Transdisziplinarität

Transdisziplinarität

Von Transdisziplinarität existiert im aktuellen wissenschaftlichen Gebrauch kein einheitliches Verständnis. Im deutschen Sprachraum bezeichnet der Ausdruck zumeist ein Prinzip integrativer Forschung (Mittelstrass 2003). Dies steht im Gegensatz zur Auffassung von Transdisziplinarität als einem universellen theoretischen Einheitsprinzip (Nicolescu 2002).

Inhaltsverzeichnis

Transdisziplinäre Forschung

Zunehmend erfordern lebensweltliche Probleme transdisziplinäre Forschung, wenn das vorhandene Wissen unsicher ist, wenn umstritten ist, worin die Probleme genau bestehen, und wenn für die direkt oder indirekt Involvierten bzw. Betroffenen viel auf dem Spiel steht (Funtowicz & Ravetz 1993). In einer solchen Situation, wie sie beispielsweise in der Nachhaltigkeitsforschung regelmäßig auftritt, besteht die Herausforderung darin, zunächst die relevanten Probleme zu identifizieren und adäquat in Forschungsfragen zu überführen.

Transdisziplinarität als Prinzip integrativer Forschung ist ein methodisches Vorgehen, das wissenschaftliches Wissen und praktisches Wissen verbindet.[1] Innerhalb dieses Verständnisses geht transdisziplinäre Forschung von gesellschaftlichen Problemstellungen aus, jedoch nicht von Fragen, die ausschließlich wissenschaftsinternen Diskursen entspringen. Ein anderer Gesichtspunkt für das Verständnis von Transdisziplinarität ist der Grad der Integration der beteiligten Disziplinen und Fächer, der oftmals als Unterscheidungsmerkmal zwischen Trans-, Inter- und Multidisziplinarität dient. Diese unterschiedlichen und zum Teil unvereinbaren Begriffsgebräuche deuten an, dass eine der Transdisziplinarität inneliegende Gefahr die der Unübersichtlichkeit ist. Einen Überblick über die unterschiedlichen Begriffsgebräuche findet man in dem Tagungsband Brand/Schaller/Völker 2004 sowie bei Bergmann u.a. (2005) und bei Pohl u. Hirsch Hadorn (2006), in denen nicht zuletzt Vorschläge für eine übersichtlichere Terminologie gemacht werden.[2]

Relevante Fragestellungen betreffen erstens empirische Prozesse, welche zur bestehenden Lage geführt haben und die künftige Entwicklung beeinflussen können (‚Systemwissen’). Zweitens gehören dazu Fragestellungen, die Argumente für und gegen Ziele zum Gegenstand haben (‚Zielwissen’). Drittens sind Fragestellungen relevant, welche sich damit befassen, inwiefern die bestehenden Verhältnisse im Sinne der Ziele veränderbar sind (‚Transformationswissen’). Zu den Anforderungen an ein transdisziplinäres Vorgehen gehört es, Probleme in ihrer relevanten Komplexität zu erfassen, die vielfältigen Sichtweisen in der Wissenschaft und der Wissensgesellschaft dabei angemessen zu berücksichtigen, abstrahierende Wissenschaft und fallspezifisch relevantes Wissen zu verbinden, und zwar mit dem Ziel, Wissen zu einer am Gemeinwohl orientierten praktischen Lösung von Problemen zu erarbeiten (Pohl & Hirsch Hadorn 2006, Jaeger & Scheringer 1998).

Der transdisziplinäre Forschungsprozess wird zumeist in drei Phasen untergliedert: 1. Problemidentifikation und -strukturierung, 2. Problembearbeitung, 3. In-Wert-Setzung bzw. transdisziplinäre Integration. Wird bei der Bearbeitung das Problem in Teilfragestellungen untergliedert, so erfolgt deren Bearbeitung idealerweise in engem wechselseitigem Bezug aufeinander (Jaeger und Scheringer 1998). Während in der disziplinären Forschung die Phase der Problembearbeitung im Vordergrund steht, kommt in der transdisziplinären Forschung im Prinzip allen drei Phasen dieselbe Bedeutung zu. Die Phasen sind nicht zwingend in der angegebenen Reihenfolge zu durchlaufen: Die Problemidentifikation und -strukturierung kann zum Ergebnis führen, dass die verbleibende Zeit weiter dieser Aufgabe zu widmen ist; sie kann einen konkreten Untersuchungsbedarf aufzeigen, der disziplinär, transdisziplinär oder in angewandter Forschung zu bearbeiten ist; oder es kann sich herausstellen, dass das Problem im Grunde verstanden ist und es primär um die In-Wert-Setzung bzw. Verbreitung des vorliegenden Wissens geht.

Transdisziplinäre Projekte

Charakteristisch für transdisziplinäre Projekte ist einerseits das Überschreiten von Disziplingrenzen, andererseits das Zusammenspiel von gesellschaftlich-politischen und wissenschaftlich-analytischen Entscheidungs- bzw. Problemlösungsprozessen. Dieses Zusammenspiel wird derzeit sehr unterschiedlich verstanden (Weingart, 2001). So wird auf der einen Seite ein Auflösen der Grenzen von Wissenschaft und Praxis postuliert (Nowotny et al., 2001), andererseits das Zusammenspiel im Sinne eines klassischen Input-Output-Verständnisses zweier weitgehend getrennter Bereiche oder auch als neue Form einer aushandlungsbasierten Kopplung von Wissenschaft und Politik, als "Grenzarbeit" (boundary work) an den Schnittstellen zwischen Wissens-, Wert- und Handlungsfeldern (Lieven und Maasen, 2007), diskutiert. In Bezug auf das methodische Problem der Integration heterogener (wissenschaftlicher und praktischer) Wissensformen arbeitet Jahn (2005) das Bild zweier zu Beginn bzw. zu Ende eines Projektes unabhängiger im Zentrum aber eng miteinander verflochtener Prozesse heraus. Dieses Verständnis trifft sich auch mit den Ideen eines "mutual learning" (gegenseitiger Lernprozess von Wissenschaft und Praxis) im Rahmen eines transdisziplinären Projektes (Scholz, 2000). Bei diesem Verständnis von Transdisziplinarität behält die gesellschaftliche Funktionsteilung von Wissenschaft bzw. Staat oder Wirtschaft ihre Relevanz; die Grenzen werden aber im Rahmen eines gemeinsam verantworteten Projektes vorübergehend gelockert und so ein intensiver Austausch ermöglicht.

Umsetzung

Transdisziplinarität entsteht nur dann, wenn die beteiligten Fachpersonen in offenem und transparentem Dialog interagieren und dabei die unterschiedlichen Perspektiven auf Wirklichkeit gegeneinander relativiert werden. Transdisziplinäre Arbeitssituationen sind unter anderem auf Grund der Informationsfülle im Alltagsgeschäft, sowie der sich oftmals gravierend unterscheidenden, fachspezifischen Sprache, Begriffe und Definition nur schwer herzustellen. Es bedarf der Fähigkeit von Personen, die moderierend, in Mediation, Assoziation und Vermittlung einen kritischen Dialog initiieren und fördern können. Solche Personen sollten über vertiefte Kenntnisse und Handlungskompetenzen der beteiligten Wissenschaften verfügen.

Transdisziplinarität in den Künsten

Auch im Bereich der Künste wird der Begriff der Transdisziplinarität verwendet, zum einen für die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Kunstgattungen, zum anderen für die Verbindung künstlerischer und wissenschaftlicher Erkenntnis- und Darstellungsweisen. Das Infragestellen und Überschreiten vorgegebener, beispielsweise disziplinärer Grenzziehungen gehört zu den zentralen Errungenschaften der künstlerischen Moderne; intermediale Projekte oder die Hybridisierung unterschiedlicher Genres innerhalb der Künste selbst sind Beispiele dafür. Unter dem Begriff der Transdisziplinarität ergibt sich zusätzlich eine „verschärfte Nachbarschaft“ (Reust und Dombois 2004) zwischen den Künsten und den Wissenschaften, die als je unterschiedliche, aber gleichrangige Formen des Wissens aufgefasst werden.

Literatur

  • Balsiger, Philipp W.: Transdisziplinarität. Systematisch-vergleichende Untersuchung disziplinübergreifender Wissenschaftspraxis. München/Paderborn: Fink, 2005. (ISBN 3-7705-4092-1)
  • Bergmann, Matthias; Bettina Brohmann; Esther Hofmann; M. Céline Loibl; Regine Rehaag; Engelbert Schramm; Jan-Peter Voß (2005): Qualitätskriterien transdisziplinärer Forschung. Ein Leitfaden für die formative Evaluation von Forschungsprojekten. ISOE-Studientexte, Nr. 13.
  • Bergmann, Matthias; Schramm, Engelbert (Hrsg.). Transdisziplinäre Forschung. Integrative Forschungsprozesse verstehen und bewerten. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag
  • Bogner, Alexander; Kastenhofer, Karen; Torgersen, Helge (Hrsg.)(2010): Inter- und Transdisziplinarität im Wandel? Neue Perspektiven auf problemorientierte Forschung und Politikberatung. Baden-Baden: Nomos
  • Brand, K.-W. (Hrsg.) (2000). Nachhaltige Entwicklung und Transdisziplinarität. Besonderheiten, Probleme und Erfordernisse der Nachhaltigkeitsforschung. Berlin: Analytica
  • Defila, Rico; Di Giulio, Antonietta (1998): "Interdisziplinarität und Disziplinarität". In: Olbertz, J.-H. (Hg.): Zwischen den Fächern – über den Dingen? Universalisierung versus Spezialisierung akademischer Bildung Opladen: Leske & Budrich, S.111-137.
  • "Forschungsverbundmanagement - Handbuch für die Gestaltung inter- und transdisziplinärer Projekte", vdf Hochschulverlag an der ETH Zürich, 2006]
  • Funtowicz, S.O. & Ravetz, J.R. (1993). Science for the Post-Normal Age. Futures 25, September: 739-755.
  • Hadorn Hirsch, Gertrude; Hoffmann-Riem, Holger; Biber-Klemm, Susette; Grossenbacher-Mansuy, Walter; Joye, Dominique; Pohl, Christian; Wiesmann, Urs & Zemp, Elisabeth (Hg., 2008) Handbook of Transdisciplinary Research Heidelberg: Springer
  • Jaeger J., Scheringer M. 1998. Transdisziplinarität. Problemorientierung ohne Methodenzwang. GAIA 7(1): 10-25.
  • Hamberger, Erich; Luger, Kurt (Hrsg.): Transdisziplinäre Kommunikation. Aktuelle Be-Deutungen des Phänomens Kommunikation im fächerübergreifenden Dialog. (Österr. Kunst- und Kulturverlag), 2008 ISBN 978-3-85437-264-6
  • Jantsch, Erich (1972): Towards interdisciplinarity and transdisciplinarity in education and innovation. In: Leo Apostel L, Berger G, et al., ed. Problems of Teaching and Research in Universities. Paris, Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) and Center for Educational Research and Innovation (CERI), pp 97-121.
  • Lieven, Oliver; Maasen, Sabine (2007): Transdisziplinäre Forschung: Vorbote eines "New Deal" zwischen Wissenschaft und Gesellschaft? In: GAIA 1/2007, S. 35-40
  • Mittelstraß, Jürgen: Transdisziplinarität - wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit. 2003 ISBN 3-87940-786-X
  • Bernhard von Mutius (Hrsg.): Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden. Stuttgart, Klett-Cotta 2004. ISBN 3-608-94085-5
  • Nicolescu, B. Manifesto of Transdisciplinarity, State University of New York Press, New York, USA, 2002, aus dem Französischen von Karen-Claire Voss.
  • Nowotny, H., Scott, P., & Gibbons, M. (2001). Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty. Cambridge: Polity Press.
  • Scholz, R. W. (2000). Mutual learning as a basic principle of transdisciplinarity. In R. W. Scholz, R. Häberli, A. Bill & M. Welti (Eds.), Transdisciplinarity: Joint Problem-Solving among Science, Technology and Society (Vol. Workbook II, S. 13-17). Zürich: Zürich: Haffmans Sachbuch Verlag AG.
  • Sukopp, T. (2010): Interdisziplinarität und Transdisziplinarität. Definitionen und Konzepte. In: Jungert, M.; Romfeld, E.; Sukopp, T./Voigt, U. (Hg.): Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 13-29.
  • Weingart, P. 2001. Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück.

Anmerkungen

  1. Zu den unterschiedlichen Verständnissen von Integration und den möglichen Vorgehensweisen vgl. Bergmann & Schramm 2008
  2. Beispiele unterschiedlicher Forschungsprojekte sind bei Hirsch Hadorn u.a. (2008) dargestellt.

Siehe auch

Weblinks


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