- Schneetälchen
-
Schneetälchen sind flache Senken und Mulden im Hochgebirge oberhalb der Baumgrenze zwischen 2400 und 3000 Metern NN (alpine Höhenstufe). In diesen Vertiefungen lagert sich Schnee ab, der lange bis in den Sommer hinein liegen bleibt. Der Schnee bringt Dünger in Form von Staub und löslichen Mineralien mit, der von der Luft herangetragen wird und sich über den Winter ansammelt. Die Schneetälchen werden von Pflanzengesellschaften der Schneeböden besiedelt und beherbergen eine an die extremen Bedingungen angepasste Flora und Vegetation mit der Fähigkeit, vor allem mit der kurzen schneefreien Zeit und der stets kühlen Umgebung zurechtzukommen. In Europa sind vor allem Kriechweiden (Salix) kennzeichnend für die Vegetation.
Inhaltsverzeichnis
Standortverhältnisse
Schneetälchen kommen vorwiegend im Silikatgebirge vor; auf Kalk sind sie generell weniger verbreitet. Sie sind durch extreme Standortfaktoren charakterisiert. Die Vegetationsperioden (auch Aperzeit ohne Schneebedeckung) dauern nur wenige Wochen – ein bis maximal vier Monate im Jahr. Im Silikatgebirge ist die Bodenfeuchte durch die Ansammlung von Schmelzwasser ganzjährig sehr hoch. Die Pseudogley-Böden weisen pH-Werte zwischen 4,5 und 6,5 auf. Im Kalkgebirge bilden sich Schneetälchengesellschaften häufig am Fuß von Grobschutthalden, die für Pflanzen kaum zugänglich sind. Wo zwischen den groben Steinen Feinerde eingetragen wird, können Pflanzen Fuß fassen. Der Kalkschutt ist deutlich durchlässiger als der Boden über Silikatgestein und damit trockener. Die pH-Werte liegen durch den Kalkgehalt hier mit 6,5 bis 7 deutlich höher.
Flora und Vegetation
Die Pflanzengesellschaften (Assoziation) der Schneetälchen gehören zur pflanzensoziologischen Klasse der Schneeboden-Gesellschaften (Salicetea herbacea Br.-Bl. et al. 47). Es handelt sich dabei um Moos-, Zwergrasen- und Kriechstrauchgesellschaften, die sieben bis zehn Monate im Jahr schneebedeckt sind. Jahrweise apern sie auch gar nicht aus, d. h. sie werden nicht schneefrei. Wird die schneefreie Zeit zu kurz, so entwickeln sich nur noch Moose. Blütenpflanzen benötigen eine Schneefreiheit von mindestens acht Wochen.
Schneetälchen der Silikatböden
Die Krautweidenflur (Salicetum herbacea Rübel 12) ist eine bodensaure Schneeboden-Gesellschaft insbesondere der alpinen Stufe mit durchschnittlich acht- bis neunmonatiger Schneebedeckung. Die artenarme Gesellschaft beinhaltet Pflanzen mit sehr kleinem Wuchs. Floristisch und ökologisch zeigen die Ausprägungen dieser Gesellschaft in den Alpen große Ähnlichkeit mit den Schneeboden-Gesellschaften in Nordeuropa und der Arktis. Kennart dieser Assoziation ist die Kraut-Weide (Salix herbacea). Weitere Arten sind der Alpen-Gelbling (Sibbaldia procumbens) und das Zwerg-Ruhrkraut (Gnaphalium supinum). Die Zwerg-Soldanelle (Soldanella pusilla) kommt hier als Frühjahrsaspekt rasenartig vor. Sie ist in der Lage, die letzte dünne Eisschicht zu durchwachsen, um an die Oberfläche zu gelangen.
Die Hornkraut-Schneeboden-Gesellschaft (Poo supinae-Cerastium cerastioides (Söyr. 54) Oberd. 57) ist eine Gesellschaft flacher, sehr nasser Schwemmböden und Schneemulden und steht oft in Kontakt mit dem Salicetum herbaceae. Durch eingeschwemmte Feinerde und Humus erfolgt eine Nährstoffanreicherung und ein weicher, sumpfiger Boden. Kennzeichnende Art dieser Gesellschaft ist das Dreigriffelige Hornkraut (Cerastium cerastoides). Ferner wachsen hier das Alpen-Rispengras (Poa alpina) und das Läger-Rispengras (Poa supina) als Nährstoffzeiger. Die Gesellschaft kommt in den Alpen vor.
Die Widertonmoos-Gesellschaft (Polytrichetum sexangularis Frey 22) kennzeichnet eine initiale, moosreiche Schneeboden-Besiedlungsphase sehr langer, neun bis zehn Monate schneebedeckter Mulden. Kennart der fast nur aus Moos bestehenden Assoziation ist das Widertonmoos (Polytrichum sexangulare). Die Gesellschaft kommt außer in den Zentralalpen auch in den skandinavischen Gebirgen vor.
Der Lebermoos-Schneeboden (Anthelietum juratzkanae Rübel 11) besiedelt Standorte, die fast das ganze Jahr, mindestens aber 10 Monate schneebedeckt sind. Die Gesellschaft besteht meist nur aus feuchteliebenden Moosen wie Widertonmoos (Polytrichum sexangulare) und Flechten wie der Safranflechte (Solorina crocea). An Blütenpflanzen kommen die Zwerg-Soldanelle (Soldanella pusilla) und das Zwerg-Ruhrkraut (Gnaphalium supinum) vor. Auf Gletschervorfeldern bildet die Assoziation erste Pionierstadien. Die Gesellschaft findet sich in den Zentralalpen, den Karpaten, den Pyrenäen und auch in Skandinavien.
Schneetälchen der Kalkböden
Der Spalierweiden-Rasen (Salicetum retuso-reticulatae Br.-Bl. 26) ist eine Pioniergesellschaft, die auf Standorten mit sieben- bis achtmonatiger Schneebedeckung lebt. Sie ist eine der artenreichsten Gesellschaften. Assoziationskennart ist die Stumpfblättrige Weide (Salix retusa). Ferner wachsen hier die Netz-Weide Salix reticulata, das Kalk-Blaugras (Sesleria albicans), die Kleinblütige Segge (Carex parviflora) und zahlreiche weitere Arten.
Die Schneeampfer-Flur (Arabido-Rumicetum nivalis (Jenny-Lips 30) Oberd. 57 nom. invers.) wächst in den Alpen auf Standorten mit zehnmonatiger Schneebedeckung. Assoziationskennart ist der Schnee-Ampfer (Rumex nivalis). Ergänzt werden die Bestände vor allem durch den Alpen-Ehrenpreis (Veronica alpina), den Bayerischen Enzian (Gentiana bavarica) und den Alpen-Löwenzahn (Taraxacum alpina). Die Gesellschaft kommt in den Alpen vor und ist in der Schweiz häufiger vorhanden.
Die Gänsekresse-Flur (Arabidetum caeruleae Br.-Bl. 18) wächst in acht bis neun Monate schneebedeckten dolinenartigen Bodeneinsenkungen oder Dolinen. Assoziationskennart ist die Blaue Gänsekresse (Arabis cearulea). Ferner wachsen hier der Mannsschild-Steinbrech (Saxifraga androsacea), der Alpen-Hahnenfuß (Ranunculus alpestris) und die Schwarzrandige Schafgarbe (Achillea atrata). Die Gesellschaft kommt in den Alpen mit einem Schwerpunkt in den Schweizer Alpen vor.
Ökologie
Die Schneetälchenvegetation zeichnet sich durch eine Reihe von Arten mit ökophysiologischen Anpassungen an diesen Standort aus. Sie benötigen ein mehr oder weniger gleichmäßiges Mikroklima. Sie zeigen eine geringe Kälte- und Hitzetoleranz und assimilieren (Photosynthese) bereits bei niedrigen Temperaturen. Die meisten mehrjährigen Arten überwintern mit grünen Blättern und vermehren sich vegetativ durch Kriechsprosse.
Schutz und Gefährdung
Der Tourismus ist eine der stärksten Gefährdungen für die Berglandschaften. Die Gebirgsregionen werden von Wanderern, Mountain-Bikern, Bergsteigern und Skiläufern im Sommer- wie auch im Winterhalbjahr genutzt. Eine direkte Gefährdung geht vor allem von den damit verbundenen baulichen Maßnahmen aus. Durch wegebauliche Erschließungen wie Rast- und Parkplätze, Skilifte und Bergbahnstationen, die zudem Bodenentwässerungs-, Verdichtungs- und/oder Versiegelungsmaßnahmen mit sich bringen, werden den Arten der Schneeboden-Gesellschaften wertvolle Biotopflächen entzogen beziehungsweise der Gesamtbestand nachhaltig geschädigt.
In der Bundesrepublik Deutschland sind Schneetälchen nach § 30 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) gesetzlich geschützte Biotope.
Literatur
- P. Merz: Pflanzengesellschaften Mitteleuropas und der Alpen – Erkennen, Bestimmen, Bewerten. ecomed, Landsberg/Lech 2000, ISBN 3-609-19380-8
- E. Oberdorfer: Süddeutsche Pflanzengesellschaften. Teil I: Fels- und Mauergesellschaften, alpine Fluren, Wasser-, Verlandungs- und Moorgesellschaften. 4. Auflage, Gustav Fischer, Jena, Stuttgart 1998. ISBN 3-437-35280-6
Weiterführende Literatur
- H. Reisigl & R. Keller: Alpenpflanzen im Lebensraum – Alpine Rasen, Schutt- und Felsvegetation. Fischer, Stuttgart 1994, ISBN 3-437-20516-1
Wikimedia Foundation.