklaven könnten die Instrumente zur Informationsübermittlung über weitere Strecken verwenden, verboten wurden. Aus diesem Grund nutzten die afrikanischen Sklaven vermehrt das Klatschen und das Fußstampfen, um einen ähnlichen Klangeffekt zu erreichen. Wesentliches Merkmal der afroamerikanischen Spirituals ist das Call-Response-Prinzip (Ruf-Antwort), welches sich aus den christlichen Ritualen und Gottesdiensten ergibt: Wie der Pfarrer und die Gemeindemitglieder in der Kirche singt der Solist vor und der restliche Chor antwortet musikalisch. Die Melodien der Spirituals setzen sich häufig aus sogenannten Patterns, meist ein- bis zweitaktigen Melodiestücken, zusammen, die im Stück verschieden aneinandergereiht und wiederholt werden.

Problematische Quellenlage

Negro Spirituals sind, so es denn überhaupt schriftliche Quellen oder Tondokumente gibt, schwierig zu datieren oder präzise geographisch einzuordnen, da die ersten Sammler auf diese Fakten wenig Wert legten. Sammler wie John Lomax, Howard Odum und Newman White schreckten sogar vor zensierenden Eingriffen nicht zurück, angeblich, um die moralischen Gefühle der Leser nicht zu verletzen. Häufig wurde in frühen Sammlungen auch das ausgewählt, was sich möglichst stark von der "weißen" Musik unterschied. Spätere Veröffentlichungen von Negro Spirituals zeigten im Gegensatz dazu Ähnlichkeiten zwischen Spirituals und "weißer" baptistischer oder methodistischer Kirchenmusik auf, betonten jedoch, dass diese durchaus von den Negro Spirituals beeinflusst sein könnten. Eine scharfe Trennung ist hier nicht möglich.[3]

Negro Spirituals in deutschen Kirchengesangsbüchern

Einige Negro Spirituals sind Bestandteile offizieller deutscher Kirchengesangbücher. Im Evangelischen Gesangbuch (Ausgabe 1996) findet sich (EG 499) Singing with a Sword und wurde zum Lied Erd und Himmel sollen singen. Das weihnachtliche Go, Tell it on the Mountains wurde im protestantischen Gesangbuch zu einem Abendmahlslied (EG 225) und heißt dort: Komm, sag es allen weiter!. Auch in verschiedenen katholischen Gesangbüchern sind solche Adaptionen beobachtbar.

Einzelnachweise

  1. Ira Berlin: Generations of Captivity: A History of African-American Slaves, Cambridge, London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2003, ISBN 0-674-01061-2, S. 219
  2. Lawrence W. Levine: Slave Songs and Slave Consciousness. An Exploration in Neglected Sources.African American Religion. Interpretive Essays in History and Culture. Timothy E. Fulop & Albert J. Raboteau (Hrg.)Routledge. NY und London 1997, S.59
  3. Lawrence W. Levine: Slave Songs and Slave Consciousness. An Exploration in Neglected Sources.African American Religion. Interpretive Essays in History and Culture. Timothy E. Fulop & Albert J. Raboteau (Hrg.)Routledge. NY und London 1997, S.59

Siehe auch

Literatur

  • Theo Lehmann: Nobody Knows..., Negro Spirituals, Koehler & Amelang Leipzig 1991
  • Bernhard Hefele: Jazz-Bibliographie. Verzeichnis des internationalen Schrifttums über Jazz, Blues, Spirituals, Gospel und Ragtime. Saur, München u.a. 1981, ISBN 3-598-10205-4
  • C. H. Dood: History and the Gospel, Oxford 1938, Hooder and Stoughton, englisch,
  • Micha Keding: Geschichte und Entwicklung der Gospelmusik (Volltext)
  • Lothar Zenetti, Peitsche und Psalm, Negrospirituals + Gospelsongs, München 1963, Verlag J.Pfeiffer
  • Christa Dixon, Wesen und Wandel geistlicher Volkslieder, Negro Spirituals, 1967, Jugenddienst-Verlag Wuppertal,
  • Velma Maia Thomas, No Man Can Hinder Me New York 2001, Becker & Mayer Books, ISBN 0-609-60719-7, englisch,
  • Joachim-Ernst Berendt, Spirituals - Geistliche Negerlieder München 1955, Nymphenburger Verlagshandlung.
  • Wilhelm Otto Deutsch, Spirituals und Gospels sind nicht dasselbe, in: Ev. Kirche im Rheinland, "Thema: Gottesdienst", Nr. 27 / 2007, S. 45-51
  • Lawrence W. Levine: Slave Songs and Slave Consciousness. An Exploration in Neglected Sources.African American Religion. Interpretive Essays in History and Culture. Timothy E. Fulop & Albert J. Raboteau (Hrg.)Routledge. NY und London 1997, S. 58-87.

Liederbeispiele

Weblinks


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