Objektive Zurechnung

Objektive Zurechnung

Die objektive Zurechenbarkeit ist im deutschen Strafrecht ein Kriterium der Tatbestandsmäßigkeit zur Einschränkung der durch Kausalität noch in den Bereich des Strafbaren fallenden Handlungen; im Zivilrecht wirkt es ebenso als Korrektiv, um die Haftung zu begrenzen, wird hier jedoch durch die Adäquanzlehre verdrängt. Es geht allgemein darum, festzustellen, ob ein Erfolg, der auf einem vom Täter irgendwie angestoßenen Kausalverlauf beruht, "das Werk des Täters ist". Die Lehre von der objektiven Zurechnung wurde von der Strafrechtswissenschaft im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte entwickelt und nunmehr auch auf die Vorsatzdelikte übertragen. Auch wenn die Rechtsprechung ähnliche Kriterien verwendet, um eine Zurechnung des Erfolges auszuschließen, hat sie die Lehre von der objektiven Zurechnung nicht übernommen.

Die Lehre von der objektiven Zurechnung

Nach gängiger Definition ist ein Erfolg (nur) objektiv zurechenbar, wenn der Täter eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, die sich im tatbestandlichen Erfolg realisiert hat. Vor dem Hintergrund, dass nach der Äquivalenztheorie eine Vielzahl von Handlungen für einen Erfolg kausal sind, dient die Lehre von der objektiven Zurechnung als Korrektiv, um die Tatbestandsmäßigkeit und damit die Strafbarkeit auf die strafwürdigen Tathandlungen zu beschränken. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Strafsachen wendet statt der Lehre von der objektiven Zurechnung das Kriterium der Atypizität eines Kausalverlaufes an, um außerhalb des Tatbestandes liegende Kausalverläufe aus dem Tatbestand auszuscheiden. Die Rechtsprechung gelangt jedoch insoweit regelmäßig zu gleichen Ergebnissen.

Die Prüfung erfolgt laut Definition zweistufig. Maßgeblich ist im ersten Schritt, dass der Täter durch sein Verhalten eine rechtlich missbilligte Gefahr für das tatbestandlich geschützte Rechtsgut geschaffen hat. Anschließend ist festzustellen, ob sich gerade diese Gefahr in der Verletzung des Rechtsgutes verwirklicht hat und diese Rechtsgutsverletzung noch vom Tatbestand der Norm erfasst ist.

Bei folgenden Fallgruppen fehlt es bereits an der Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr:

  • Fehlende Beherrschbarkeit der Gefahr: Sie liegt dann vor, wenn der Schadenseintritt außerhalb des menschlichen Beherrschungsvermögens liegt – so beispielsweise bei Naturkatastrophen oder abergläubisch motivierten Handlungen. Lehrbuchsbeispiel: Neffe N überredet seinen Erbonkel zu einer Flugreise, in der Hoffnung, dass das Flugzeug abstürzt. Tatsächlich kommt der Onkel bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
  • Erlaubtes Risiko: Ein erlaubtes Risiko bzw. sozialadäquates Verhalten ist dann gegeben, wenn zwar eine Gefahr geschaffen wird, diese aber von der Rechtsordnung hingenommen wird, um ein gedeihliches menschliches Zusammenleben überhaupt erst möglich zu machen. Hierunter fallen typischerweise gefährliche Verhaltensweisen wie z.B. der Straßenverkehr, der auch bei Einhaltung aller Verkehrsvorschriften eine Gefahr für Leib und Leben darstellt. Auch der genannte Erbonkel-Fall lässt sich hiermit erfassen. So ist zwar das Überreden zur Benutzung eines Flugzeuges eine Risikoschaffung (es könnte abstürzen), aber dennoch sozialadäquat und daher keine Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr.
  • Eigenverantwortliche Selbstgefährdung: An einer rechtlich missbilligten und damit relevanten Gefahrschaffung fehlt es auch bei einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung. Wer bei einem anderen eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung vorsätzlich oder fahrlässig veranlasst oder fördert, macht sich grundsätzlich nicht strafbar, wenn sich das mit der Selbstgefährdung eingegangene Risiko realisiert. Das folgt aus der Eigenverantwortung jedes Individuums und dem Schluss aus der Straflosigkeit des Suizides. Ist die Selbsttötung straflos, so kann auch eine Teilnahme hieran, die eine vorsätzliche, rechtswidrige Tat voraussetzt, nicht strafbar sein. Gilt dies jedoch bereits für das Erfolgsdelikt, so muss dies erst recht auch für die Teilnahme an einer bloßen Gefährdung gelten. Voraussetzung für ein eigenverantwortliches Handeln ist jedoch, dass nicht der Veranlassende die Situation kraft überlegenem Wissens besser einschätzen konnte oder der sich selbst Gefährdende mangels Einsichtsfähigkeit (Kinder, Willenschwäche) besonders schutzwürdig ist. Achtung: provozierte Fluchtbewegungen sind grundsätzlich keine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Fliehenden!
  • einverständliche Fremdgefährdung: An einer rechtlich missbilligten Gefahr fehlt es nach einigen Ansichten auch dann, wenn die Gefährdung des Opfers zwar nicht durch dieses selbst verursacht wird, aber mit dessen Einverständnis von einem Dritten ausgeht. Beispiele hierfür sind der Memel-Fall des Reichsgerichts, in dem ein Passagier einen Fährmann trotz dessen Weigerung überredete, ihn über die Hochwasser führende Memel überzusetzen. Moderne Fälle bildet bspw. das Autosurfen.

Nach anderer Ansicht ist die einverständliche Fremdgefährdung ein Rechtfertigungsgrund, der nicht bereits die objektive Zurechnung, sondern allenfalls die Rechtswidrigkeit der Handlung ausschließt.

  • Risikoverminderung: An der rechtlich missbilligten Gefahr fehlt es außerdem, wenn ein drohender schwerer Erfolg abgeschwächt oder zeitlich hinausgezögert wird, ohne dass der Täter zur Erreichung dieses Zieles eine neue andersartige Gefahr schafft.
  • Fehlen des Schutzzweckszusammenhangs: An einer rechtlich missbilligten Gefahr fehlt es außerdem, wenn zwar eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen worden ist, der Schutzzweck einer Verhaltensnorm aber nicht betroffen ist. Der Schutzzweckszusammenhang fehlt also, wenn sich im konkreten Erfolg nicht diejenige rechtlich missbilligte Gefahr verwirklicht, deren Schaffung nach dem Schutzzweck der Norm vermieden werden sollte. Beispiel: Der Täter T überfährt trotz größtmöglicher Sorgfalt ein plötzlich auf die Straße geranntes Kind. T war nur deshalb zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort, weil er mehrere Kilometer entfernt eine rote Ampel ignoriert hatte.

Bei folgenden Fallgruppen verwirklicht sich die geschaffene rechtlich missbilligte Gefahr nicht in dem tatsächlich eingetretenen Erfolg:

  • Atypischer Kausalverlauf: Auch wenn der Täter eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, ist ihm der Erfolg nicht objektiv zuzurechnen, wenn dessen Eintritt völlig außerhalb dessen liegt, was nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung noch in Rechnung zu stellen ist. Beispiel: A verletzt B, aufgrund dessen sich B nicht vom Tatort fortbewegen kann und vom Blitz erschlagen wird. Dieser Blitzeinschlag setzt eine völlig neue, unvorhersehbare Kausalkette in Gang, welche dem A nicht mehr zugerechnet werden darf.
  • Dazwischentreten eines Dritten: Knüpft ein Dritter an die gefährliche Handlung an, schafft aber dadurch eine komplett neue Gefahr und damit einen Erfolg, der nicht mehr im Wertungszusammenhang mit der Ersthandlung steht, fehlt es ebenfalls an der Gefahrverwirklichung. Fahrlässiges Dazwischentreten eines Dritten reicht dabei nicht aus.
  • Rechtmäßiges Alternativverhalten: Ebenso ist der Erfolg nicht zurechenbar, wenn er in seiner konkreten Form auch bei rechtmäßigem Verhalten des Täters eingetreten wäre. Bei Fahrlässigkeitsdelikten spricht man in diesem Zusammenhang vom Fehlen des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges. Ein solcher Fall liegt bspw. vor, wenn ein Autofahrer innerorts einen Fußgänger überfährt und dabei die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat. Wäre der Fußgänger auch bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit getötet worden, hat sich in der Tötung des Fußgängers nicht ein unerlaubtes Risiko (das zu schnelle Fahren), sondern ein allgemeines Lebensrisiko (der Straßenverkehr) verwirklicht.

Kritik an der Lehre von der objektiven Zurechnung

Obwohl die Lehre von der objektiven Zurechnung trotz ihrer Ablehnung durch die Rechtsprechung als gesicherter Boden der Strafrechtsdogmatik bezeichnet werden kann, werden auch immer wieder Stimmen laut, die Kritik anmelden.

Die Kritik wendet sich einerseits gegen die Äquivalenztheorie als Kausalitätsmodell und mahnt präzisere Formeln zur Bestimmung der Kausalität an. Mit einer exakteren Kausalitätsbetrachtung erübrige sich dann auch die Lehre von der objektiven Zurechnung. Zum anderen wird angeführt, dass sich die Probleme methodisch besser auf Rechtfertigungsebene lösen ließen. Manche Fallgruppe der objektiven Zurechnung basiere auf den Regeln der (mutmaßlichen) Einwilligung oder lasse sich durch Entwicklung neuer Rechtfertigungsgründe erfassen.

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes

Der Bundesgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bisher nur in den Fällen der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung bzw. -verletzung und der Fahrlässigkeitsdelikte von der Lehre der objektiven Zurechnung Gebrauch gemacht. Im Übrigen prüft er im subjektiven Tatbestand, ob sich die Vorstellung des Täters von der Tat mit dem tatsächlichen Tatverlauf deckt. Nach dieser Formel ist der Erfolg dem Täter dann zuzurechnen, wenn sich seine Vorstellung von der Tat mit dem Tatverlauf deckt oder die Abweichung zwischen der Vorstellung des Täters und dem tatsächlichen Tatverlauf sich in Grenzen der allgemeinen Lebenserfahrung bewegen. Beispiel: Man wirft einen Säugling von der Brücke, damit er im Fluss ertrinkt, dieser stirbt jedoch dadurch, dass er am Brückenpfeiler aufschlägt. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist es vorhersehbar, dass ein Säugling, den man von der Brücke wirft an einem Brückenpfeiler aufschlagen und dadurch sterben kann. Der Erfolg ist dem Täter somit zuzurechnen.

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