Sonnengleichnis

Sonnengleichnis
Die Sonne als Sinnbild des Guten

Das Sonnengleichnis ist ein Gleichnis Platons aus seinem Werk Politeia. Es ist das erste der drei bekanntesten Gleichnisse Platons. Im Sonnengleichnis[1] beschreibt Platon den Stellenwert des Guten und legt damit den Grundstein für eine Metaphysik des Absoluten, die mit der Ideenlehre und in der ungeschriebenen Lehre weiter ausgebaut wird. Am Ende des sechsten Buches der Politeia folgt dem Sonnengleichnis das Liniengleichnis, welches in das Höhlengleichnis am Anfang des siebten Buches mündet.

Inhaltsverzeichnis

Das Wesen des Guten

Das Wesen des eigentlich Guten ist das, was den erkannt werdenden Objekten Wahrheit verleiht und dem erkennenden Subjekt das Vermögen des Erkennens gibt. Das eigentlich Gute ist die Ursache von reiner Vernunfterkenntnis und Wahrheit, sofern sie erkannt wird. Erkenntnis und erkannt werdende Wahrheit sind „etwas Herrliches“. Das Gute aber ist etwas „weit Herrlicheres“. Reine Vernunfterkenntnis und Wahrheit sind gut - aber nicht das eigentliche höchste Gute. Das Wesen des eigentlich Guten ist „weit höher“ zu schätzen.[2] Die sonnengleiche Stellung, die Platon dem höchsten Guten in der intelligiblen Welt beimisst, verleiht ihm die göttliche Würde eines höchsten Prinzips.[3] Schon sein Lehrer Sokrates hatte an die Sonne gebetet:

„Nämlich in tiefes Nachdenken über irgend einen Gegenstand versenkt, blieb er (Sokrates) von frühmorgens an auf demselben Flecke stehen und wich, da er das Gesuchte nicht finden konnte, nicht von der Stelle, sondern verharrte in unablässigem Nachsinnen. Inzwischen war es bereits mittags geworden, als die Leute es merkten und staunend einander darauf aufmerksam machten, daß Sokrates nun schon vom frühen Morgen her im Nachforschen über irgend einen Gegenstand begriffen dastände. Endlich aber, als es schon Abend war, brachten einige Ionier, nachdem sie zu Abend gegessen, ihre Matratzen heraus, teils um im Kühlen zu schlafen, denn es geschah dies im Sommer, teils aber auch um ihn zu beobachten, ob er auch wohl in der Nacht dort stehenbleiben würde. Er aber blieb wirklich stehen, bis der Morgen graute und die Sonne aufging; dann aber ging er von dannen, nachdem er zuvor noch sein Morgengebet an die Sonne (hêlios) verrichtet hatte.“

Platon, Symposion[4]

Die Finsternis hat keine Quelle, woher sie kommt. Das Licht hat ihr gegenüber den Vorrang, weil es von etwas strömt, das über das Licht erhoben ist: auf Grund der Sonne, die auch für Platon göttlich ist.[5] Das Licht ist die Möglichkeitsbedingung des Gesichts, die Sonne aber ist sein Grund.[6]

Die Sonne als Ebenbild des eigentlich Guten

Die Sonne ist ein Sinnbild für das Gute. Sie ist die Kopie des Guten, die von dem eigentlichen wesenhaft Guten als ein ihm entsprechendes Ebenbild hervorgebracht worden ist. Was das eigentlich Gute in der durch Vernunft erkennbaren Welt in Bezug auf Vernunft und auf die durch Vernunft erkennbaren Gegenstände ist, das ist diese seine Kopie in der sinnlich sichtbaren Welt in Bezug auf Gesicht und sichtbare Gegenstände. Der Unterschied, ob etwas im Licht oder im Schatten liegt, bedeutet für das, was von ihm betroffen ist, einen Unterschied im Seinsrang. Was im Licht der Sonne liegt, ist sichtbar. Was im Schatten liegt, ist nicht oder zumindest schwer sichtbar. Diese Beschreibung bedeutet in der Analogie für die Idee des Guten: Was im Licht der Idee des Guten liegt, an dem glänzt die Wahrheit und das Seiende. Was dagegen nicht von der Idee des Guten erhellt wird, das gehört in den Bereich des Werdenden und Vergehenden.[7]

Licht steht für Wahrheit

Ohne das Licht kann das sehende Auge nicht sehen und der sichtbare Gegenstand nicht gesehen werden. Wenn man die Augen nicht mehr auf jene Gegenstände richtet, auf deren Oberfläche das helle Tageslicht scheint, sondern auf jene Dinge, worauf nur ein nächtliches Geflimmer fällt, so sind sie „blöde“ und scheinen beinahe blind, als wäre ein rechtes Sehvermögen in ihnen nicht vorhanden. Wenn man die Augen aber darauf richtet, worauf die Sonne scheint, so sehen sie ganz deutlich, und in eben denselben Augen scheint dann wieder ein Sehvermögen sich zu befinden. Dasselbe Verhältnis gilt auch in Bezug auf die Seele: Wenn sie darauf ihren Blick heftet, was das ewig wahre und wesenhafte Sein bescheint, so vernimmt und erkennt sie es gründlich und scheint Vernunft zu haben, richtet sie ihn aber auf das mit Finsternis gemischte Gebiet, auf das Reich des Werdens und Vergehens, so meint sie dann nur, ist blödsichtig, indem sie sich ewig im niederen Kreise der Meinungen auf und ab bewegt, und gleicht nun einem vernunftlosen Geschöpf. So wie das Licht die Möglichkeitsbedingung für das Gesicht ist, so ist entsprechend die Wahrheit die Möglichkeitsbedingung für die Erkenntnis:

„Wahrheit entsteht […] nicht durch die Verknüpfung des Denkens mit dem zu denkenden Gegebenen. Wahrheit ist die vorausgegebene Bedingung dafür, dass diese Verknüpfung überhaupt stattfinden kann. Man denkt in der Wahrheit, wie man im Licht sieht.“

Egil A. Wyller[8]

Die Wahrheit hat ihren Grund im Guten und entspringt ihm, so wie das Licht von der Sonne ausströmt. Ohne das Gute gibt es keine Wahrheit. Analog zur erhellenden Wirksamkeit des Lichts ist Wahrheit die Unverborgenheit des Seienden in seinem Sein,[9] wozu auch die Maßbestimmtheit (symmetria) als das richtige Verhältnis des Ganzen und der Teile gehört.[10]

Licht steht auch für Sein

Das Sonnenlicht ist die Quelle für das Leben. Die Sonne verleiht den sinnlich sichtbaren Gegenständen nicht nur das Vermögen des Gesehenwerdens, sondern auch Werden, Wachsen und Nahrung, ohne dass sie selbst ein Werden ist. Entsprechend strömt aus dem Guten nicht nur Wahrheit als Möglichkeitsbedingung für die Erkenntnis, sondern es schafft auch Sein und Wesensfülle als Bedingung des Daseins. Den durch die Vernunft erkennbaren Dingen wird von dem eigentlich Guten nicht nur das Erkanntwerden zuteil, sondern ihnen kommt dazu noch von jenem das Sein und die Wirklichkeit zu, ohne dass das höchste Gute Wirklichkeit ist, es ragt vielmehr über die Wirklichkeit an Hoheit und Macht hinaus.[11] Das Gute selbst ist nicht Sein, sondern als dessen Grund „jenseits des Seins“. Zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie ist damit die Seinstranszendenz des Absoluten maßgebend ausgesprochen.[12] „Jenseits des Seins“ impliziert aufgrund des Totalitätscharakters des Seins zugleich die Verneinung aller denkbaren und möglichen Bestimmungen.

„[...] aufgrund des Seinsbezugs alles Erkennens aber folgt aus der Seinstranzendenz des Absoluten seine Erkenntnistranszendenz mit Notwendigkeit.“

Jens Halfwassen[13]

Zweck

Platon entwickelt in der Politeia seine Vorstellung des guten Staates. Im Gespräch zwischen Sokrates und seinem Dialogpartner Glaukon erklärt er, welche Qualitäten der Herrscher eines Staates entwickeln muss. Aus seiner Überzeugung, dass Weisheit und politische Macht in denselben Menschen vereint sein sollten, folgt das Konzept des Philosophenherrschers. Das Sonnengleichnis bildet zusammen mit dem Liniengleichnis die Grundlage für das Höhlengleichnis, das die gebildeten Begriffe anwendet. Platon verknüpft die Idee des Guten mit der Erziehung der Philosophenherrscher. Die höchste Arete ist die wesenhafte Angleichung an das Gute als göttlichen Urgrund allen Seins und Denkens.[14]

Einzelnachweise

  1. Platon, Politeia VI 508a-509d
  2. Platon, Politeia VI 509; Übersetzung von Wilhelm Wiegand bei Opera Platonis
  3. Vgl Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 2. Nachdruck 1989, S. 884 f.
  4. Platon, Symposion, 220d: epeita ôichet' apiôn proseuxamenos tôi hêliôi. Franz Susemihl übersetzt: an den Sonnengott, vgl. Übersetzung bei opera-platonis
  5. Platon, Politeia, besonders 508a
  6. Egil A. Wyller, Der späte Platon, 1970, S. 13
  7. Platon, Politeia VI 508 d
  8. Egil A. Wyller, Der späte Platon, 1970, S. 14
  9. Vgl. dazu bereits Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, 3. Aufl. 1975
  10. Platon, Philebos 64d ff.; Platon, Parmenides 157c ff.; Jens Halfwassen interpretiert die Maßbestimmtheit als den zahlenhaft bestimmten Einheitscharakter der Ideen (Ideenzahlen), vgl. Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, 2. Aufl. 2006, S. 254
  11. Platon, Politeia VI 509
  12. Jens Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, 2. Auflage 2006, S. 222
  13. Jens Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, 2. Auflage 2006, S. 262
  14. Vgl. auch Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 2. Nachdruck 1989, S. 886

Literatur

  • Damir Barbarić: Platon über das Gute und die Gerechtigkeit. Königshausen & Neumann Würzburg, 2005
  • Rosemary Desjardins: Plato and the good. Illuminating the darkling vision. Brill Leiden 2004
  • Rafael Ferber: Platos Idee des Guten. Academia-Verlag, 2. Aufl.,Sankt Augustin 1989
  • Hans-Georg Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles. Winter, Heidelberg 1978
  • Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. 2. Aufl. Saur, München 2006 ISBN 3-598-73055-1
  • Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 2. Nachdruck. De Gruyter, Berlin/New York 1989
  • Wilhelm Luther: Wahrheit, Licht, Sehen und Erkennen im Sonnengleichnis von Platons Politeia. Ein Ausschnitt aus der Lichtmetaphysik der Griechen, in: Studium Generale, Jg. 18, H. 7, Springer, Berlin 1965, S. 479 - 496
  • Thomas A. Szlezák: Die Idee des Guten in Platons Politeia. Beobachtungen zu den mittleren Büchern. Academia-Verlag, Sankt Augustin 2003
  • Karl Schmitz-Moormann: Die Ideenlehre Platons im Lichte des Sonnengleichnisses des sechsten Buches des Staates. Münster 1959
  • Egil A. Wyller: Der späte Platon. Meiner, Hamburg 1970

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