Piotrowski-Gesetz

Piotrowski-Gesetz

Piotrowski-Gesetz ist in der Linguistik eine geläufige Bezeichnung für das Sprachwandelgesetz der Quantitativen Linguistik, benannt nach dem Sankt Petersburger Linguisten Rajmund G. Piotrowski (Marchuk 2003), der offenbar als erster zusammen mit A. A. Piotrowskaja eine mathematische Modellierung von Sprachwandelprozessen versuchte.[1] Dieser Vorschlag wurde von Altmann (1983) sowie Altmann u.a. (1983) kritisiert und weiterentwickelt. Das Piotrowski-Gesetz macht eine Aussage darüber, welchen Verlauf Sprachwandel nehmen können; es gehört zu den zentralen Errungenschaften der Quantitativen Linguistik.

Inhaltsverzeichnis

Zur Form des Piotrowski-Gesetzes

Die Grundidee besteht in der Annahme, dass ein Sprachwandel irgendwo bei einer Einzelperson seinen Ausgang nimmt und – falls er von anderen übernommen wird – sich zunächst ganz allmählich ausbreitet. Je größer die Zahl der Personen ist, die sich der Neuerung anschließen, desto schneller erfolgt ihre Ausbreitung. Irgendwann wird ein Wendepunkt erreicht, von dem an die Ausbreitung in ihrer Geschwindigkeit nachlässt, bis sie schließlich zum Erliegen kommt. Dieser Fall ist mit der Formel im Artikel Sprachwandelgesetz mathematisch ausgedrückt. Das Muster für diesen Verlauf ist also: Langsamer Beginn – Beschleunigung – Wendepunkt – Abnehmen der Ausbreitungsgeschwindigkeit – Stillstand der Ausbreitung. In manchen Fällen wird durch die Ausbreitung einer sprachlichen Neuerung eine alte Form vollständig ersetzt; in anderen Fällen kann sich eine sprachlich neue Erscheinung nur bis zu einem gewissen Grad durchsetzen.

Als Besonderheit kann manchmal beobachtet werden, dass eine sprachliche Neuerung sich zunächst ausbreitet und irgendwann wieder an Boden verliert. Solche Fälle eines reversiblen Sprachwandels treten etwa bei der Wahl von Vornamen auf, die auffälligen Moden folgen.

Die weitaus meisten Sprachwandel, die bisher beobachtet wurden, zeigen einen erstaunlich „glatten“ Verlauf mit nur geringen Abweichungen von einer berechneten Ideallinie. Wenn das einmal nicht der Fall ist, kann dies zwei Ursachen haben: 1. Es kann ein Problem sein, das lediglich auf Datenmangel zurückzuführen ist; 2. Es kann aber auch ein Sprachphänomen sein, dessen „unregelmäßiger“ Verlauf systematische Gründe hat, die man in die Modellierung einbeziehen muss.

Anwendungsbereiche

Eine Fülle von Untersuchungen zum morphologischen und syntaktischen Wandel ebenso wie zu Entlehnungsprozessen und Änderungen orthographischer Gewohnheiten zeigt, dass dieser Ansatz sich eignet, um den Verlauf von Sprachwandelvorgängen zu modellieren. [2] Auch die Entwicklung des Wortschatzes von Sprachen unterliegt diesem Gesetz; dies gilt sowohl für den Verlust als auch für die Erweiterung des Wortschatzes. Das gleiche Modell bewährt sich aber auch als Spracherwerbsgesetz: Der Erwerb des Wortschatzes der Muttersprache und etliche andere Lernprozesse vollziehen sich auf diese Weise.

Prognosen in der Linguistik

Wenn man gut erforschte Sprachwandelprozesse betrachtet, kann man die Frage stellen, wie sie sich in der Zukunft entwickeln werden. Das Problem wird jetzt bei Best (2009) am Beispiel der Entlehnungen aus dem Lateinischen und dem Englischen ins Deutsche diskutiert. Die Grundlagen dazu bilden Computerexperimente. Bei Prozessen, die ihren Wendepunkt deutlich überschritten haben (Lateinisch), sind Vorhersagen über die weitere Entwicklung offenbar nicht allzu gewagt, in anderen Fällen (Englisch) wesentlich problematischer.[3]

Literatur

  • Gabriel Altmann: Das Piotrowski-Gesetz und seine Verallgemeinerungen. In: Karl-Heinz Best, Jörg Kohlhase (Hrsg.): Exakte Sprachwandelforschung. edition herodot, Göttingen 1983, S. 54–90. ISBN 3-88694-024-1
  • Gabriel Altmann, Dariusch Bagheri, Hans Goebl, Reinhard Köhler, Claudia Prün: Einführung in die quantitative Lexikologie. Peust & Gutschmidt, Göttingen 2002. ISBN 3-933043-09-3
  • Gabriel Altmann, H. von Buttlar, W. Rott, U. Strauß: A law of change in language. In: Barron Brainerd (ed.): Historical linguistics . Brockmeyer, Bochum 1983, S. 104–115. ISBN 3-88339-305-3
  • Karl-Heinz Best: Spracherwerb, Sprachwandel und Wortschatzwachstum in Texten. Zur Reichweite des Piotrowski-Gesetzes. In: Glottometrics 6, 2003, 9–34.
  • Karl-Heinz Best: Kürzungstendenzen im Deutschen aus der Sicht der Quantitativen Linguistik. In: Jochen A. Bär, Thorsten Roelcke & Anja Steinhauer (Hrsg.): Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. de Gruyter, Berlin/New York 2007, S. 45–62. ISBN 978-3-11-017542-4. Der Beitrag modelliert den Verlauf von Kürzungstendenzen unterschiedlicher Art im Deutschen als einen Prozess, der nach dem Piotrowski-Gesetz verläuft.
  • Festschrift in honour of Professor Rajmund G. Piotrowski. In: Journal of Quantitative Linguistics 10, Heft 2 und 3, 2003.
  • Edda Leopold: Das Piotrowski-Gesetz. In: Reinhard Köhler, Gabriel Altmann, Rajmund G. Piotrowski (Hrsg.): Quantitative Linguistik – Quantitative Linguistics. Ein internationales Handbuch. de Gruyter, Berlin/New York 2005, S. 627–633. ISBN 3-11-015578-8
  • Yurii N. Marchuk: The Burdens and Blessings of Blazing the Trail. In: Journal of Quantitative Linguistics 10, 2003, 81–85.
  • R. G. Piotrowski, K. B. Bektaev & A. A. Piotrowskaja: Mathematische Linguistik. Brockmeyer, Bochum 1985. ISBN 3-88339-453-X

Einzelnachweise

  1. Würdigung: http://www.iqla.org/iqla_news.html.
  2. http://lql.uni-trier.de/index.php/Change_in_language
  3. Karl-Heinz Best: Sind Prognosen in der Linguistik möglich? In: Typen von Wissen. Begriffliche Unterscheidung und Ausprägungen in der Praxis des Wissenstransfers. Herausgegeben von Tilo Weber und Gerd Antos. Peter Lang, Frankfurt/M. 2009, S. 164–175. ISBN 978-3-631-57109-5.

Siehe auch

Weblinks

Wiktionary Wiktionary: Piotrowski-Gesetz – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

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