Ostertropus

Ostertropus
Die Marien am leeren Grab (unten). Darstellung vom Ende des 12. Jahrhunderts.

Der Quem-quaeritis-Tropus ist der erste überlieferte dialogische Text im Rahmen der mittelalterlichen Liturgie, ein Frage-Antwort-Spiel zwischen Engeln und trauernden Frauen (manchmal Marien genannt) am leeren Grab Christi. Vermutlich wurde er im Gottesdienst antiphonal gesungen, also durch eine Teilung der Singenden in zwei Hälften. Er gilt als Keimzelle des mittelalterlichen Theaters.

Mit den Worten „Quem quaeritis“ (lat.: Wen sucht ihr?) beginnt ein neu gedichteter Zusatz (Tropus) zum Introitus der Ostermesse. Erstmals erscheint er in einem Manuskript des Klosters St. Gallen aus dem 10. Jahrhundert, breitet sich in den folgenden Jahren über ganz Europa aus und wird in späteren Versionen auch zu umfangreichen geistlichen Spielen, später zu Mysterienspielen in der städtischen Öffentlichkeit erweitert (z. B. im Osterspiel von Muri, 1250).

Text

Interrogatio. Quem quaeritis in sepulchro, o Christicolae?
Responsio. Jesum Nazarenum crucifixum, o caelicolae.
Angeli. Non est hic. surrexit, sicut praedixerat. Ite, nuntiate quia surrexit de sepulchro

(Frage: Wen sucht ihr im Grab, ihr Anhängerinnen von Christus? Antwort: Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten, ihr Himmelsboten. Engel: Er ist nicht hier. Er ist auferstanden, wie er es vorausgesagt hat. Geht und verkündet, dass er aus dem Grab auferstanden ist.)

Bedeutung

Das Heilsgeschehen wird hier nicht nur erzählt, sondern die agierenden Figuren melden sich selbst zu Wort. Das ist ein Bruch mit der (vom Neuplatonismus beeinflussten) biblischen und liturgischen Sitte, dass lediglich erzählt, aber das Erzählte nicht im Dialog vergegenwärtigt werden solle (Sagen statt Zeigen).

Der aus mittelalterlicher Sicht irreführende Eindruck der Authentizität, der sich daraus ergeben konnte, dass sich Darsteller und Zuschauer direkt ans Grab versetzt sahen, wird mit der Botschaft des spurlosen Verschwindens Christi aufgewogen und gerechtfertigt. Die Aussage der Engel muss geglaubt werden, ohne dass sich vor Ort Beweisstücke sichern ließen, die den Glauben zum Wissen machen. Die Trauernden sollen von ihrer Spurensuche abgehalten werden und die Botschaft der Engel, die schon stimmen wird, verkündigen.

Durch die Warnung vor dem Zeigen wird das Zeigen also legitim. Diese paradoxe Rechtfertigung des Zeigens wird bestimmend für seine Emanzipation in der europäischen Mediengeschichte.

Ob die Verteidigung der Mimesis durch Aristoteles im 10. Jahrhundert schon zur Kenntnis genommen wurde, lässt sich nur mutmaßen. Sicherlich hat der vergrößerte Stellenwert von Öffentlichkeit und Repräsentativität im Zuge der Vergrößerung von Klöstern und Städten zur damaligen Aufwertung des Zeigens beigetragen.

Siehe auch

Mittelalterliches Theater, Vanitas, Erzähltheorie


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