Somatoforme Störung

Somatoforme Störung
Klassifikation nach ICD-10
F45.0 Somatisierungsstörung
F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung
F45.2 Hypochondrische Störung
F45.3 Somatoforme autonome Funktionsstörung
F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
F45.8 Sonstige somatoforme Störungen
F45.9 Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Als Somatoforme Störungen werden körperliche Beschwerden bezeichnet, die sich nicht oder nicht hinreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen. Dabei stehen neben Allgemeinsymptomen wie Müdigkeit und Erschöpfung Schmerzsymptome an vorderster Stelle, gefolgt von Herz-Kreislauf-Beschwerden, Magen-Darm-Beschwerden, sexuellen und pseudoneurologischen Symptomen.

Somatoforme Störungen treten bei ca. 80 % der Bevölkerung zumindest zeitweise auf, gehen in der Regel „von selbst“ vorüber und werden kaum beachtet. Bei einigen Personen (die Angaben über die Häufigkeit schwanken zwischen 4 % und ca. 20 %) können sich diese Beschwerden aber chronifizieren und eine zentrale Rolle im Leben einnehmen. Sie gehören zu den häufigsten Störungsbildern bei Patienten von Allgemeinärzten und Allgemeinkrankenhäusern. Mindestens 20 % der Patienten, die einen Hausarzt aufsuchen, leiden an einer somatoformen Störung; aus stationären Abteilungen werden somatoforme Störungen in einer Häufigkeit von 10 bis zu 40 % der Patienten berichtet. Patienten mit somatoformen Störungen gelten traditionell als schwierig beim Hausarzt und als unmotiviert beim Psychotherapeuten. Die Kosten für die Behandlung dieser Personengruppe sind immens und liegen bis zu 14 mal höher als die durchschnittlichen Pro-Kopf-Behandlungsausgaben.

Der Begriff „Somatoforme Störungen“ wurde 1980 in die offiziellen Klassifikationssysteme eingeführt. In der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-10) werden sie in der Kategorie F45 erfasst. Traditionelle Bezeichnungen für Krankheitsbilder aus diesen Kategorien sind z. B. psychogene Störungen, funktionelle Störungen, vegetative Dystonie, allgemeines psychosomatisches Syndrom, Konversionshysterie, Briquet-Hysterie, psychische Überlagerung.

Inhaltsverzeichnis

Ursache, Entstehung

Somatoforme Störungen lassen sich normalerweise nicht auf eine einzige Ursache zurückführen. Vielmehr wird ein Wechselspiel verschiedener biologischer, seelischer und sozialer Faktoren als Auslöser angenommen. Auch genetische Faktoren (z. B. eine verstärkte Reaktionsbereitschaft des vegetativen Nervensystems) werden diskutiert. Wahrscheinlich sind aber insbesondere psychosoziale Faktoren für die Entstehung und den Verlauf somatoformer Störungen von Bedeutung:

  • zu lange anhaltender Stress führt zu Anspannungen oder Fehlsteuerungen innerer Organe
  • ein Teufelskreis von körperlichen Reaktionen, Angst und verstärkter Wahrnehmung körperlicher Symptome
  • körperliche Beschwerden als Folge seelischer Konflikte: meist unbewusste seelische Prozesse (z. B. Angst, Wut, Ärger, Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen) können sich in Körpersymptomen ausdrücken (vgl. Psychosomatik). Patienten mit somatoformen Störungen zeigen in ihren Biographien oft durch eine verwöhnende Erziehung erzeugte persönliche Schwächungen[1] und realitätsferne Gesellschaftsbilder[2], erhöhte Raten an allgemeinen Belastungsfaktoren wie niedriger sozioökonomischer Status, Scheidung, Verlust, Alkoholkrankheit, psychische Störung der Eltern oder eines Elternteils. Darüber hinaus können auch erhöhte Raten an sexueller Traumatisierung oder körperlichem Missbrauch vorliegen.

Symptome

Somatoforme Störungen können sich in einer Vielzahl von Symptomen äußern:

  • im Bereich der Atmung z. B. als Gefühl der Atemhemmung, Globussyndrom, Halsenge, Luftnot
  • im Bereich des Herzkreislaufsystems z. B. Druckgefühl, Stiche, Beklemmungsgefühl in der Brust, Herzstolpern
  • im Magen-Darm-Trakt (Reizmagen und Reizdarm): Übelkeit, Völlegefühl, Bauchschmerzen, Stuhlunregelmäßigkeiten
  • in der Gynäkologie (chronische Unterbauchschmerzen, Pelvipathiesyndrom (Schmerzen, die über sechs Monate anhaltend oder rezidivierend (wiederkehrend) auftreten und unabhängig sind von Geschlechtsverkehr und Zyklus)): Schmerzen im Unterbauch mit Ausstrahlung in Leisten und Kreuzbein
  • in der Urologie (Reizblase, Urethralsyndrom, Prostatodynie): Häufiges und/oder schmerzhaftes Wasserlassen, Gefühl erschwerter Miktion, Schmerzen im Unterbauch/Damm
  • als Somatoforme Schmerzstörung: Anhaltende Schmerzen ohne erklärenden körperlichen Befund.

Häufig handelt es sich um Symptome, die auf eine starke Erregung des autonomen Nervensystems zurückgeführt werden können. Aber auch Fehlfunktionen, die über das nicht-autonome Nervensystem vermittelt sind, wie Zittern und muskulärer Hartspann oder Abweichungen im Hormonsystem sind zu beobachten.

Daneben findet man bei Patienten mit somatoformen Störungen nicht selten andere psychische Störungen, insbesondere depressive Störungen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen.

Diagnose

Die Diagnose einer somatoformen Störung beruht zunächst auf dem Ausschluss einer organischen Verursachung der beklagten Körperbeschwerden. Dazu muss aber eine psychische Diagnostik kommen, die gegenwärtige Affekte, psychische Konflikte, Aspekte der psychischen Struktur, biographische Belastungen und soziale und kulturelle Faktoren berücksichtigt.

Im ICD-10 werden die Somatisierungsstörung, die Undifferenzierte Somatisierungsstörung, die Hypochondrische Störung, die Somatoforme autonome Funktionsstörung und die Anhaltende somatoforme Schmerzstörung unterschieden. Im DSM-IV werden zu den Somatoformen Störungen die Somatisierungsstörung, die Undifferenzierte somatoforme Störung, die Konversionsstörung (im ICD-10 unter F44: dissoziative Störungen klassifiziert), die Schmerzstörung, die Hypochondrie und die Körperdysmorphe Störung (ICD-10: Dysmorphophobie, s. hypochondrische Störung) gezählt.

Somatisierungsstörung und undifferenzierte Somatisierungsstörung

Bei einer Somatisierungsstörung (F45.0) müssen nach ICD-10 über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren anhaltende Klagen über verschiedene und wechselnde körperliche Symptome (mindestens sechs) vorliegen, die nicht vorwiegend vegetativ sind (ansonsten handelt es sich um eine somatoforme autonome Funktionsstörung). Die Symptome können nicht (ausreichend) durch eine körperliche Ursache erklärt werden, was vom Betroffenen jedoch nicht (oder höchstens kurzzeitig) akzeptiert wird. Charakteristisch sind häufige Arztbesuche (mindestens drei), andauernde Selbstmedikation oder das Aufsuchen von Laienhelfern. Typische Symptome sind:

  • gastro-intestinale Symptome (z.B. Bauchschmerzen, Übelkeit, schlechter Geschmack im Mund oder stark belegte Zunge, Erbrechen oder Würgen, Durchfall)
  • kardiovaskuläre Symptome (z.B. Atemlosigkeit ohne Anstrengung, Brustschmerzen)
  • urogenitale Symptome (z.B. Dysurie, unangenehme Empfindungen im oder um den Genitalbereich, Klagen über ungewöhnlichen oder verstärkten vaginalen Ausfluss)
  • Haut- oder Schmerzsymptome (z.B. Klagen über Fleckigkeit oder Farbveränderungen der Haut, Schmerzen in den Gliedern, unangenehme Taubheit oder Kribbelgefühl).

Eine undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1) kann bereits ab einer Dauer von sechs Monaten diagnostiziert werden. Die Anzahl der Symptome oder das Hilfesuchverhalten ist geringer ausgeprägt als bei der Somatisierungsstörung.

Während die Somatisierungsstörung in beiden Diagnosesystemen als prototypische somatoforme Störung gedacht ist, hat sich in der Praxis gezeigt, dass die undifferenzierte somatoforme Störung am häufigsten diagnostiziert wird. Dieser Zustand wird schon seit längerem kritisiert. Daher gibt es Überlegungen in kommenden Versionen der beiden Klassifikationssysteme die Kriterien neu zu definieren. Allerdings gibt es in aktuellen Forschungsartikeln zu somatoformen Störungen dazu noch keine einhellige Meinung.

Hypochondrische Störung

Bei einer hypochondrischen Störung (F45.2) stehen nicht die aktuellen körperlichen Symptome im Vordergrund, sondern die mindestens sechs Monate anhaltende Überzeugung (trotz gegenteiliger Befunde), an einer (oder höchstens zwei) bestimmten schweren körperlichen Erkrankung(en) zu leiden (F45.20). Alternativ kann der Betroffene auch fest davon überzeugt sein, eine körperliche Entstellung oder Mißbildung zu haben (Dysmorphophobie, F45.21). Auch hier kommt es zu häufigen Arztbesuchen oder dem Aufsuchen von Laienhelfern.

Somatoforme autonome Funktionsstörung

Bei einer somatoformen autonomen Funktionsstörung (F45.3) stehen Symptome der vegetativen Erregung im Vordergrund (siehe autonomes oder vegetatives Nervensystem), die einem oder mehreren der folgenden Systeme oder Organe zugeordnet werden können:

  • Herz und kardiovaskuläres System (z.B. Brustschmerzen oder Druckgefühl in der Herzgegend)
  • oberer Gastrointestinaltrakt (Beschwerden im Bereich der Speiseröhre oder des Magens; z.B. Gefühl der Überblähung, Völlegefühl, Aerophagie, Singultus oder brennendes Gefühl im Brustkorb oder im Oberbauch)
  • unterer Gastrointestinaltrakt (Darmbeschwerden, z.B. häufiger Stuhlgang)
  • respiratorisches System (Atembeschwerden, z.B. Dyspnoe oder Hyperventilation)
  • Urogenitalsystem (z.B. erhöhte Miktionsfrequenz oder Dysurie)

Für die Diagnose muss mindestens ein Symptom in einem dieser Bereiche oder/und eine außergewöhnliche Ermüdbarkeit bei leichter Anstrengung vorhanden sein.

Zudem müssen zwei oder mehr der folgenden Symptome vorliegen:

  • Herzklopfen
  • Schweißausbrüche (heiß oder kalt)
  • Mundtrockenheit
  • Hitzewallungen oder Erröten
  • Druckgefühl, Kribbeln oder Unruhe in der Magengegend

Anhaltende somatoforme Schmerzstörung

Für die Diagnose einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.4) muss mindestens sechs Monate lang (an den meisten Tagen) ein anhaltender schwerer und belastender Schmerz in einem Körperteil vorhanden sein, der nicht ausreichend durch einen körperlichen Befund erklärt werden kann. Seit 2009 wird diese Diagnose gemäss der German Modification 2009 innerhalb der ICD-10 unter F45.40 kodiert bzw. durch die Diagnose der "Chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren", ICD-10: F45.41, ergänzt. Diese Diagnose wird bei seit mindestens 6 Monaten bestehenden Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen gestellt, die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben. Psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn. Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Der Schmerz wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht (wie bei der vorgetäuschten Störung oder Simulation). Schmerzstörungen insbesondere im Zusammenhang mit einer affektiven, Angst-, Somatisierungs- oder psychotischen Störung sollen hier nicht berücksichtigt werden.[3] [4]

Psychologische Diagnostik

Zur Diagnosestellung existieren verschiedene strukturierte klinische Interviews und Fragebögen. In Deutschland ist - neben der allgemeinen Symptom-Checkliste SCL-90 - das Screening für Somatoforme Störungen (SOMS) der verbreitetste Fragebogen, der zur Diagnose benutzt wird.

Besonderheiten der Arzt-Patient-Beziehung

Die Interaktion zwischen Ärzten und Patienten mit somatoformen Störungen ist häufig schwierig; nicht selten kommt es zu Abbrüchen der Beziehung und zu häufigen Arztwechseln („doctor-hopping“ oder „doctor-swapping“). Als Grund wird zumeist die Diskrepanz in den jeweiligen Ursachenüberzeugungen angesehen: der Arzt vermutet nach fehlendem Nachweis organischer Erklärungen psychogene Ursachen oder Simulation oder, dass der Patient ihn belästigen will (also eine aus der Gegenübertragung gespeiste Interpretation des Patientenverhaltens). Möglicherweise werden keine oder falsche Diagnosen gestellt. Der Patient erlebt diese Situation mit großer Sorge und nimmt weiter organische Ursachen an, weil nur diese für ihn eine Legitimierung seiner Beschwerden bedeuten und fühlt sich vom Arzt nicht ernstgenommen.

Der Verlauf somatoformer Störungen wird in dieser Situation wesentlich vom Verhalten der Ärzte mitbestimmt: Wiederholte beschwerdegesteuerte organische Diagnostik trägt z. B. zur Chronifizierung bei.

Therapie

Die Therapie besteht zunächst darin, ein tragfähiges Vertrauensverhältnis zu schaffen. Dazu muss in geeigneter Form über somatoforme Störungen und über das Wechselspiel von körperlichen und seelischen Prozessen informiert werden. Die eigentliche Arbeit des Arztes für Allgemeinmedizin besteht darin, den Patienten zu einer weiterführenden psychotherapeutischen Behandlung zu motivieren. Eine mehrwöchige Behandlung in einem Krankenhaus mit dem Schwerpunkt auf somatoforme Störungen wird von manchen Krankenkassen bezahlt.

Quellen und Einzelnachweise

  1. E.Wexberg: Verzogene Kinder, In: Heilen und Bilden. Ein Buch der Erziehungskunst für Ärzte und Pädagogen, München 1928, OCLC 10574552
  2. Foster W. Cline und Jim Fay: Parenting with Love and Logic Teaching Children Responsibility. Pinon Press 1990, ISBN 9780891093114
  3. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2011/block-f40-f48.htm#F45
  4. F45.41 - Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Eine Kodierhilfe. P. Nilges, W. Rief, Schmerz 2010, 24:209–212

Literatur

  • E. Brähler, J. Schumacher, Befund und Befinden: Psychologische Aspekte körperlicher Beschwerden, In: Brähler, E. & Strauß, B. (Hrsg.). Handlungsfelder der psychosozialen Medizin. Göttingen: Hogrefe 2002.
  • P. Henningsen, N. Hartkamp, T. Loew, M. Sack, C. Scheidt: Somatoforme Störungen. Leitlinien und Quellentexte, Stuttgart: Schattauer, 2002.
  • W. Rief, W. Hiller, Somatisierungsstörung und Hypochondrie, Göttingen: Hogrefe 1998
  • W. Rief, W. Hiller, Somatoforme Störungen, Bern: Huber 1992
  • Hausotter W: Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen. ISBN 3-437-22046-2
  • E. Rauh & W. Rief (2006). Ratgeber Somatoforme Beschwerden und Krankheitsängste. Göttingen: Hogrefe [1]
  • Martin, A. & Rief, W. (2006). Somatoforme Störungen. In H. U. Wittchen & J. Hoyer (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer Medizin Verlag.

Weblinks


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