Sprachwandelgesetz

Sprachwandelgesetz

Unter Sprachwandelgesetz wird in der Linguistik zweierlei verstanden:

  1. ein Konzept, wie es von Lüdtke (1980) als eine Art Ring-Modell für die morphologische Entwicklung von Sprachen vorgestellt wird. Dabei wird der Sprachwandel als ein ständiger Wechsel zwischen phonetischer Vereinfachung und lexikalischer Differenzierung verstanden. Auch die sog. Lautgesetze sind hier zu nennen. Frühe Kritik an dem Gesetzesbegriff, der in „Lautgesetz“ steckt, stammt von Rozwadowski (1925), der sie lediglich für „general statements of tendency“ (Adamska-Sałaciak 1993: 17) hält.
  2. In der Quantitativen Linguistik ist das Sprachwandelgesetz eines der vielen, mathematisch formulierten und empirisch überprüften Sprachgesetze. Es besagt, dass beliebige Sprachwandelprozesse einen gesetzmäßigen Verlauf nehmen. Sprachwandel beginnen langsam, beschleunigen sich und verlangsamen sich dann wieder.[1] Das Sprachwandelgesetz ist in der Linguistik auch unter dem Namen Piotrowski-Gesetz bekannt, benannt nach dem St. Petersburger Linguisten Rajmund G. Piotrowski, der offenbar als erster zusammen mit A. A. Piotrowskaja eine mathematische Modellierung versuchte. Dieser Vorschlag wurde von Altmann (1983) sowie Altmann u. a. (1983) kritisiert und weiterentwickelt. Es handelt sich um ein Gesetz, das in anderen Wissenschaften seit Pierre-François Verhulst (1838) zunächst als Modell für die Bevölkerungsdynamik, später auch für die Ausbreitung von Krankheiten oder Gerüchten und viele andere Prozesse als logistisches Gesetz bzw. Wachstumsgesetz bekannt ist. Die Erkenntnis, dass dieses Gesetz auch bei Sprachwandelprozessen zu beobachten ist, lässt sich spätestens seit Kaj B. Lindgren (1961) nachweisen.[2]

Inhaltsverzeichnis

Formen des Sprachwandelgesetzes (Quantitative Linguistik)

Man unterscheidet zwei Formen des Gesetzes:

  1. den vollständigen oder unvollständigen Sprachwandel; in diesem Fall breitet sich ein sprachliches Phänomen aus, bis es entweder alle alten Formen ersetzt hat oder an eine von der Sprachgemeinschaft tolerierte Grenze gestoßen ist. Ein vollständiger Sprachwandel hat im Deutschen stattgefunden, in dem das mittelhochdeutsche was (1., 3. Person, Indikativ, Präteritum des Verbs sein) vollständig durch war ersetzt wurde. Unvollständige Sprachwandel sind im Wortschatz zu beobachten, etwa in der Zunahme des Wortschatzes einer Sprache oder speziell in der Zunahme von Entlehnungen.[3] Auch der Verlust von sprachlichen Phänomenen folgt diesem Gesetz; es ändert sich nur ein Vorzeichen.
  2. den reversiblen Sprachwandel; dieser besteht darin, dass ein sprachliches Phänomen sich zunächst ausbreitet und dann wieder abnimmt oder gar verschwindet; auch der umgekehrte Fall kommt vor. Man kann z. B. beobachten, dass einzelne Wörter zunächst im Gebrauch zu- und dann wieder abnehmen; man denke etwa an Tamagotchi. Ein relativ aktuelles Beispiel ist auch Kampfhund.[4] Auch der Stilwandel oder die Wahl von Vornamen unterliegen oft solchen Entwicklungen.

Ein und derselbe Typ von Sprachwandel kann unter verschiedenen Bedingungen unterschiedliche Formen annehmen. Vulanović & Baayen (2007) entwickeln das logistische Gesetz so weiter, dass es auch solchen komplexen Verhältnissen gerecht werden soll und wenden es auf ein Beispiel aus der Syntax des Englischen (die Geschichte der do-Umschreibung) an.[5]

Beispiel: Zunahme der Arabismen im Deutschen

Als Beispiel für einen Sprachwandelprozess diene die Zunahme der Arabismen im Deutschen.[6] Dieser Ausbreitungsprozess folgt dem logistischen Modell in der Form:

p(t)=\frac{c}{1+ a \cdot e^{-b \cdot t}}

Der Parameter c gibt den Wert an, gegen den der beobachtete Prozess strebt. Passt man dieses Modell an die erhobenen Daten an, so ergibt sich:

Jahrhundert t beobachtet kumuliert berechnet
14. 1 38 38 34,09
15. 2 14 52 56,33
16. 3 32 84 83,45
17. 4 26 110 109,80
18. 5 21 131 130,31
19. 6 14 145 143,68
20. 7 5 150 151,43

Im heutigen Deutschen findet man mit Hilfe der benutzten Literatur 150 Arabismen, für die angegeben werden kann, in welchem Jahrhundert sie ins Deutsche gelangten. Die Tabelle zeigt für jedes Jahrhundert, wie viele Entlehnungen stattfanden. Addiert man diese Jahrhundert für Jahrhundert, erhält man die kumulierten Werte mit dem Endwert 150. Bei der Anpassung des Modells an diese Werte ergaben sich folgende Parameterwerte: a = 7,4099; b = 0,6964; c = 160; für die Übereinstimmung zwischen den kumulierten Werten und dem Modell erhält man einen hervorragenden Testwert von D = 0,996. Dabei ist D der Determinationskoeffizient, der höchstens den Wert 1 erreichen kann.

Einzelnachweise

  1. http://lql.uni-trier.de/index.php/Change_in_language
  2. Kaj B. Lindgren: Die Ausbreitung der nhd. Diphthongierung bis 1500. Helsinki 1961, S. 57 (=Suomalainen tiedeakatemian toimituksia/ Annales academiae scientiarum fennicae, Sarja/ Ser. B, Tom. 123,2); zu Lindgren: Karl-Heinz Best: Kaj Brynolf Lindgren (1822-2007). In: Glottometrics 16, 2008, S. 127-131).
  3. http://lql.uni-trier.de/index.php/Lexicon_growth
  4. Karl-Heinz Best: On the use of „Kampfhund“ in German. In: Glottotheory Volume 2, Number 2, 2009, 15-18.
  5. Relja Vulanović & Harald Baayen: Fitting the development of periphrastic do in all sentence types. In: Peter Grzybek & Reinhard Köhler (eds.): Exact Methods in the Study of Language and Text. Dedicated to Gabriel Altmann on the Occasion of his 75th Birthday. Mouton de Gruyter, Berlin/ New York 2007, S. 679-688. ISBN 978-3-11-019354-1.
  6. Karl-Heinz Best: Zur Ausbreitung von Wörtern arabischer Herkunft im Deutschen. In: Glottometrics 8, 2004, S. 75-78

Literatur

  • Arleta Adamska-Sałaciak: Rozwadowski's laws of language development. In: Folia Linguistica Historica XIV, 1993, S. 15-28.
  • Gabriel Altmann: Das Piotrowski-Gesetz und seine Verallgemeinerungen. In: Karl-Heinz Best, Jörg Kohlhase (Hrsg.): Exakte Sprachwandelforschung. edition herodot, Göttingen 1983, S. 54-90. ISBN 3-88694-024-1
  • Gabriel Altmann, H. von Buttlar, H., W. Rott, U. Strauß: A law of change in language. In: Barron Brainerd (ed.): Historical linguistics . Brockmeyer, Bochum 1983, S. 104-115. ISBN 3-88339-305-3
  • Karl-Heinz Best: Quantitative Linguistik. Eine Annäherung. 3., stark überarb. u. ergänzte Aufl. Peust & Gutschmidt, Göttingen 2006. ISBN 3-933043-17-4
  • Karl-Heinz Best: Spracherwerb, Sprachwandel und Wortschatzwachstum in Texten. Zur Reichweite des Piotrowski-Gesetzes. Glottometrics 6, 2003, 9-34.
  • Karl-Heinz Best, & Jörg Kohlhase (Hrsg.): Exakte Sprachwandelforschung. Theoretische Beiträge, statistische Analysen und Arbeitsbereichte. edition herodot, Göttingen 1983. ISBN 3-88694-024-1
  • Helle Körner: Zur Entwicklung des deutschen (Lehn-)Wortschatzes. Glottometrics 7, 2004, 25-49.
  • Edda Leopold: Das Piotrowski-Gesetz. In: Reinhard Köhler, Gabriel Altmann, Gabriel, Rajmund G. Piotrowski (Hrsg.), Quantitative Linguistik - Quantitative Linguistics. Ein internationales Handbuch. de Gruyter, Berlin/ New York 2005, S. 627-633 . ISBN 3-11-015578-8
  • Helmut Lüdtke: Sprachwandel als universales Phänomen. In: Helmut Lüdtke (Hrsg.), Kommunikationstheoretische Grundlagen des Sprachwandels. De Gruyter, Berlin/ New York 1980, S. 1-19. ISBN 3-11-007271-8
  • Jan Rozwadowski: Les tâches de la linguistique (= Die Aufgaben der Linguistik). In: Bulletin de la Société de Linguistique de Paris XXV, 105-122.
  • P.-F. Verhulst: Notice sur la loi que la population suit dans son accroissement. Correspondance Mathématique et Physique, Tome X, 1838, 3-21.

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Sprachwandelgesetz – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Siehe auch


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