Politische Kultur

Politische Kultur

Politische Kultur ist ein politikwissenschaftlicher, soziologischer und historischer Fachbegriff, mit dem die Verteilung aller kognitiven, emotionalen und beurteilenden (evaluativen) Einstellungen bezüglich politischer Fragestellungen, insbesondere Einstellungen zur generellen Ordnung, Organisation des politischen Systems in einer Gesellschaft und zur eigenen Rolle im System bezeichnet wird.

Die politische Kultur eines Staates oder von Teilen seiner Bevölkerung kann verschiedene Formen annehmen, wenn z. B. die überwiegende Mehrheit eine demokratische politische Ordnung präferiert, ist die politische Kultur als "demokratisch" zu bezeichnen, wobei mehrere Formen demokratischer politischer Kultur denkbar sind. Wenn politische Kultur und politische Ordnung eines Staates deutlich und langfristig differieren, kann das zu schwerwiegenden Legitimationsproblemen des Staates und damit zu seiner Destabilisierung führen. Es bestehen auch Auswirkungen auf die Integration und Partizipation der Gesellschaftsmitglieder.

Inhaltsverzeichnis

Begriffsgeschichte

Der Begriff Politische Kultur stammt aus den Vereinigten Staaten und gilt in der Forschung allgemein als wertfrei. Im allgemeinen Sprachgebrauch in Deutschland existiert allerdings eine lediglich positive Verwendung des Begriffs für einen stilvollen und moralischen Umgang mit der politischen Macht, der entweder gebilligt wird oder einem abgesprochen werden kann.

Die "Civic-Culture"-Studie

Erstmals führten Gabriel Almond und Sidney Verba den Begriff political culture in die Politikforschung ein. In den 1950er Jahren versuchten sie die Frage zu klären, weshalb einige junge Demokratien kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zerfielen, sich aber andere Systeme mit gleichem institutionellem Design und sozioökonomischem Entwicklungsstand langfristig etablieren konnten. Eine internationale Studie sollte die grundlegende Annahme Almonds und Verbas belegen, dass für den Bestand eines politischen Systems eine gewisse Kongruenz zwischen politischer Kultur und politischem System nötig sei. Die Wissenschaftler definieren politische Kultur folgendermaßen:

„The political culture of a nation is the particular distribution of patterns of orientation toward political objects among the members of the nation.“

Gabriel Almond/Sidney Verba[1]

Dabei behaupten Almond und Verba, dass seitens der Bürger allgemein vier Orientierungen im Verhältnis zum politischen System existieren.

  1. allgemeine Einstellung gegenüber Aufbau und Struktur des politischen Systems
  2. Einstellung gegenüber den Inputmöglichkeiten des politischen Systems (Einschätzung der Teilhabechancen der Bürger)
  3. Einstellung gegenüber den Outputfähigkeiten des politischen Systems (Bewertung der Ergebnisse der Politik)
  4. Selbstwahrnehmung innerhalb des politischen System.

Das Ergebnis der kollektiven Abfrage dieser Orientierungen samt statistischer Auswertung führt die die beiden Wissenschaftler zur Bildung von drei idealtypischen Kulturen:

Objekte der Orientierung Aufbau und Struktur des Systems Inputmöglichkeiten Outputfähigkeiten Selbstwahrnehmung
parochiale Kultur - - - -
Untertanenkultur + - + -
partizipierende Kultur + + + +

+ bedeutet das überwiegende Vorhandensein dieser Orientierung in der Bevölkerung, - bedeutet das überwiegende Fehlen dieser Orientierung in der Bevölkerung.

Als Beispiel für eine parochiale politische Kultur galt den Politikwissenschaftlern jene von Mexiko. In Deutschland fanden sie eine Untertanenkultur vor. Mit der Veröffentlichung ihrer Studie 1963 sprachen sich Almond/Verba eindeutig für eine politische Mischkultur aus parochialen, partizipativen und Untertanen-Elementen als Idealtypus aus. Als Vorbild sollten die politische Kultur der USA sowie Großbritanniens angesehen werden.

Ausgehend von dieser Begrifflichkeit erfolgten Weiterentwicklungen des Konzeptes der politischen Kultur durch Seymour M. Lipset und David Easton. Im deutschsprachigen Raum sind die Konzepte von Dieter Fuchs zu erwähnen. Starke Beachtung fand dabei insbesondere das Konzept der politischen Unterstützung von David Easton.

Karl Rohe

An der Civic-Culture-Studie ist häufig ihr lediglich quantitativer Charakter kritisiert worden. Karl Rohe hat demgegenüber einen qualitativen Begriff von politischer Kultur ins Feld geführt.

Das Konzept der politischen Kultur ist dabei vornehmlich ein Makrokonzept, welches auf aggregierte Individualdaten (aus Umfragen) zurückgreift und somit die Mikroebene einbezieht. Mit der politischen Kultur setzt sich die Politische Kulturforschung auseinander, welche ein Teilbereich der Politikwissenschaft ist. Breite Anwendung erfährt es durch die Vergleichende Politikwissenschaft.

Literatur

  • Gabriel Almond, Sidney Verba: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton 1963, ISBN 0-8039-3558-7.
  • Gabriel Almond, Sidney Verba: The Civic Culture Revisited. Boston/Toronto 1980, ISBN 0-8039-3560-9.
  • Samuel H. Barnes, Max Kaase: Political Action - Mass Participation in Five Western Democracies. Beverly Hills/London 1979.
  • Wolfgang Bergem: Tradition und Transformation. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Kultur in Deutschland. Mit einem Vorwort von Kurt Sontheimer. Opladen 1993, ISBN 3-531-12495-1.
  • Gotthard Breit (Hrsg.): Politische Kultur in Deutschland. Eine Einführung. Schwalbach/Ts. 2004, ISBN 3-89974-078-5.
  • Dieter Fuchs: The Political Culture Paradigm. In: Russel J. Dalton, Hans Dieter Klingemann (Hrsg.): The Oxford Handbook of Political Behaviour. Oxford/New York 2007.
  • Oscar W. Gabriel: Politische Kultur aus der Sicht der empirischen Sozialforschung. In: Oskar Niedermayer, Klaus von Beyme (Hrsg.): Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland. Berlin 1994.
  • Brigitte Geißel, Virginia Penrose: Dynamiken der politischen Partizipation und Partizipationsforschung - Politische Partizipation von Frauen und Männern. In: gender ...politik...online http://web.fu-berlin.de/gpo/geissel_penrose.htm , 2003
  • Dieter Gosewinkel, Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.): Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit. In: WZB-Jahrbuch 2007. Edition Sigma, Berlin 2008.
  • Martin Greiffenhagen, Sylvia Greiffenhagen (Hrsg.); Katja Neller (Red.): Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage. Wiesbaden 2002, ISBN 3-531-13209-1.
  • Gert Pickel: Jugend und Politikverdrossenheit. Zwei Kulturen im Deutschland nach der Vereinigung. Opladen 2002. (Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas (Band 2))
  • Susanne Pickel, Gert Pickel: Politische Kultur- und Demokratieforschung. Grundbegriffe, Theorien, Methoden. Eine Einführung. Wiesbaden 2006, ISBN 3-8100-3355-3.
  • Gert Pickel, Detlef Pollack, Olaf Müller, Jörg Jacobs: Osteuropas Bevölkerung auf dem Weg in die Demokratie. Repräsentative Untersuchungen in Ostdeutschland und zehn osteuropäischen Transformationsstaaten. Wiesbaden 2006, ISBN 3-8100-3615-3. (Politische Kultur in den neuen Demokratien Europas (Band 1))
  • Detlef Pollack, Jörg Jacobs, Olaf Müller, Gert Pickel: Political Culture in Post-Communist Europe. Attitudes in New Democracies. Aldershot 2003.
  • Karl Rohe: Politische Kultur - Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts. In: Oskar Niedermayer, Klaus von Beyme (Hrsg.): Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland. Berlin 1994.
  • Samuel Salzborn (Hrsg.): Politische Kulturforschung: Forschungsstand und Forschungsperspektiven. Frankfurt a. M. 2009, ISBN 978-3-631-58019-6.
  • Kurt Sontheimer: Deutschlands Politische Kultur. München 1990, ISBN 3-492-11289-7.
  • Kurt Sontheimer: So war Deutschland nie: Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik. München 1999, ISBN 3-406-44669-8.
  • Bettina Westle, Oscar W. Gabriel (Hrsg.): Politische Kultur. Eine Einführung. Baden-Baden 2009, ISBN 978-3-8329-3539-9.

Weblinks

Einzelnachweis

  1. vgl. Almond, Gabriel/Verba, Sidney: The Civic Culture. Boston 1963. S. 14f.

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