Ungeschriebene Lehre

Ungeschriebene Lehre
Platon, Centrale Montemartini, Rom

Die ungeschriebene Lehre ist eine feststehende Bezeichnung für den Teil des philosophischen Gebäudes Platons, den dieser nur mündlich in seiner Akademie vor einem beschränkten Schülerkreis gelehrt, aber nie selbst in den Dialogen veröffentlicht oder sonst schriftlich fixiert hat. Die Dialoge stellen nicht die gesamte Philosophie Platons dar. Platon hatte nicht die Absicht, den äußersten Punkt des Denkens, den er jeweils gerade erreicht hatte, schriftlich festzuhalten. Die Erklärung dafür liegt in seiner negativen Einschätzung des Nutzens der Schriftlichkeit.[1] Bereits sein Schüler Aristoteles spricht von den agrapha dogmata seines Lehrers. Nach der Überlieferung gehört dazu auch die Vorlesung „Über das Gute“, die unter dem Druck der politischen Verhältnisse entgegen der sonstigen „innerakademischen“ Haltung der Öffentlichkeit zugänglich war.[2] Allerdings haben einige Schüler in der Vorlesung Mitschriften verfasst, die aber nur bruchstückhaft überliefert sind, so dass die Inhalte ihrerseits der Rekonstruktion bedürfen. Es steht aber außer Frage, dass in der gesamten Antike Platon vor dem Hintergrund seiner ungeschriebenen Lehre interpretiert wurde.

Inhaltsverzeichnis

Hinweise auf die ungeschriebene Lehre

Phaidros

Platon hat im Dialog Phaidros geschrieben, dass ein wahrer Philosoph sich dadurch auszeichne, dass er noch über wertvolleres Wissen verfüge als das, was er aufgeschrieben habe. Alles, was er schreibe, befinde sich auf der Ebene von Spiel und Scherz:

„Ein Landmann, der Verstand hat, wird er den Samen, an dem ihm gelegen ist und von dem er gerne Frucht bekommen möchte, ernstlich im Sommer in Adonisgärtchen bauen und sich nun freuen, wenn er schaut, daß diese binnen acht Tagen schön stehen? Oder wird er dieses nicht des Spiels und des Festes wegen so machen, wenn er es überhaupt tut, den aber, mit dem es ihm Ernst ist, nach den Regeln der Kunst des Landbaus dahin, wohin es sich gehört, säen und vergnügt sein, wenn das, was er säete, im achten Monat seine Zeitigung erlangt? [...] Wer aber die Wissenschaft des Gerechten und des Schönen und des Guten inne hat, wollen wir sagen, daß der weniger Verstand habe hinsichtlich seines Samens als der Landmann? [...] Nicht also im Ernst wird er sie ins Wasser schreiben, wollte sagen, mit Tinte durch die Feder in Reden aussäen, die unvermögend sind, sich selber redend zu helfen, unvermögend auch, das Wahre genügend zu lehren. [...] Nein, sondern die Buchstabengärtchen wird er, wie mir scheint, des Spiels halber besäen und beschreiben, so zwar, daß er, wenn er schreibt, einen Schatz von Denkwürdigkeiten sammelt sowohl für sich selbst auf die Zeit, da er in das Alter des Vergessens kommt, als für jeden, der derselben Spur nachgeht, und wenn er sie in ihrem zarten Wüchse schaut, wird er seine Lust daran haben; wenn aber andere andere Spiele treiben, bei Gastmahlen sich labend, oder was sonst damit verwandt ist, wird er statt dessen, wie mir scheint, an dem, wovon ich rede, seinen spielenden Zeitvertreib haben. [...] Viel schöner aber, glaube ich, ist das ernstliche Bemühen um diese Dinge, wenn einer, die dialektische Kunst anwendend, eine geeignete Seele nimmt und mit wissenschaftlichen Reden bepflanzt und besät, die sich selbst und dem Pflanzenden zu helfen geschickt und nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen enthalten, aus dem in andersgearteten Gemütern wieder andere Reden erwachsen, die geschickt sind, denselben für immer unsterblich zu erhalten und den, der ihn inne hat, so glücklich zu machen, als es einem Menschen nur irgend möglich ist.“

Platon[3]

Der siebte Brief

In seinem siebten Brief schreibt Platon sogar, dass das Eigentliche „in keiner Weise sagbar“ wäre. Die das Wissen übersteigende Weisheit kann durch Bücher schwerlich vermittelt werden und bleibt nur wenigen Auserwählten vorbehalten:

„Denn in bestimmten sprachlichen Schulausdrücken darf man sich darüber wie über andere Lerngegenstände gar nicht aussprechen, sondern aus häufiger familiärer Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus inniger Beschäftigung damit entspringt plötzlich jene Idee aus der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn. [...] Wenn es mir vernünftig geschienen hätte, dass jene Gedanken durch Schrift und durch Wort unverschleiert unter dem Volke verbreitet werden dürften, was für eine schönere Lebensaufgabe würde ich da gehabt haben, als der Menschheit großes Heil zu bescheren und dabei das Wesenhafteste des Universums aller Welt an's Tageslicht zu bringen! Aber weder die Veröffentlichung jener Geheimnisse noch die populäre Behandlung jener Materien halte ich für Menschen für ein Glück, mit Ausnahme von wenigen Auserwählten; von allen jenen nämlich welche im Stande sind, auf einen ganz kleinen Wink selbst zu finden.“

Platon[4]

Das, was in dieser mündlichen Traditionslinie bewahrt wurde, war demnach kein Buchwissen in Form von festgehaltenen Doktrinen, sondern ein unmittelbares Begreifen der Wahrheit durch unmittelbare, das Denken überschreitende Erfahrung und Einsicht, zu welcher der Schüler durch seinen Lehrer geführt wurde.

Sonstige Dialoge

Die in den Dialogen enthaltenen Hinweise auf die ungeschriebene Lehre sind spärlich und geben zu Spekulationen Anlass. Die wichtigsten Passagen in Platons Dialogen, in denen eine Metaphysik des Einen greifbar wird, sind die Metaphysik des überseienden Guten, wie sie insbesondere im Sonnengleichnis dargestellt wird, sowie die prinzipienmetaphysische Dialektik des absoluten Einen und des seienden Einen insbesondere in den beiden ersten Hypothesen des Dialogs Parmenides. Innerhalb des Schriftwerks ist Parmenides der einzige Dialog, in dem die Prinzipienlehre zutage tritt.[5] Berühmt ist das Zitat aus dem Parmenides: „Wenn also Eins nicht ist, ist auch nichts der Anderen auch nur der Vermutung nach Eins oder auch Vieles; denn ohne Eins Vieles zu scheinen ist unmöglich.“[6] Hegel erkannte darin das Meisterstück der Platonischen Dialektik und erklärte die Stelle so: „In dem Satze 'Das Eine ist' liegt auch 'Das Eine ist nicht Eines, sondern Vieles'; und umgekehrt, 'Das Viele ist' sagt zugleich 'Das Viele ist nicht Vieles, sondern Eines'. Sie zeigen sich dialektisch, sind wesentlich die Identität mit ihrem Anderen; und das ist das Wahrhafte.“[7] Ein weiterer versteckter Hinweis findet sich in Platons Gorgias: „Die Weisen aber behaupten, o Kallikles, dass auch Himmel und Erde, Götter und Menschen nur durch Gemeinschaft bestehen bleiben und durch Freundschaft und Schicklichkeit und Besonnenheit und Gerechtigkeit, und betrachten deshalb, o Freund, die Welt als Ein Ganzes und Geordnetes, nicht als Verwirrung und Zügellosigkeit.“[8] Bei Aristoteles, Theophrast und anderen jüngeren Zeitgenossen Platons finden sich zahlreiche Berichte über eine Prinzipienlehre Platons, von der in den Dialogen weitgehend nichts zu lesen ist. Die Zweiteilung von „esoterischer“, d.h. für einen inneren Kreis bestimmter, und „exoterischer“ Lehre für ein größeres Publikum war im Altertum nichts Ungewöhnliches. Auch Aristoteles hat neben seinen Vorlesungen für seine Schüler Dialoge für ein weiteres Publikum verfasst.

Das Eine und die zwei Prinzipien

Das absolute Eine

Die ungeschriebene Lehre: Das Eine und die zwei Prinzipien

In der ungeschriebenen Lehre war die Dialektik der Weg des Aufstiegs zum Einen. Das absolute Eine ist nach Platons Lehre das Wesen des Guten, wie von seinem Schüler Aristoteles überliefert wird.[9] Das Gute selbst ist nicht Sein, sondern jenseits des Seins.[10] Jens Halfwassen erklärt unter Berufung auf Platons Parmenides: „Das absolute Eine ist jenseits von Sein und seiendem Einen; weil aber Denken auf Einheit und Bestimmtheit angewiesen ist, hebt sich der Versuch, das absolute Eine zu denken, ins Undenkbare auf. Da das Absolute das Übereine und über alle Bestimmtheit Erhabene ist, ist es jeder Erkenntnis entzogen, so dass es keine Aussage und kein Wissen von ihm gibt.“[11]

Die Prinzipienlehre

Die ganze Mannigfaltigkeit der diesseitigen Realität wird von Platon auf das Gegensatzverhältnis zweier Grundprinzipien zurückgeführt: Das erste Prinzip (Einheit) hat seine Entsprechung ontologisch im Sein, formal-logisch in der Identität, werthaft in der Arete, kosmologisch in der Stasis (Ruhe, Beständigkeit) und psychologisch im Logos (Bezogenheit auf die Ideen). Das zweite Prinzip (das Groß-und-Kleine) hat seine Entsprechung ontologisch im Nichtsein, formal-logisch in der Verschiedenheit, werthaft in der Schlechtigkeit, kosmologisch in der Kinesis (Bewegung, Veränderung) und psychologisch in den triebhaften, körpergebundenen Affekten.[12] Aristoteles berichtet von Platons Prinzipienlehre:

„Außerdem kennt Plato noch als ein drittes zwischen dem Sinnlichen und den Ideen die mathematischen Objekte, die sich von dem Sinnlichen dadurch unterscheiden, daß sie ewig und unbeweglich sind, von den Ideen aber dadurch, daß sie jede in unbestimmter Vielheit gleichartiger Exemplare existieren, während die Idee als solche ein schlechthin Einheitliches für sich sei. Da er aber die Ideen als die Ursachen alles anderen betrachtet, so hält er die Elemente der Ideen für die Elemente alles Seienden. So setzte er „das Groß-und-Kleine“ als Prinzip [archê: Urgrund, erste Ursache] der Materie und das Eine als das Prinzip der ousia [Seiendheit, wahres Sein, das unveränderlich-gleichbleibende Wesen, Essenz, Substanz]:[13] aus jenem beständen der Teilhabe (méthexis) an dem Einen zufolge die Ideen. [...] Aus unserer Darstellung ergibt sich, daß er nur zwei Prinzipien verwendet, nämlich das Prinzip der Seiendheit/Essenz und das materielle Prinzip – denn die Ideen sind die Ursachen für die Seiendheit/Essenz aller Dinge, und das Eine ist die Ursache für die Ideen. Auf die Frage, was die Grundlage der Materie ist, auf Grund deren im sinnlich Wahrnehmbaren von Ideen, in den Ideen vom Einen die Rede ist, antwortet er, es sei eine Zweiheit, „das Groß-und-Kleine“. Den Urgrund des Guten und des Schlechten, des Zweckmäßigen und des Zweckwidrigen hat er in diesen beiden Elementen gefunden, in dem einen die Ursache des Zweckmäßigen, in dem andern die Ursache des Gegenteils; eine Erklärung, um die sich, wie oben nachgewiesen, schon einige der älteren Philosophen, wie Empedokles und Anaxagoras, bemüht hatten.“

Aristoteles[14]

Das dem ersten Prinzip (Einheit) entgegengesetzte Prinzip der unbestimmten Zweiheit („das Groß-und-Kleine“) darf nicht mit der Zahl Zwei verwechselt werden. Es ist vielmehr ein Prinzip des Unbestimmten, der Veränderung und drängt zum Unendlichen. Paul Natorp schreibt dazu: „Die Ungleichheit wird dann wiederum identifiziert mit der »Zweiheit« des Groß-und-Kleinen. Diese hat zwar Plato nicht unter diesem Ausdruck (dyas) eingeführt, aber er hat die Doppelheit des Mehr und Minder im Begriff der Ungleichheit, gegenüber der begrifflichen Einheit, welche die Gleichheit herstellt, genugsam hervorgehoben, so daß die Einführung des allgemeinen Terminus der Zweiheit in diesem Sinne nahe genug lag. Natürlich mußte dann diese Zweiheit als »unbestimmte« von der bestimmten, nämlich der Zahl Zwei, scharf getrennt werden, da jene nur ein andrer Ausdruck des Prinzips der Unbestimmtheit ist, diese dagegen, nächst der Eins, die erste Bestimmung darstellt. Es wird denn auch folgerecht die unbestimmte Zweiheit oder das Groß-und-Kleine dem Unbestimmten oder Unendlichen gleichgesetzt: nach Metaph. 16, 987 b 20, 25 und 33 entspricht sie dem Unendlichen der Pythagoreer.“[15]

Das Prinzip der unbestimmten Zweiheit dient dazu, die Prinzipiate überhaupt aus dem Einen ableiten zu können, indem die Vielheit generiert wird. Diese Vielheit ist aber keine bestimmte und auch nicht seiend, es handelt sich lediglich um eine Seinslatenz. „Die von sich selbst her unbestimmte und nichtige Vielheit wird durch die Einheit setzende Übermacht des Einen aus ihrer unbestimmten Nichtigkeit zu Bestimmtheit und Sein erhoben, und dabei artikuliert sie ihre Bestimmtheit in sich selbst, indem sie ihr Sein entzweiend vervielfältigt und sich damit erst als seiende Vielheit selbst aktualisiert.“[16] Die unbestimmte Zweiheit kann als Vielheit oder intelligible Materie gedacht werden, auf das sich die Einheit als Prinzip bezieht. Die Einheit strukturiert die unbestimmte Vielheit als ein ideales Ganzes, dessen Teile die Ideen sind. Durch das Zusammenwirken dieser beiden Prinzipien entstehen die Ideenzahlen und die seienden Dinge. Die Prinzipien gehören selbst nicht zum Seienden, sondern gehen allem Seienden als Konstituentien voraus. Zur Erkenntnis der Prinzipien gelangt man auf dem Weg der Dialektik.

Die Schau des Einen

In der platonischen Schau des Einen wird die Gliederung der Welt und die Individualität des Betrachters aufgehoben. Während in der Ideenlehre als der ersten Transzendenz die Erscheinungswelt hin zum Reich der Ideen überschritten wird, erfolgt in der Schau des Einen als zweiter Transzendenz die Einsicht jenseits der Grenzen der Ousia.[17] Der Unterschied zwischen einem Schauenden und einem Geschauten verschwindet. Es gibt keine Subjekt-Objekt-Spaltung mehr und die Gegensätze fallen in der Schau des Einen zusammen.[18] Der Sinn dieser Schau ist „die Einsicht in den Zusammenhang von Erkenntnisstufen, das Hindurchblicken durch die Mannigfaltigkeit sich abstufender Gegebenheiten auf eine Verknüpfung stiftende Einheit, die nur in diesem Erlebnis der Zusammenschau und nie anders als in ihm in das Denken des Menschen treten kann“.[19] Durch die Schau des Einen wird der Erkenntnisprozess vorbereitet, die „Transzendenz des Lichts läßt den Ursprung und Grund des Diesseits erkennen“.[20] Der Philosoph auf dem platonischen Erkenntnisweg verharrt dann aber nicht bei der Erleuchtung, wie aus Platons eigenen Erläuterungen zum Höhlengleichnis deutlich wird. Er fühlt sich gegenüber der Welt verpflichtet und durchschreitet anschließend dieselben Stadien wie zunächst beim Aufstieg zum Einen, nun jedoch in umgekehrter Reihenfolge, um die Phänomene zu retten: Das Wahrnehmungswissen wird von der höheren Einsicht aus geschärft, der Philosoph selbst wird zu einer Lichtquelle in der Finsternis.[21]

„Da ist's für uns, fuhr ich fort, die Gründer des Staates, eine Aufgabe, die fähigsten Köpfe anzuhalten, daß sie zu jener Wissenschaft gelangen, die nach unserer vorigen Erklärung die größte ist, daß sie schauen das höchste, wesenhafteste Gut und den Weg zu ihm emporklimmen, und wenn sie nach diesem Emporklimmen sich satt geschaut haben, so dürfen wir ihnen nicht mehr die Erlaubnis geben, die sie jetzt haben. – Welche denn? – Dort droben, sprach ich, zu verweilen und sich nicht dazu zu verstehen, wieder herunterzusteigen zu jenen Gefangenen, sowie nicht Anteil zu nehmen an ihren Mühseligkeiten und an ihren Ehren, mögen letztere nun geringfügiger oder ernster Art sein. [...] Hinab muß also jeder der Reihe nach steigen in die Behausung der übrigen Mitmenschen und sich angewöhnen, das Reich der Finsternis zu schauen, denn gewöhnt ihr euch daran, so werdet ihr tausendmal besser als jene Höhlenbewohner an den einzelnen Schattenbildern sehen, was sie sind und wovon sie sind, weil ihr eine Anschauung von den ewig währenden Urbildern der einzelnen vergänglichen Erscheinungen im Bereiche des Schönen, Gerechten und Guten habt.“

Platon[22]

Die ungeschriebene Lehre als System

Lange Zeit galt es als selbstverständlich, Platons Philosophie nicht allein von den Dialogen her zu verstehen. Die Rekonstruktion der ungeschriebenen Lehre orientiert sich vor allem an der fragmentarischen Überlieferung der Vorlesung „Über das Gute“. Erst Friedrich Schleiermacher stellte in der Einleitung zu seiner Platonübersetzung 1804 die Forderung auf, man habe bei der Platoninterpretation einzig auf seine Dialoge abzustellen.

Zweifel an einem „esoterischen“ System

Umstritten ist, ob es nicht nur eine ungeschriebene Lehre, sondern sogar ein esoterisches System Platons gibt und dieses das eigentliche Zentrum seiner Philosophie bildet. Harold Cherniss hat bereits in seinem 1945 erschienenen Werk „Die ältere Akademie. Ein historisches Rätsel und seine Lösung“[23] entschieden bestritten, dass es eine esoterische Lehre gegeben habe und sich daran die exoterische Lehre der Dialoge messen lassen müsse: Aristoteles' Darstellungen der Lehren seiner philosophischen Vorgänger könnten nicht als zuverlässige Quelle für deren Philosophien gelten, weil Aristoteles in seinen Doxographien immer schon seine eigene Philosophie voraussetze und früheren Philosophen Thesen zuschreibe, die sie nicht tatsächlich vertreten hätten, die sie aber seiner Ansicht nach eigentlich hätten vertreten müssen.

Auch sonst stößt die Theorie von einer esoterischen Lehre vor allem im angelsächsischen Sprachraum auf Widerstand. Von großem Einfluss auf weite Fachkreise war vor allem die Tatsache, dass W.K.C. Guthrie in seiner Philosophiegeschichte [24] dieser Theorie ebenfalls mit Skepsis begegnete. Auch im deutschen Sprachraum gibt es entsprechende Skeptiker. Dazu gehört zum Beispiel Jürgen Mittelstraß.[25] Die Kritiker der esoterischen Lehre gehen davon aus, dass Platon selbst nicht in allen Stücken Urheber der fragmentarischen Überlieferung gewesen sei. Eine stärker spekulative Richtung habe die Akademie erst unter Speusipp und Xenokrates genommen.

Die Tübinger Platonschule

Die Erforschung der ungeschriebenen Lehre ist der Versuch, eine „einheitliche Gesamtvorstellung von der Philosophie Platons zu gewinnen.“[26] Die systematische Interpretation der fragmentarischen Überlieferung wurde vor allem von der so genannten „Tübinger Platonschule“ begründet. Hans Joachim Krämer[27] und Konrad Gaiser[28], beide Schüler von Wolfgang Schadewaldt in Tübingen, haben damit begonnen, den „esoterischen“[29] Platon wieder ernst zu nehmen und die Fragmente seiner Prinzipienlehre als „Testimonia Platonica“ zu sammeln. Die aus den Nachschriften der Schüler stammenden Zeugnisse gewähren einen Einblick in die mündliche Lehrtätigkeit Platons, die den Dialogen zugrunde liegt. Eine besondere Bedeutung für die platonische Ontologie gewinnt dabei deren Verknüpfung mit Mathematik und Geschichtsdeutung, die von Gaiser in seiner Habilitationsschrift eingehend untersucht wurde. Später hat Thomas A. Szlezák[30] diese Forschungen fortgesetzt und mit der Interpretation der Dialoge verbunden. Szlezák hat eingehend dargelegt, dass von Platon Misstrauen und Skepsis gegenüber der schriftlich festgehaltenen Philosophie geübt werde. Platon habe seine Dialoge gemäß dieser Kritik an der Schriftlichkeit verfasst und zentrale Lehren zurückgehalten. In den Dialogen werde außerdem auf grundlegende philosophische Gedanken hingewiesen, die dann in den einschlägigen Textstellen aber nicht behandelt würden, so genannte Aussparungsstellen. Deren Funktion sei es, über den Text hinaus auf eine mündliche Auseinandersetzung zu verweisen. Schließlich gebe es in späteren antiken Texten zahlreiche Hinweise auf eine Prinzipienlehre Platons, die in den Dialogen selbst nicht behandelt werde. Die Dialoge gehen demnach in der philosophischen Erörterung nur so weit, wie mit dem Verständnis der Rezipienten gerechnet werden kann. Jens Halfwassen hat die Kontinuität von Platon zu Plotin belegt, der sich selbst immer nur als treuer Exeget Platons verstanden hat.[31] Die Debatte über die ungeschriebene Lehre hat mittlerweile an Schärfe verloren. Durch die Systematisierung der fragmentarischen Überlieferung wird eine Geschlossenheit bei der Interpretation Platons erreicht, die sich auch auf das Verständnis der Dialoge auswirkt. Die innerakademische und gegen eine schriftliche Fixierung gerichtete Haltung Platons sollte aber nicht als „Geheimlehre“ missverstanden werden.

„Um hier [...] eine vernünftige Wegrichtung einzuschlagen, möchten wir Begriffe wie 'esoterische Lehre' oder gar 'Geheimlehre' ganz aus der Diskussion ausschalten. Das sind Formulierungen, die einen falschen Akzent auf die kontroversen Fragen unseres Problems setzen. Wir sollten uns auf die Formulierung einigen können, daß Platon im allgemeinen nur solchen Leuten seine mündliche Unterweisung zuteil werden ließ und nur mit solchen Leuten seine Gedanken ausgetauscht hat, die dem Lebenskreise seiner 'Schule' angehörten. [...] das Eigentliche der platonischen Lehre vollzog sich, meine ich, in fortgesetzten, den langen Tag des Zusammenlebens ausmachenden Lehrgesprächen.“

Hans-Georg Gadamer[32]

Literatur

  • Rafael Ferber: Die Unwissenheit des Philosophen oder warum hat Plato die "ungeschriebene" Lehre nicht geschrieben? Academia-Verlag, St. Augustin 1991. ISBN 3-88345-564-4
  • John Niemeyer Findlay: Plato. The Written and Unwritten Doctrine. Humanities Press, New York 1974
  • Hans-Georg Gadamer: Platons ungeschriebene Dialektik. In: Gesammelte Werke 6. Griechische Philosophie II. Mohr-Siebeck, Tübingen 1985, S. 129−153
  • Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. Klett-Cotta, 3. unveränd. Aufl., Stuttgart 1998, ISBN 3-608-91911-2
  • Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. 2. Aufl. Saur, München und Leipzig 2006 ISBN 3-598-73055-1
  • Jens Halfwassen: Platons Metaphysik des Einen. In: Marcel van Ackeren (Hrsg.): Platon verstehen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, S. 263 ff.
  • Hans Joachim Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Heidelberg 1967 (Nachdruck der Ausgabe von 1959)
  • Giovanni Reale: Zu einer neuen Interpretation Platons. Schöningh, Paderborn 1993
  • Christina Schefer: Platons unsagbare Erfahrung. Ein anderer Zugang zu Platon. Schwabe, Basel 2001, ISBN 3-7965-1561-4
  • Thomas Alexander Szlezák: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Teil 1: Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Teil 2: Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. De Gruyter, Berlin 1985-2004, ISBN 3-11-010272-2 bzw. ISBN 3-11-018178-9
  • Jürgen Villers: Das Paradigma des Alphabets. Platon und die Schriftbedingtheit der Philosophie. Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, ISBN 3-8260-3110-5

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Thomas A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, de Gruyter, Berlin 1985, S. 327
  2. Möglicherweise um dem Verdacht zu begegnen, die Lehre vom Einen wende sich gegen die pluralistische Demokratie. Vgl. Sung-Chul Rhim, Die Struktur des idealen Staates in Platons Politeia, 2005, S. 30
  3. Platon, Phaidros, 276 b ff.
  4. Platon, Siebenter Brief, 341
  5. Hans J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, 2. Aufl. 1967, S. 135
  6. Platon, Parmenides 166b
  7. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Leipzig 1971, Band 2, S. 82
  8. Platon, Gorgias 508a
  9. Aristoteles, Metaphysik 1091 b 13-15
  10. Platon, Politeia 509 b 8-9
  11. Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen, 2. Aufl. 2006, S. 65 unter Berufung auf Platon, Parmenides 142 a 3 - 4
  12. Konrad Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, 3. unveränd. Aufl. 1998, S. 19
  13. Ousía ist das Partizip des Verbums für sein, bedeutet also soviel wie Seiendheit, d.h. das, was wirklich seiend ist, das wahre Sein.
  14. Aristoteles: Metaphysik, Buch I., 987a f.; Übersetzung nach Adolf Lasson, Jena 1907, S. 21 f. unter Berücksichtigung der Übersetzung von Hugh Tredennick, Cambridge 1933
  15. Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 1921, S. 436
  16. Jens Halfwassen, Platons Metaphysik des Einen, in: Marcel van Ackeren (Hrsg.), Platon verstehen, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, S. 274 f.
  17. Irina Deretić, Doppelte Paradoxa. Platon über die Idee des Guten, in: Damir Barbarić (Hrsg.), Platon über das Gute und die Gerechtigkeit, Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, S. 145
  18. Julius Stenzel, Der Begriff der Erleuchtung bei Platon, in: Die Antike 2 (1926), S. 242. Zustimmend neben der Tübinger Schule und Jens Halfwassen auch Rudolf Bultmann, Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum, in: Exegetica, Mohr/Siebeck, Tübingen 1967, S. 342. Ablehnend im deutschsprachigen Raum zum Beispiel Kurt von Fritz, Beiträge zu Aristoteles, de Gruyter 1984, S. 57 sowie Peter Stemmer, Platons Dialektik: Die frühen und mittleren Dialoge, de Gruyter 1992, S. 220
  19. Julius Stenzel, Der Begriff der Erleuchtung bei Platon, in: Die Antike 2 (1926), S. 256. Dieser häufig zitierte und mittlerweile als klassisch geltende Aufsatz wurde nachgedruckt in: ders., Kleine Schriften zur griechischen Philosophie, 2. Aufl. 1957, S. 151-170
  20. Falk Wagner, Artikel Erleuchtung, in: Horst R. Balz u.a. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopäie, Band 10, de Gruyter 1982, S. 166, dort speziell zu Platon.
  21. Egil A. Wyller: Henologische Perspektiven I/I-II, Rodopi 1995, S. 19
  22. Platon, Politeia 519c ff.
  23. dt. Heidelberg 1962; englische Fassung The Riddle of the Early Academy, Univ. of. California Press, Berkeley 1945
  24. W.K.C. Guthrie, A History of Greek Philosophie, Band 5, The later Plato an the Academy, University Press, Cambridge 1978
  25. Jürgen Mittelstraß, Ontologia more geometrico demonstrata, in: Philosophische Rundschau 1966, S. 27 ff.
  26. Konrad Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, 3. unveränd. Aufl. 1998, S. 17
  27. Hans Joachim Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles, Heidelberg 1959
  28. Konrad Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart 1963
  29. Neben anderen verwendete Konrad Gaiser, a.a.O., explizit den Begriff „esoterische Lehre“.
  30. Thomas A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. De Gruyter, Berlin 1985
  31. Jens Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen, Stuttgart 1992
  32. Hans-Georg Gadamer, Platons ungeschriebene Dialektik, in: Gesammelte Werke 6. Griechische Philosophie II, Tübingen 1985, S. 130 f.

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