Scapegoating

Scapegoating

Als Sündenbock wird ein Mensch bezeichnet, dem man die Schuld für Fehler, Misserfolge oder sonstiges Konfliktpotential zuschiebt. Tatsächliche Schuld spielt dabei keine Rolle.

The Scapegoat (Der Sündenbock)
William Holman Hunt (1854)

Inhaltsverzeichnis

Begriffsherkunft

Der Begriff bezieht sich auf eine Darstellung in der Bibel (Levitikus 16, 8-21 f). Am Jom Kippur, dem Tag der Sündenvergebung im Judentum, machte der Hohepriester die Sünden des Volkes Israel bekannt und übertrug sie durch Handauflegen symbolisch auf einen Ziegenbock. Mit dem Vertreiben des Bocks in die Wüste wurden diese Sünden mitverjagt. Das Opferprozedere wird von JHWH dem Mose wie folgt vorgeschrieben:

„Für die beiden Böcke soll er Lose kennzeichnen, ein Los «für den Herrn» und ein Los für Azazel. 9 Aaron soll den Bock, für den das Los «für den Herrn» herauskommt, herbeiführen und ihn als Sündopfer darbringen. 10 Der Bock, für den das Los für Azazel herauskommt, soll lebend vor den Herrn gestellt werden, um für die Sühne zu dienen und zu Asasel in die Wüste geschickt zu werden. .........Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen.“ (Lev 16,8-21 EU)

Der Sündenbock wird somit dem Wüstendämon Azazel geopfert und der andere Bock an JHWH. Theologisch entspricht dieses Bild einem dualistischen Verständnis der Gottesvorstellungen. Auch schadenstiftende Geister müssen wie im Animismus üblich besänftigt werden mit etwas, damit sie einen in Ruhe lassen. Azazel ist dabei ein Verbündeter Satans oder dieser selbst, der auch im Buch Henoch erscheint und dort Verursacher der Verderbnis der Welt vor der Sintflut ist und damit deren Notwendigkeit heraufbeschwört.

Das Bild des segenbringenden Gottes aus der Wüste JHWH ins gelobte Land Kanaan und des verbleibenden schadenstiftenden Gottes in der Wüsteneinöde (Azazel) hat im kanaanitischen Pantheon seine Parallele in der aus Ugarit dokumentierten Darstellung von Baal Hamon als Fruchtbarkeitgott und dem von ihm bekämpften Yam (Lothan) als Meeresgott, welcher Überschwemmungen und sonstige Wassernot bringt. Im griechischen Raum entspricht diese Dualität dem Bild des Herakles und der von ihm besiegten Schlange Ladon, die als Hercules und Draco als Sternbilder am Himmel noch heute sichtbar sind.

Das Bild des Ziegenbockes, der dem Teufel dargebracht wird, ist auch in verschiedenen mittelalterlichen Sagen präsent. Besonders eindrucksvoll ist z.B. diejenige des sogenannten Teufelsstein in der schweizerischen Schöllenenschlucht am Gotthard-Pass. Er soll vom Teufel aus Wut darüber geschleudert worden sein, dass man dem Teufel für den Bau der dortigen ersten Brücke das erste lebende Wesen versprach, das darüber lief. Als der Teufel seine Arbeit geleistet hatte, jagten die Urner Landleute aber statt einer Menschenseele als erstes einen Ziegenbock über die Brücke und hielten ihr Wort, damit kein Schadenzauber für den Wortbruch geschah und keine Menschensseele Schaden nahm.

Die Moral dieser Geschichten lautet, dass auch den Schadengeistern etwas gegeben werden muss, am besten das, was auch zum Nutzen der Menschen ist.

Zur soziologischen Relevanz des Begriffes

Die soziale Rolle des Sündenbocks lässt sich auch einer ganzen Gruppe von Menschen per Attribution zuweisen. Einer umstrittenen Theorie Sigmund Freuds zufolge erklärt das die Entstehung von Vorurteilen: Durch Frustration entstandene Aggressionen in einer Gruppe werden auf eine Außengruppe verschoben, um den Zusammenhalt der eigenen Gruppe zu bewahren. Dies kann auch mittels einer durch Machteliten verbreiteten Ideologie geschehen, die ein Feindbild bewusst entwickelt mit dem Ziel, bestimmte soziale, rassische oder politische Minderheiten im eigenen Land oder auch äußere Feinde zum Sündenbock für aktuelle Krisenerscheinungen zu machen oder von der eigenen mangelnden oder schwindenden Legitimation abzulenken. Eine solche Projektion auf einen Sündenbock kann für die Mehrheitsbevölkerung identitätsstiftende Funktionen bekommen.

Der Soziologe Lewis A. Coser hat 1964 in Sociological Theory den Begriff „Sündenbock“ in Bezug auf die Verschiebung von nicht direkt ausfechtbaren sozialen Konflikten (realistic conflicts) auf abstraktere, aber ausfechtbare Konfliktebenen (unrealistic conflicts) verwendet.

Der Religionsphilosoph René Girard machte in seiner Anthropologie aus dem von ihm so benannten „Sündenbockmechanismus“ (engl. Scapegoating) eine grundlegende Hypothese über die Entstehung der menschlichen Kultur.

Ähnliche Wortbedeutungen

Schwarzes Schaf, Lückenbüßer, Prügelknabe, Watschenmann

Literatur

Anthropologie

  • René Girard: Der Sündenbock, Benziger, Zürich 1988, ISBN 3-545-25069-5
  • Sylvia Brinton-Perera: Der Sündenbock Komplex. Die Erlösung von Schuld und Schatten, Ansata Verlag, Interlaken 1987, ISBN 3-7157-0102-1

Theologie

Politik

  • Lutz Brangsch, Martin Wolfram: Emanzipation statt Sündenbock. Ein politisches Gespräch gegen den Haß auf die anderen, Books on Demand GmbH, 2001, ISBN 3-8311-1783-7

Fiktion

  • Luise Rinser: Der Sündenbock, Fischer, 1962, ASIN B0000BMVC0

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