Sangspruchdichtung

Sangspruchdichtung

Unter dem Begriff Spruchdichtung (genauer: Sangspruchdichtung) lassen sich allgemein die Lieder und Gedichte des Mittelalters zusammenfassen, die sich thematisch und formal vom eigentlichen Minnesang abgrenzen. Dabei ist eine stark didaktische Ausrichtung nicht zu verkennen.

Inhaltsverzeichnis

Abgrenzung

Die Sangspruchdichtung unterscheidet sich im Wesentlichen im gesungenen Vortrag von der Spruchdichtung. Rein formal kann Spruchdichtung und Sangspruchdichtung zwar als einheitliche lyrische Subgattung gesehen werden. Texte, von denen mit hoher Sicherheit angenommen werden kann, dass sie gesungen vorgetragen wurden, gehören streng genommen aber zur Sangspruchdichtung.

Allgemeines

In Bezug auf die Edition von mittelalterlicher Dichtung lässt sich bei genauerem Hinsehen ein gewisses editorisches Desinteresse an der Sangspruchdichtung feststellen. Helmut Tervooren listet lediglich ein einziges Werk auf, nämlich Friedrich Heinrich von der Hagens Ausgabe, die Anfang des 19. Jahrhunderts entstand, das mit mehr als einem Dutzend Autoren die bis heute vollständigste Edition der Sangspruchdichtung darstellt. Rückführbar ist dieses fehlende Interesse der Editoren auf die ästhetische Grundhaltung vor allem der Romantik, die sich lieber mit der hohen Minnelyrik (Minnesang) denn mit unpersönlicher und satirischer Spruchdichtung auseinandersetzte.

Sangspruchdichtung findet sich in folgenden Handschriften (Auszug):

  • in der Kleine Heidelberger Liederhandschrift (UB Heidelberg, cpg 357), etwa 1275
  • in der Heidelberger Liederhandschrift cpg 350 (UB Heidelberg, cpg 350), um 1300 und 2. Viertel des 14. Jahrhunderts
  • in der Große Heidelberger Liederhandschrift (UB Heidelberg, cpg 848), Manessenhandschrift, Anfang 14. Jahrhundert, 140 Autoren namentlich aufgelistet
  • in der Würzburger Liederhandschrift (UB München, 2° Cod. ms. 731), ab 1345
  • in der Weimarer Liederhandschrift (Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Cod. Quart 564), 2. Hälfte des 15. Jh., mit Autoren wie Frauenlob und Walther von der Vogelweide, (auf Papier)
  • in der Kolmarer Liederhandschrift (München, Bayrische Staatsbibliothek, Cgm 4997), um 1460 vermutlich in Mainz oder Speyer entstanden, enthält 940 Lieder, (auf Papier)
  • in der Jenaer Liederhandschrift (UB Jena, etwa 1320 - 1350 entstanden / Sangsprüche bis zu 100 Jahre älter. 56 x 41 cm, Prachtausgabe mit Noten. 28 Dichter)

Dichterbild

Die Dichter nannten sich selbst in ihren Werken sänger, singer, tihter, ratgeber, lerer oder meister. Schon diese Bezeichnungen lassen einen Schluss auf ihre sozialen und künstlerischen Funktionen zu, die vor allem didaktischer Natur waren. Die Sangspruchdichter führten kein sesshaftes Leben, sie waren Fahrende, zumindest bis zum 13. Jahrhundert, in dem dann eine gewisse Bindung an Städte und Höfe einsetzt. Deutlich abzulesen sind ihre gegenseitigen Konkurrenzkämpfe, die sich in Form von Dichterfehden manifestierten, zum Beispiel an diesem Ausschnitt:

„des kunst ist gar kleine/ der rehter kunst nie teil gewan/ was kann der? saget mir daz/ Ein affe, ein snudel, ein gouch, ein rint/ bistu den ich da meine/ da bi an allen sinnen blint/ des trage ich uf dich haz/ Ich nente dich wol, wolt’ ich ez tuon/ du sanges lügeneare/ din kunst ist kranker wan ein huon“

Sangspruchdichter sind generell abhängig von ihren Auftraggebern und Gönnern. Eine Stelle aus dem Ausgabenverzeichnis des Passauer Bischofs zeigt, dass abgestuft Kreuzfahrer, dann Pilger, Schüler, Spielleute und zuletzt der Dichter Walther ein Honorar bekommen. Walther erhält nach diesem Verzeichnis 5 solidi longi, was für die Verhältnisse seiner Zeit äußerst großzügig bemessen ist. Die milte, also die Freigiebigkeit der Gönner und des Publikums der Dichter wurde von ihnen immer wieder gefordert und einige Textstellen zeigen, dass die Sangmeister auch immer wieder darauf aufmerksam machten, dass sie zu bezahlen seien und sich dafür bedankten. Wie bei Walther deutlich wird, war er so wie seine Kollegen wohl sehr viel unterwegs: „von der seine unz an die muore, von dem pfâde unz an die trâben“ (Von der Seine bis zur Muore in der Steiermark, vom Po bis zur Trave bei Lübeck)

Kunstbegriff

Der Kunstbegriff der Dichter ist ein spezifischer. Einerseits scheint die Beziehung zwischen Kirche und Dichterstand nicht unbelastet zu sein, weil die Kirche den Dichtern, als Vertreter der weltlichen Vitalität, der Musik, Sexualität, Komik und des Tanzes, gespannt gegenüber steht. Dennoch steht für die Dichter an erster Stelle des Kunstbegriffes Gott: Kunst soll…

  • Gott und der Welt dienen
  • zur Tugend führen
  • Kurzweil schaffen
  • Kunst gründet sich in wisheit
  • Kunst will leren
  • dient der warheit
  • hat ihren Grund bei Gott

Publikum

Adressaten der Sangspruchdichtkunst sind Adelige, Laien und Geistliche. Dabei wenden sich die Dichter an eine „qualifizierte und repräsentative Öffentlichkeit“ (Tervooren 41ff). Teilweise lassen sich in den Werken auch Klagen der Dichter über zu wenig Freigiebigkeit des Publikums erkennen. Zum Beispiel bei Walther, wenn er schreibt: daz man mich bî sô rîcher kunst lât alsus armen. (W. v. d. Vogelweide)

Definition und Abgrenzung

Unter dem Begriff Spruchdichtung lassen sich allgemein die Lieder und Gedichte des Mittelalters zusammenfassen, die sich thematisch und formal vom eigentlichen Minnesang abgrenzen. Dabei ist eine stark didaktische Ausrichtung nicht zu verkennen. Die Themen dieser Dichtungsart reichen von Religion über Ethik, Moral, Totenklage, Fürstenpreisung- und Tadel, der Kritik an weltlichen und kirchlichen Missständen, der Satire und Polemik bis zur Kritik an Künstlerkollegen, die Dichterfehde also. Der Vortrag dieser Dichtungsform unterschied sich zu Beginn nicht vom Minnesang. Die lyrischen Werke wurden gesungen. Der Ursprung der Bezeichnung Sang-Spruchdichtung zeugt noch von dieser Anfangsphase. Verfasser waren vornehmlich Nichtadelige, im Gegensatz zum Minnesang, der von Fahrenden und Adeligen gleichermaßen behandelt wurde, also ständeübergreifend seinen Anklang fand. Spruchdichtung ist allerdings kein Zeitvertreib, sondern die Lebensgrundlage und der Broterwerb für die Dichter, zählt zur Gebrauchslyrik und wurde somit einigermaßen professionell betrieben und häufig in Form von Auftragswerken angefertigt. Die Grenzen zum Minnesang sind aber nicht immer eindeutig zu ziehen. Entscheidend für die Spruchdichtung waren die Werke von Walther von der Vogelweide, der sie von 1198 bis etwa 1230 zu einem Instrument der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung machte. Zu unterscheiden ist zwischen dem Sprechspruch, dessen Intention die didaktische, lehrhafte, sachliche und moralisierende Belehrung ist, die sich wenig persönlich gestaltet. Der Sangspruch hingegen agiert politisch, religiös, persönlich gefärbt, und stellt einen Bezug zwischen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen her.

Themen und Inhalte

Walther stellt in seinem Reichston die Frage wie man „zer welte sollte leben“. Wenn auch in dieser Frage selbst im Grunde ein zeitloses christliches Problem angesprochen wird, so ist sie dennoch eine repräsentative Aussage und symptomatisch für die Spruchdichtung. Die Themenauswahl kennt an sich keine Beschränkung, sie korrespondiert aber mit der Auffassung des höfischen Publikums von der Welt und mit den Aufgaben und dem künstlerischen Bewusstsein der Dichter. Dabei ist zu bemerken, dass der Dichter in erster Linie nicht seine persönliche Meinung einzubringen hat, sondern die der Öffentlichkeit, das allgemein Gültige. Das heißt konkret:

  • christliche Glaubenslehre und allgemeine Wahrheitslehre,
  • Stände- und Herrenlehre,
  • allgemeine und spezifische Fragen einer Laienmoral,
  • die Ethik des höfischen Lebens,
  • Reflexionen über den Zustand der Welt,
  • Naturbetrachtung,
  • Kosmologisches sowie
  • Kunstkritik und Kunstreflexion und
  • Politik

Außerdem sind immer wieder Klagen über das Dasein des fahrenden Dichters zu finden (Walther beispielsweise klagt über sein niedriges Einkommen). Die Klagen laufen meist in einem Muster ab, das die ach so miserable Gegenwart mit der Vergangenheit vergleicht. Das Thema, das sich unablässig durch alle Phasen der Spruchdichtung hindurch zieht ist die Herrenlehre in all ihren Variationen. In solchen Strophen erörtern die Dichter die wichtigsten gesellschaftlichen Voraussetzungen für Herrschaft und wenden sich dabei an Päpste, Kaiser und Fürsten. Die Sangmeister verabsäumen in solchen Werken auch nicht, die Wichtigkeit ihres Berufsstandes zu betonen und den jeweiligen Gönner zu preisen, von dessen Wohlwollen sie ja abhängig sind. Hier sei noch einmal betont, dass Sangspruchdichter nicht nur zu ihrem Vergnügen dichteten, sondern hauptberuflich Gedichte und Lieder schrieben, von dieser Arbeit also leben mussten. Die Themenschwerpunkte bis 1200 etwa bildeten also hauptsächlich Moral und Lebensführung. Mit Walther von der Vogelweide, Bruder Wernher und Reinmar von Zweter gewinnen politische Themen immer mehr an Gewicht.

An Walthers Beispiel lässt sich sehr gut darstellen, was es für einen Dichter in dieser Zeit bedeutet hat, politisch zu schreiben. Die politische Themenauswahl der Dichter lässt sich nicht mit dem heutigen Begriff der Politkritik vergleichen. Walther stand anfangs auf der Seite der Staufer und schrieb für seinen Herrn Konrad. Später allerdings wechselte er zur Seite Ottos IV. und somit zu den Welfen. Dieser politische Wankelmut des Dichters, den man auch als Opportunismus bezeichnen könnte, ist das Produkt der Abhängigkeit der Dichter. Walther schrieb nun einmal für seinen Gönner. Es erübrigt sich also, näher darauf einzugehen, dass der Dichter nur schreiben konnte, was auch im Sinne seines Gönners war.

Helmut Tervooren teilt die Intentionen der Dichter in drei Bereiche:

  • moralisch-didaktische Intention (belehren des Publikums)
  • persönlich-gesellschaftliche Intention (Medium der Selbstdarstellung der Dichter und der Positionierung des Berufsstandes der Dichter in der Gesellschaft)
  • persönlich-existentielle Intention (Medium um bei den Gönnern um lon zu werben)

Form

Anfänglich bedienten sich Minnesang wie auch Spruchdichtung des viertaktigen Verses und einer Verbindung durch Paarreime, die zu eindeutig gebauten Strophen zusammengefasst wurden, deren letzte Verszeile verlängert wurde und so den Schluss signalisierte. Später werden für die Spruchdichtung neue Reimformen eingeführt: der Kreuzreim, der umschlingende Reim sowie der Schweifreim. Während sich für den Minnesang neue Verslängen etablieren, die von 2- bis 8hebigen Versen reichen, bleibt die Sangspruchdichtung noch vorerst der Viertaktigkeit verpflichtet. Typisch sind also:

Versformen:

  • Vierhebige Verse
  • Langzeilen (aus 2 verschiedenwertigen Einheiten mit An- und Abvers)

Kadenzen:

  • männliche als Hauptkadenzen (also Hebung am Ende)
  • weibliche eher selten
  • klingende Kadenzen (Spezifikum mittelalterl. Dichtung: zweisilbiges Wort, Versende auf beschwerter Hebung und Nebenhebung wie bei: ich saz ûf einem stéinè

Reim:

  • Viel weniger Variation als beim Minnesang
  • reiner Vollreim vorherrschend
  • vereinzelt: Assonanzen und unreine Reime

Literatur

  • Egidi, Margreth: Höfische Liebe: Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literarische Verfahrensweisen von Reimar von Zweter bis Frauenlob, Heidelberg 2002
  • Schweikle, Günther und Irmgard: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen, zweite Auflage, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1990
  • Stange, Manfred: Deutsche Lyrik des Mittelalters - zweisprachige Ausgabe: Mittelhochdeutsch - Neuhochdeutsch, Marix Verlag, Wiesbaden 2005 (zweisprachige Texte mit Anmerkungen sowie einem erläuternden Nachwort)
  • Tervooren, Helmut: Sangspruchdichtung, zweite Auflage, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar 2001

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