Unsterbliche Geliebte

Unsterbliche Geliebte

Als „Unsterbliche Geliebte“ wird die Adressatin eines berühmt gewordenen Briefes bezeichnet, den Ludwig van Beethoven am 6./7. Juli 1812 in Teplitz schrieb und deren Identität in der Fachwelt bis heute umstritten ist. Der Brief gelangte aus dem Nachlass des Komponisten in den Besitz seines Sekretärs Anton Schindler. Nach Schindlers Tod ging er in den Besitz von dessen Schwester über, die ihn 1880 der heutigen Berliner Staatsbibliothek übergab. Er wird dort unter der Signatur Mus. ep. autogr. Beethoven 127 aufbewahrt. Der Text ist mit Bleistift geschrieben und besteht aus drei Teilen.[1]

Inhaltsverzeichnis

Äußere Anhaltspunkte

Beethoven hat den Brief nicht vollständig datiert, es fehlt die Jahreszahl; desgleichen fehlt eine Ortsangabe. Aus diesen Gründen gestaltete sich die Ermittlung der Adressatin lange Zeit äußerst schwierig. Anhaltspunkte boten lediglich Beethovens Angabe „Montags am 6ten Juli“ und seine Bemerkung „als Badender muß ich schlafen gehn“, nach der er sich in einem Kurort aufhielt. In den folgenden in Frage kommenden Jahren fiel der 6. Juli auf einen Montag: 1795, 1801, 1807, 1812 und 1818. Daneben erwähnt Beethoven, dass er den Brief nach „K.“ schicken will, wo er die Adressatin offenbar vermutete. Aufgrund seiner Bemerkungen über den Postverkehr nach dort schloss Max Unger, dass Beethoven sich im böhmischen Kurort Teplitz aufhielt und der Brief nach Karlsbad befördert werden sollte. Damit lag die Vermutung nahe, dass der Brief im Juli 1812 entstand, als Beethoven tatsächlich zur Kur in Teplitz weilte.[2] Endgültige Klarheit brachte in den 1950er Jahren eine Wasserzeichenanalyse des Briefpapiers durch Joseph Schmidt-Görg.

Darüber hinaus ergibt sich aus dem Brief, dass Beethoven die Geliebte offenbar kurz zuvor getroffen hatte, höchstwahrscheinlich in Prag, wo er von Wien aus kommend vom 1. bis 3. Juli einen Zwischenaufenthalt eingelegt hatte, ehe er am 4. Juli nach Teplitz weiterreiste. In Prag war er unter anderem für den Abend des 3. Juli mit Karl August Varnhagen von Ense verabredet – einem Treffen, zu dem es jedoch nicht kam, denn am 14. Juli schrieb Beethoven Varnhagen von Teplitz: „es war mir leid lieber V. den lezten Abend in Prag nicht mit ihnen zubringen zu können, ich fand es selbst für unanständig, allein ein Umstand, den ich nicht vorher sehn konnte, hielt mich davon ab“.[3] Es wird allgemein angenommen, dass es die offenbar unvorhergesehene Begegnung mit der „Unsterblichen Geliebten“ war, die das Treffen mit Varnhagen verhinderte.

Kandidatinnen

Seit der Veröffentlichung des bahnbrechenden Werkes von Harry Goldschmidt „Um die Unsterbliche Geliebte. Eine Bestandsaufnahme“,[4] der alle Kandidatinnen aus Beethovens Umkreis einem faktenbasierten Eliminierungsverfahren unterzog, sind heute nur noch zwei (verheiratete) Frauen übriggeblieben (beide waren Mütter), die den Fakten standhalten:[5] Josephine Brunsvik, auf die die inneren Bedingungen sehr gut zutreffen, bei der jedoch bis zum heutigen Tage nicht sämtliche äußeren Bedingungen verifiziert (allerdings auch nicht falsifiziert) werden konnten und Antonie Brentano, bei der zwar alle äußeren Bedingungen erfüllt sind, die inneren Bedingungen im Kontext von Beethovens Leben allerdings weniger konsistent sind. Die Auseinandersetzung um die Frage, welche dieser beiden Frauen nun die langgesuchte Unbekannte war, hat in der Fachwelt längst die Form eines Glaubenskrieges angenommen, wobei die deutschsprachige Fachwelt überwiegend für Josephine, die englischsprachige dagegen für Antonie plädiert.

Im Verlaufe der mittlerweile über hundertfünfzigjährigen Recherche nach der Unbekannten wurden von der Forschung in chronologischer Reihenfolge folgende der zentralen Frauengestalten im Leben Beethovens als wichtigste Kandidatinnen zur Diskussion gestellt:[6]

Julie „Giulietta“ Guicciardi

Veröffentlicht wurde der Brief erstmals 1840 von Beethovens langjährigem Adlatus Anton Schindler in dessen Beethoven-Biographie. Schindler, dem das Datum des Briefes unbekannt war, nannte als Adressatin die junge Gräfin Julie Guicciardi – eine Spekulation, die von deren Cousine Therese Brunsvik schon unmittelbar nach der Veröffentlichung angezweifelt wurde.[7]

Therese Brunsvik versus Josephine Brunsvik

Die nächste Kandidatin war Therese Brunsvik selbst: Zunächst publizierte Tenger (1890) ein fiktives Tagebuch Thereses. Ausschnitte aus den echten Memoiren Thereses veröffentlichte fast 20 Jahre später erstmals La Mara (1909),[8] die die darin zum Ausdruck gebrachte Schwärmerei für Beethoven zunächst ebenfalls als Zeichen geheimer Liebe deutete. Später jedoch korrigierte La Mara ihre Ansicht, als sie Briefe und Dokumente aus dem Brunsvik-Nachlass auswertete, die nach dem Ersten Weltkrieg zugänglich wurden. Aus diesen Dokumenten ging hervor, dass Thereses Schwester Josephine in ihrer Witwenzeit zwischen 1804 und 1807 intensiven Umgang mit Beethoven gepflegt hatte, der jedoch bei Josephines Schwestern Therese und Charlotte offenkundig starke Besorgnis auslöste. Aus diesen (noch sehr lückenhaften) Quellen zog La Mara, den Brief allerdings unzutreffend auf das Jahr 1807 datierend, als erste den kühnen Schluss: „Es drängte sich mir die Überzeugung auf, daß ... Josephine verwitwete Gräfin Deym die ‚Unsterbliche Geliebte‘ Beethovens ... sei.“[9]

Amalie Sebald

In der Zwischenzeit glaubte Thomas-San-Galli (1910) in der hochmusikalischen Berliner Sängerin Amalie Sebald (1787-1846) die „Unsterbliche Geliebte“ gefunden zu haben, da Amalie in den Sommermonaten 1811 und 1812 in den böhmischen Bädern eine kurze intensive Bekanntschaft mit Beethoven verband, die, wie überlieferte Briefe und Billette zeigen, zumindest 1811 alle Züge eines starken Flirts angenommen hatte.[10]

Josephine Brunsvik

Dem französischen Schriftsteller Romain Rolland (1928), der zunächst wie La Mara für Therese Brunsvik optiert hatte, fiel gleichfalls eine starke Zuneigung Josephines zu Beethoven auf, als ihm die Brunsvik-Familie zeitweilig Einblick in die damals unveröffentlichten Tagebuchnotizen Thereses gewährte. Eine Reihe weiterer gewichtiger Argumente, die für Josephine Brunsvik, seit 1810 in zweiter Ehe verheiratet mit Christoph Baron von Stackelberg, als „Unsterbliche Geliebte“ sprachen, lieferte Siegmund Kaznelson (1954): Er wertete nicht nur Thereses Tagebuch (in Czeke 1938) aus, sondern zog daraus die Schlussfolgerung, dass Josephines siebtes Kind, Minona von Stackelberg (8. April 1813, Wien – 27. Februar 1897, Wien), die genau neun Monate nach dem Treffen mit der „Unsterblichen Geliebten“ (3. Juli 1812) geboren wurde, möglicherweise Beethovens Kind war. Eine entscheidende Unterstützung dieser These sah Kaznelson in der Tatsache, dass die Ehe zwischen Josephine und Stackelberg zum fraglichen Zeitpunkt völlig zerrüttet war: Baron Stackelberg hatte offensichtlich Frau und Familie einige Wochen zuvor verlassen.

Drei Jahre später, im Jahre 1957 veröffentlichte das Bonner Beethovenhaus erstmals „Dreizehn Liebesbriefe Beethovens an Josephine“,[11] die Beethoven während Josephines Witwenzeit zwischen 1804 und 1809[12] an diese geschrieben hatte und die in Ton und Wortwahl deutlich an den berühmten Brief vom Juli 1812 anklangen.[13] So nannte Beethoven Josephine in diesen Briefen unter anderem „Engel“ und „mein Alles“ sowie „einzig Geliebte“[14], während er in dem berühmten Brief vom Juli 1812 die Adressatin mit „Mein Engel, mein alles, mein Ich“ ansprach und sie später als seine „Unsterbliche Geliebte“ bezeichnete.[15] Das Buch enthielt außerdem einige Briefentwürfe Josephines an Beethoven aus derselben Zeit. Diese sensationelle Publikation – der Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ war bis zum damaligen Zeitpunkt der einzig überlieferte Liebesbrief Beethovens gewesen – hätte eigentlich Kaznelsons These, Josephine sei Beethovens „Unsterbliche Geliebte“ gewesen, gut stützen können.[16] Die Tatsache jedoch, dass aus dem Briefwechsel ersichtlich wurde, dass Josephine auf Druck der Familie sich im Herbst 1807 von Beethoven zurückgezogen hatte – sie ließ sich bei seinen Besuchen nur noch verleugnen –,[17] veranlasste den damaligen Leiter des Beethovenhauses und Herausgeber des Briefwechsels, Schmidt-Görg zu einem Vorwort, in dem er, Kaznelsons Veröffentlichung mit ihren offensichtlich unerwünschten Schlussfolgerungen ignorierend, in gereiztem autoritativem Ton postulierte, der Briefwechsel beweise das definitive Ende der Liebesbeziehung, Josephine könne daher unmöglich die „Unsterbliche Geliebte“ gewesen sein.[18] Dies und die Tatsache, dass das Beethovenhaus den Briefwechsel jahrelang nur in einer schwer zugänglichen Rarum-Ausgabe veröffentlichte, legt den Schluss nahe, dass es dem damaligen Leiter des Beethovenhauses in erster Linie darum ging, Josephine als mögliche Kandidatin für die „Unsterbliche Geliebte“ zu eliminieren.[19]

Das Schmidt-Görg‘sche Verdikt hatte seine erwünschte Wirkung: Lange Zeit traute sich kein Musikwissenschaftler mehr, die Josephine-Hypothese zu thematisieren. Erst im Jahre 1970 wurde sie von dem Ehepaar Brigitte und Jean Massin wieder aufgegriffen, die eine sorgfältige musikologische Studie vorlegten, die aufgrund von Textvergleichen mit den zuvor veröffentlichten vierzehn Briefen und nicht zuletzt aufgrund von Spuren in Beethovens Kompositionen über Jahrzehnte hinweg für Josephine als mit Abstand plausibelster Kandidatin für die „Unsterbliche Geliebte“ plädierte.[20] Besonders in dem für Josephine geschriebenen „lyrischen Menuett“, dem Andante favori WoO 57, dessen biographischer Stellenwert erst durch die Veröffentlichung der vierzehn Liebesbriefe an Josephine in den Fünfziger Jahren manifest geworden war („– hier i h r – i h r – Andante – “),[21] glauben sie eine semantische Chiffre für „Jo-se-phi-ne“ gefunden zu haben, die sich ihrer Ansicht nach in zahlreichen Metamorphosen durch das Beethovensche Gesamtwerk zieht.[22]

Im Jahre 1977 erschien Harry Goldschmidts erwähnte Grundlagenstudie „Um die Unsterbliche Geliebte“, in der er alle anderen Kandidatinnen außer Antonie Brentano und Josephine Brunsvik eliminieren konnte. Offiziell gab er keiner der beiden verbliebenen Frauen den Vorzug, ließ aber indirekt Sympathien für die Josephine-Hypothese durchblicken.[23] In Bezug auf Josephine gelang es ihm u.a., im Deymschen Familiennachlass in Südböhmen die umfangreiche Korrespondenz der Familie Brunsvik zwischen 1799 und 1821 zu sichten. Außerdem baute er den von den Massins entwickelten Ansatz „Musik als biographisches Dokument“ weiter aus.[24]

Die erste Biographie Josephine Brunsviks veröffentlichte 1983 Marie-Elisabeth Tellenbach. In den damals noch zum Ostblock gehörenden Ländern Tschechoslowakei und Ungarn förderte sie in südböhmischen und Budapester Archiven zahlreiche Familiendokumente zutage, die es ihr erlaubten, große Teile von Josephines Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Tellenbach glaubt Indizien für sporadische (indirekte und direkte) Kontakte zwischen Beethoven und Josephine auch für die Zeit nach dem dramatischen Jahr 1812 nachweisen zu können.[25] Insbesondere entdeckte sie einen Briefentwurf Josephines an einen ungenannten Mann vom 8. April – dem Geburtstag ihrer Tochter Minona – (sehr wahrscheinlich 1818), der ihrer Ansicht nach „in Inhalt und Form nur an Beethoven gerichtet gewesen sein kann und eindeutig den berühmten Briefen aus der Frühzeit entspricht.“[26] Des Weiteren griff Tellenbach den musik-biographischen Ansatz von Massin und Goldschmidt auf, um weitere Bezüge zu Josephine in Beethovens Gesamtwerk herauszuarbeiten.[27]

Auf den Arbeiten Tellenbachs baute fast 20 Jahre später die kanadisch-österreichische Musikwissenschaftlerin Rita Steblin auf. Steblin klärte zahlreiche weitere bis dato unbekannte Fakten aus dem Leben Josephines[28] und konnte u.a. anhand eines Dokuments in Stackelbergs Handschrift nachweisen, dass Josephines zweiter Ehemann Christoph von Stackelberg spätestens Ende Juni 1812 definitiv Frau und Familie verlassen hatte[29] und dass Josephine weniger als einen Monat vor dem fraglichen Prager Treffen Beethovens mit der „Unsterblichen Geliebten“ eine Reise nach Prag tatsächlich beabsichtigte.[30]

Dorothea von Ertmann

1969 stellte der New Yorker Musikschriftsteller George Marek (1902–1987) nach umfangreichen Recherchen die Vermutung auf, Dorothea von Ertmann könnte Beethovens „Unsterbliche Geliebte“ gewesen sein. Marek war der erste westliche Autor, der die Erlaubnis erhielt, in den tschechischen Archiven in Prag, Teplitz und Karlsbad zu forschen. Er konnte dort die polizeilichen Meldelisten einsehen, ebenso die Kurlisten sowie die Prager Oberpostamts-Zeitung, die gleichfalls über angekommene Gäste informiert.

Seine These wurde jedoch 1972 durch den ebenfalls in New York lebenden Beethoven-Forscher Maynard Solomon in Frage gestellt. 1977 wurde sie noch einmal von Harry Goldschmidt diskutiert und gleichfalls verworfen.

Antonie Brentano

Aufgrund der von Marek in der damaligen Tschechoslowakei zusammengetragenen Materialien, in die er auch Maynard Solomon Einblick nehmen ließ, stellte dieser 1972 die These auf, bei der Adressatin habe es sich um Antonie Brentano gehandelt.[31] Damit war eine weitere, bis dahin völlig unbeachtete Kandidatin in den Blickpunkt des Interesses gerückt. Beethoven lernte Antonie Brentano Ende Mai 1810 durch ihre Schwägerin Bettina von Arnim kennen. Zwischen beiden entwickelte sich bald eine tiefe Freundschaft, in ihrem Tagebuch spricht Antonie von einer „Wahlverwandtschaft“. Am 11. März 1811 schrieb sie Bettina, Beethoven sei ihr „einer der liebsten Menschen“ geworden und besuche sie „beinahe täglich“. Demselben Brief ist zu entnehmen, dass sie ihren Gatten schon sechs Monate nicht gesehen hatte. Im Jahr darauf ließ sie sich von Beethoven das Originalmanuskript seines Liedes An die Geliebte (WoO 140) schenken, das er im Dezember 1811 komponiert hatte. Sie vermerkte darauf: „den 2n März 1812 mir vom Author erbethen“. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass Antonie inzwischen tatsächlich Beethovens Geliebte war.

Solomon konnte nicht nur nachweisen, dass Antonie auch im Sommer 1812 mit Beethoven Kontakt hatte, es gelang ihm auch zu beweisen, dass sie genau zum fraglichen Zeitpunkt, am 3. Juli 1812, tatsächlich in Prag eintraf, wo sie im Hotel „Rotes Haus“ in der Jesuitengasse Nr. 147, Ecke Egidigasse (heute Karlova ulice 44) abstieg. Des Weiteren konnte er plausibel erklären, wie sie erfahren haben könnte, dass Beethoven gleichfalls in der Stadt war: Genau am 3. Juli 1812 erschien in der deutschsprachigen Prager Oberpostamts-Zeitung eine Meldung über einige der anwesenden Fremden, darunter: „Hr. Baron Wilison, Lieutenant v. E. H. Ludwig, von Wien, (woh. im rothen Haus.) Hr. v. Beethoven, Compositeur, von Wien, (woh. im schwarzen Roß.)“. Das Hotel „Schwarzes Ross“ befand sich in der Prager Neustadt, Alte Allee (am Graben) Nr. 860 oder 861/62. Zudem wohnte Beethovens Reisebegleiter, der junge Karl Wilhelm von Willisen, ein Freund von Karl August Varnhagen von Ense, im selben Hotel wie Antonie Brentano. Außerdem machte Solomon geltend, dass Antonie am 4. Juli 1812 (mit Ehemann, Kind und Bediensteten) von Prag nach Karlsbad weiterreiste. Beethovens Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ ist zu entnehmen, dass er diese zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes in „K.“ vermutete, wohin auch Beethoven Ende Juli 1812 reiste. Er bezog dort in derselben Pension „Zum Auge Gottes“, in der die Brentanos seit Anfang des Monats wohnten, ein Zimmer. Anschließend reiste er mit der Familie Brentano nach Franzensbad, wo er und die Brentanos ebenfalls dasselbe Quartier bezogen.

Bei dem Versuch, die Prager Begegnung am 3. Juli 1812 zu rekonstruieren, ist noch von Interesse, dass Beethoven in dem Brief an die Geliebte einen Diplomaten erwähnt, den Fürsten Paul Anton III. Esterházy, den Beethoven in Teplitz wieder sah. Gegenüber der Unbekannten nennt er ihn lapidar „Esterhazi“ und konnte demnach voraussetzen, sie würde wissen, wer aus dem weit verzweigten Adelsgeschlecht gemeint ist. Jener Esterházy logierte in Prag auf der „Kleinseite“ im vornehmen Hotel „Erzherzog Karl“ in der Karmelitergasse Nr. 379, nur 1000 m von Antonies Unterkunft im „Roten Haus“ entfernt. Eine denkbare Erklärung für die Erwähnung Esterházys wäre somit, dass sich das Liebespaar am Abend des 3. Juli im „Erzherzog Karl“ traf, wo der Komponist zufällig mit dem musikliebenden Fürsten zusammentraf, der ihn womöglich nach seinen Reiseplänen fragte.

Solomons These, die für sich in Anspruch nehmen kann, alle äußeren Präliminarien zu erfüllen, dominiert gegenwärtig die Diskussion im englischsprachigen Bereich. Allerdings weist sie eine Reihe von Ungereimtheiten auf,[32] vor allem die inneren Bedingungen scheinen einigen Forschern – besonders im deutschsprachigen Bereich – im Falle Josephines besser erfüllt.[33]

Zusammenfassung

Die Analyse des Inhalts des Briefes an die „Unsterbliche Geliebte“ (Brandenburg 2001) zusammen mit der tragischen Situation, in der sich Josephine Brunsvik zu diesem Zeitpunkt befand – verlassen von ihrem Ehemann, krank und verzweifelt, in finanziellen Nöten – und insbesondere der textanalytische Vergleich mit den bekannten vierzehn Liebesbriefen Beethovens aus den Jahren 1804-1809/10 lassen es inzwischen als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass nur Josephine die Adressatin gewesen sein kann.[34] Josephine war höchstwahrscheinlich allein und incognito nach Prag gereist und wohnte bei einer ihrer Verwandten, was bedeutete, dass sie sich nicht polizeilich melden musste.[35] Wie Steblin (2007) nachwies, hatte sie weniger als einen Monat vor dem fraglichen Zeitpunkt vor, nach Prag zu fahren.[36]

Außer Josephine könnte theoretisch nur noch Antonie Brentano in Betracht kommen, die sich zur fraglichen Zeit knapp einen Tag lang in Prag aufhielt. Allerdings sind in jeder anderen Hinsicht so viele Zweifel angebracht, dass dieses Faktum allein für den Großteil der deutschsprachigen Fachwelt nicht als hinreichend gelten kann. Alle weiteren Kandidatinnen scheiden ohnehin aus, da sie zu der fraglichen Zeit definitiv nicht in Prag waren.

Nach einer sehr detaillierten Diskussion um das Für und Wider der beiden noch verbliebenen Kandidatinnen, Antonie Brentano und Josephine Brunsvik, kommt Harry Goldschmidt zusammenfassend zu folgendem Schluss:[37]

  • 1. Josephine ist die einzige Frau, die Beethoven nachweislich anhaltend und leidenschaftlich geliebt hat.[38]
  • 2. In den 13 bzw. 14 Briefen der Leonorenjahre ist viermal von der „Einzig Geliebten“ die Rede. Ist die Annahme überhaupt erlaubt, daß die „Unsterbliche Geliebte“ von 1812 eine andere wäre? Oder erklärt sich der zuerkannte exzeptionelle Status gerade daraus, dass es sich nach wie vor um dieselbe Frau, nämlich die „Einzig Geliebte“ handelt?
  • 3. Die Versicherung der erwiesenen Treue.[39]
  • 4. Das auffallend übereinstimmende, stellenweise identische Vokabular der früheren Briefe mit dem vom Sommer 1812.[40]
  • 5. Der Satz „doch nie verberge dich vor mir“, der genau auf das demütigende Ende der fünf Jahre zuvor unterbrochenen Liebesbeziehung zurückweist, die hier wieder aufgenommen scheint.[41]
  • 6. Josephine war zu diesem Zeitpunkt eine leidende Frau.[42]
  • 7. Infolge des Zusammenbruchs ihrer zweiten Ehe war sie eine verlassene Frau geworden. Ihre Ehe bestand zum fraglichen Zeitpunkt, im Juli 1812, de facto nicht mehr. Beethovens konnte sich also in diesem Falle guten Gewissens über seine strengen moralischen Grundsätze, sich niemals einer verheirateten Frau zu nähern, hinwegsetzen.[43]

Die Summe dieser Argumente, die sich vor allem auf die inneren Bedingungen beziehen, hat den überwiegenden Teil der deutschsprachigen Fachwelt dazu bewogen, für Josephine als die plausibelste Kandidatin zu plädieren. Dagegen erscheint die Tatsache, dass bei Antonie sämtliche äußeren Präliminarien erfüllt sind,[44] für den Großteil der englischsprachigen Fachwelt offensichtlich so beweiskräftig, dass er sich trotz der erheblich weniger gut passenden inneren Umstände für Antonie entschieden hat.

Literatur

  • Anton Schindler (1840): Biographie von Ludwig van Beethoven, Münster
  • Mariam Tenger (1890): Beethoven’s Unsterbliche Geliebte Bonn: Nusser
  • La Mara (1909) [Ida Maria Lipsius]: Beethovens Unsterbliche Geliebte. Das Geheimnis der Gräfin Brunsvik und ihre Memoiren Leipzig: Breitkopf & Härtel
  • Wolfgang A. Thomas-San-Galli (1910): Beethoven und die Unsterbliche Geliebte: Amalie Sebald. Goethe, Therese Brunswik und anderes, München
  • Max Unger (1911): Auf Spuren von Beethovens „Unsterblicher Geliebten“, Langensalza
  • La Mara [Ida Maria Lipsius] (1920): Beethoven und die Brunsviks. Nach Familienpapieren aus Therese Brunsviks Nachlaß, Leipzig: Siegel
  • Oscar George Sonneck (1927): The Riddle of the Immortal Beloved, New York
  • Romain Rolland (1928): Beethoven the Creator. The Great Creative Epochs: I. From the Eroica to the Appassionata. Übers. Ernest Newman. New York: Garden City
  • Marianne Czeke (1938): Brunszvik Teréz grófno naplói és feljegyzései [Gräfin Therese Brunsviks Tagebuch und Notizen.] Vol. 1. Budapest
  • Siegmund Kaznelson (1954): Beethovens Ferne und Unsterbliche Geliebte, Zürich: Standard
  • Joseph Schmidt-Görg (Hg., 1957): Beethoven: Dreizehn unbekannte Briefe an Josephine Gräfin Deym geb. v. Brunsvik, Bonn: Beethoven-Haus
  • Editha & Richard Sterba (1964): Ludwig van Beethoven und sein Neffe. Tragödie eines Genies. Eine psychoanalytische Studie, München (Erstausgabe: 1954, New York)
  • Joseph Schmidt-Görg (1969), Neue Schriftstücke zu Beethoven und Josephine Gräfin Deym, in: Beethoven-Jahrbuch 1965/68, S. 205-208, Bonn
  • Jean & Brigitte Massin (1970): Recherche de Beethoven, Paris: Fayard
  • Maynard Solomon (1972): New light on Beethoven's letter to an unknown woman, in: The Musical Quarterly, Vol. 58, S. 572–587
  • Gerda Brosche-Graeser (1974): Beethovens unsterbliche Geliebte. Legenden, Vermutungen, Tatsachen, München
  • Willy Hess (1976): Beethoven, Überarbeitete Neuauflage, Winterthur
  • Harry Goldschmidt (1977): Um die Unsterbliche Geliebte. Eine Bestandsaufnahme, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik
  • Maynard Solomon (1979): Beethoven, Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrike v. Puttkamper, München
  • Harry Goldschmidt (1979): Aspekte gegenwärtiger Beethoven-Forschung. Biographie, in (ders.; Hg.): Zu Beethoven. Aufsätze und Annotationen, Leipzig, S. 167-242
  • Marie Elisabeth Tellenbach (1983): Beethoven und seine „Unsterbliche Geliebte“ Josephine Brunswick. Ihr Schicksal und der Einfluß auf Beethovens Werk, Zürich, ISBN 3-254-00095-1
  • Virginia Beahrs (1986): The Immortal Beloved Revisited in: The Beethoven Newsletter 1/2, S. 22–24
  • Marie-Elisabeth Tellenbach (1987): Beethoven and the Countess Josephine Brunswick, in: The Beethoven Newsletter 2/3, S. 41-51
  • Virginia Oakley Beahrs (1988): The Immortal Beloved Riddle Reconsidered, in: Musical Times, Vol. 129/1740, S. 64–70
  • Marie-Elisabeth Tellenbach (1988): Künstler und Ständegesellschaft um 1800: die Rolle der Vormundschaftsgesetze in Beethovens Beziehung zu Josephine Gräfin Deym, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2/2, S. 253-263
  • Virginia Beahrs (1993): Beethoven's Only Beloved? New Perspectives on the Love Story of the Great Composer, in: Music Review 54, no. 3/4, S. 183-197.
  • Marie-Elisabeth Tellenbach (1993/1994): Psychoanalysis and the Historiocritical Method: On Maynard Solomon‘s Image of Beethoven, in: The Beethoven Newsletter 8/3, S. 84–92; 9/3, S. 119–127
  • Ernst Pichler (1994): Beethoven. Mythos und Wirklichkeit, Vienna: Amalthea
  • Sieghard Brandenburg (Hg., 1996-1998), Ludwig van Beethoven, Briefwechsel. Gesamtausgabe, 7 Bände, München: Henle
  • Gail S Altman (1996): Beethoven: A Man of His Word – Undisclosed Evidence for his Immortal Beloved, Anubian Press
  • Marie-Elisabeth Tellenbach (1998): Psychoanalyse und historisch-philologische Methode. Zu Maynard Solomons Beethoven- und Schubert-Deutungen, in: Analecta Musicologica 30/II, S. 661–719
  • Klaus Martin Kopitz (2001): Antonie Brentano in Wien (1809–1812). Neue Quellen zur Problematik „Unsterbliche Geliebte“, in: Bonner Beethoven-Studien, Band 2, S. 115–146, ISBN 3-88188-063-1
  • Rita Steblin (2002): Josephine Gräfin Brunswick-Deyms Geheimnis enthüllt: Neue Ergebnisse zu ihrer Beziehung zu Beethoven, in: Österreichische Musikzeitschrift 57/6, S. 23–31
  • Rita Steblin (2007): „Auf diese Art mit A geht alles zugrunde." A New Look at Beethoven's Diary and the „Immortal Beloved“, in: Bonner Beethoven-Studien Band 6, S. 147-180, Bonn: Verlag Beethoven-Haus
  • Sieghard Brandenburg (Hg., 2001): Beethoven. Der Brief an die unsterbliche Geliebte. Beethoven-Haus, Bonn, ISBN 3-88188-045-3
  • Yayoi Aoki (2008): Beethoven – Die Entschlüsselung des Rätsels um die „Unsterbliche Geliebte“, aus dem Japanischen von Annette Boronnia [!], München, ISBN 978-3-89129-184-9
  • Klaus Martin Kopitz (2008): Antonie Brentano, in: Das Beethoven-Lexikon, hrsg. von Heinz von Loesch und Claus Raab, Laaber, S. 144–145
  • Claus Raab (2008): Unsterbliche Geliebte, in: ebenda, S. 798–801
  • Rita Steblin (2009): Beethovens „Unsterbliche Geliebte“: des Rätsels Lösung, in: Österreichische Musikzeitschrift 64/2, S. 4–17
  • Edward Walden (2011): Beethoven’s Immortal Beloved. Solving the Mystery, Lanham, Maryland: Scarecrow
  • John E Klapproth (2011): Beethovens Einzige Geliebte: Josephine! [1] Charleston, SC: CreateSpace, ISBN 978-1467937856

Einzelnachweise

  1. Der Brief wurde erstmals in unangetasteter Orthographie veröffentlicht in Goldschmidt (1977), S. 19f. Der Band enthält auch den Brief als Faksimile, so dass auch Beethovens Schriftbild, inclusive einer durchgestrichenen Passage, eingesehen werden kann. Der Brief findet sich in seiner Originalschreibweise auch hier: beethoven-haus-bonn.de
  2. Der „schreckliche, grundloße Landweg“, den Beethoven in seinem Brief erwähnt und der nach dessen Angaben nicht nur bei ihm auf einem Waldweg, sondern auch bei „Esterhazi ... auf dem anderen gewöhnlichen Wege hierhin“ zur Folge hatte, dass das Fahrzeug mit Bruch steckenblieb, brachte Unger auch erstmals auf die Idee, für seine Datierung die Wetterumstände von Anfang Juli 1812 heranzuziehen. Dabei entdeckte er, dass Goethe, der sich um dieselbe Zeit in Karlsbad aufhielt, in seinem Tagebuch für Anfang Juli fast ausschließlich schlechte Wetterverhältnisse mit Regen notiert hatte. Damit wurde die Datierung auf das Jahr 1812 durch weitere Indizien gestützt. (vgl. Goldschmidt 1977, S. 47-51)
  3. Ludwig van Beethoven, Briefwechsel. Gesamtausgabe, hrsg. von Sieghard Brandenburg, Band 2, München 1996, Nr. 583
  4. Goldschmidt (1977)
  5. Das hindert nicht einige, vor allem englischsprachige Autoren daran, immer wieder längst eliminierte Kandidatinnen (wie z.B. Bettina Brentano) als „neueste und endgültige“ Funde zu präsentieren. Diese Disparität der gesamten Diskussion, die sich bisweilen im Kreise dreht, liegt darin begründet, dass eine Reihe von grundlegenden Werken wie z.B. die von Massin (1970), Goldschmidt (1977) oder Tellenbach (1983) nie ins Englische übersetzt wurden. – Aktueller denn je ist daher Goldschmidts klassisches Dictum: „Wie der neunköpfigen Hydra jeder abgeschlagene Kopf auf der Stelle doppelt nachwuchs, genügt es, aus der Zahl der unaufhörlichen Hypothesen eine längst widerlegt zu wissen, um an ihrer Stelle sofort mindestens eine neue emporschießen zu sehen. Desgleichen kann man alte, längst widerlegte in bestimmten Zeitintervallen mehr oder weniger variiert wiederkehren sehen.“ (Goldschmidt 1977, S. 5.)
  6. Außer den hier Genannten wurden unter anderem auch noch Marie Erdödy, Dorothea Erdmann und Bettina Brentano als mögliche Kandidatinnen präsentiert. Alle konnten dem von Goldschmidt vorgenommenen Eliminierungsverfahren nicht standhalten.
  7. „Drei Briefe Beethovens angeblich an Giulietta. Sollten es Machwerke sein?“ (Therese Brunsvik in ihrem Tagebuch, 12. November 1840, in: Tellenbach (1983), S. 15; Beethoven in der Sicht seiner Zeitgenossen (2009), Band 1, S. 157.) Später, am 15. Januar 1847, notierte sie in ihrem Tagebuch: „3 Briefe an Giulietta, sie werden wohl an Josephine sein die er leidenschaftlich geliebt hat.“ (ebenda, S. 159.) Von den zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Brunsvik-Geschwistern Franz, Charlotte und Therese war Therese Gräfin von Brunsvik diejenige, die von der geheimen Liebe zwischen Beethoven und ihrer Schwester Josephine das meiste wusste. Größere Teile von Thereses geheimem Tagebuch wurden erstmals von Czeke (1938) in Ungarn veröffentlicht. – Schindler erwähnt die Brunsvik-Schwestern in seiner umfangreichen Beethoven-Biographie kein einziges Mal.
  8. Pseudonym von Ida Marie Lipsius (1837–1927), sie schrieb Biographien aller bekannten Komponisten ihrer Zeit und viele Beiträge zur Musikgeschichte.
  9. La Mara (1920), S. 1
  10. Vgl. dazu Goldschmidt (1977), S.182-185 sowie S. 349.
  11. Schmidt-Görg (1957). Ein weiterer vierzehnter „Brief“, ein in Josephines Abschrift überliefertes Fragment, kam später noch dazu. (vgl. Schmidt-Görg 1969)
  12. Rita Steblin datiert den letzten Brief Beethovens aus diesem Briefwechsel eher auf 1810/11.
  13. Vgl. Massin (1970), Goldschmidt (1977), S. 144-156 sowie Tellenbach (1983), S. 103f.
  14. cit. nach Schmidt-Görg (1957), S. 1 bzw. 15.
  15. cit. nach Goldschmidt (1977), S. 19f.
  16. Kaznelson war zuvor der Einblick in den Briefwechsel zwischen Beethoven und Josephine vom damaligen Besitzer der Briefe, Dr. H. C. Bodmer in Zürich verweigert worden. (vgl. Goldschmidt 1977, S. 354, Anm. 18.)
  17. „Briefe aus Thereses Nachlaß verraten, … daß zufolge Drängens der Familie Brunsvik die Beziehungen zwischen Josephine Deym und Beethoven abgebrochen wurden.“ So bereits La Mara 1920, S. 62 f, die dies noch widerspruchsfrei mit ihrer These, Josephine sei die „Unsterbliche Geliebte“ gewesen, in Übereinstimmung bringen konnte, da sie den berühmten Brief irrtümlich auf das Jahr 1807 datiert hatte.
  18. „Als Josephine den Baron Stackelberg heiratete, waren für Beethoven die Liebesbeziehungen zur Gräfin zu Ende gegangen. Es besteht also keine Veranlassung, seine oft geäußerte Einstellung zu verheirateten Frauen in Zweifel zu ziehen. Das Geheimnis um die ‚Unsterbliche Geliebte‘ bleibt nach wie vor verhüllt.“ (Schmidt-Görg 1957, S. 31) Dazu Harry Goldschmidt: „Mehr hört man den Wunsch heraus: Es soll verhüllt bleiben.“ (1977, S. 139. Weitere intensive Auseinandersetzungen mit den apodiktischen Thesen Schmidt-Görgs: Goldschmidt 1977, S. 42-47 sowie 138-144.) Gegen Schmidt-Görgs Argumentation, die deutlich erkennbar dem Prinzip, dass nicht sein könne, was nicht sein dürfe, folgte, wurde wiederholt eingewendet (z.B. Massin 1970, Goldschmidt 1977, Tellenbach 1983), dass abgebrochene Liebesbeziehungen auch wieder aufgenommen werden können.
  19. Schmidt-Görg (1957, S. 34) erhob zudem die Erbringung eines Beweises für die Anwesenheit Josephines zum fraglichen Zeitpunkt in Prag zur Grundbedingung einer weiteren Diskussion über ihre mögliche Identität mit der „Unsterblichen Geliebten“. Damit wurde von ihm bereits die Möglichkeit ihrer Anwesenheit in Prag aus der Diskussion verdammt.
  20. Das Werk erschien auf Französisch und wurde nie in andere Sprachen übersetzt, was dessen Wirkung erheblich schmälerte.
  21. Brandenburg (1996), Nr. 220.
  22. Massin (1970), S. 135.
  23. z.B. Goldschmidt (1977), S. 231.
  24. Vgl. Goldschmidt (1977), S. 257-352. – Da Goldschmidts Grundlagenwerk nie ins Englische übersetzt wurde, verfehlte es leider einen Großteil seiner Wirkung, mit der erwähnten Folge, dass im englischsprachigen Raum bis in die neueste Gegenwart hinein immer wieder längst eliminierte Kandidatinnen aufs Neue präsentiert werden. (s.o.)
  25. Vgl. Tellenbach (1983), S. 151-161 sowie S. 177f.
  26. Tellenbach (1983), S. 194f, wo der Briefentwurf auch wiedergegeben ist. Er findet sich im selben Band auch vor S. 113 als Faksimile.
  27. Tellenbach (1983), S. 205-267. – Auch Tellenbachs Buch wurde nicht ins Englische übersetzt und erlitt daher dasselbe Schicksal wie die Werke von Massin und Goldschmidt. Josephine als zweite verbliebene Kandidatin für die „Unsterbliche Geliebte“ und die Argumente, die für sie geltend gemacht werden, sind daher in der anglophonen Welt weitestgehend unbekannt. (Immerhin veröffentlichte Tellenbach 1993/94 einen Essay, in dem sie sich explizit mit den Thesen Solomons auseinandersetzte.)
  28. Steblin (2002, 2007, 2009).
  29. Steblin 2007, S. 163-169
  30. Steblin 2007, S. 158-163, insbesondere die Passage aus Josephines Tagebuch um/nach dem 8. Juni 1812: „St[ackelberg] (...) ist gefühllos für bittende in der Noth. (...) Ich will Liebert in Prague [!] sprechen. ich will die Kinder nie von mir lassen.“ (s.u.) Dieses „missing link“ hatte Kaznelson in seinem Werk noch mit viel Phantasie überbrücken müssen. (vgl. auch Steblins zusammenfassenden deutschen Essay von 2009.)
  31. Ebenso Brandenburg (2001), Kopitz (2001, 2008), Aoki (2008).
  32. So ist beispielsweise unklar, wie man sich angesichts des kurzen Aufenthaltes Antonies in Prag (weniger als ein Tag) und der Tatsache, dass sie sich dort mit Ehemann, Tochter Fanny und Bediensteten aufhielt, das fragliche Treffen mit Beethoven, womöglich inclusive körperlicher Vereinigung (einige Indizien im Brief scheinen dafür zu sprechen), überhaupt vorzustellen hat. (vgl. z.B. Steblin 2007, S. 148 sowie Goldschmidt 1977, S. 123) Ähnliches gilt für das anschließende dichte Zusammenleben Beethovens mit den Eheleuten Brentano – eine „ménage à trois“ auf engstem Raume bei Beethovens notorisch unbeherrschtem Charakter? – und ihrem Anhang in Karlsbad und danach in Franzensbad. (vgl. Goldschmidt 1977, S. 125) Überhaupt stellt sich grundsätzlich die Frage, warum im Falle Antonies Beethoven es unternahm, einen solch kompromittierenden Brief an eine Frau zu schreiben, die sich am betreffenden Ort („K.“) gerade zusammen mit ihrer Familie aufhielt: Im Falle einer niemals völlig auszuschließenden Entdeckung des Briefes durch Antonies Ehemann Franz wären die Folgen für alle Beteiligten, zumal bei einer gleichzeitigen Anwesenheit Beethovens, unabsehbar gewesen. (Unter diesen Voraussetzungen ist nur eine einzige Konsequenz denkbar: Das „corpus delicti“, der alle Spannungen heraufbeschwörende Brief, wurde von Beethoven – möglicherweise im letzten Moment – nicht abgeschickt! Vgl. Goldschmidt 1977, S. 125f.) Auch Beethovens Konstatierung seiner erwiesenen Treue gegenüber der „Unsterblichen Geliebten“ scheint nicht besonders gut zu einem Kontakt zu passen, der zum fraglichen Zeitpunkt lediglich etwas über zwei Jahre alt war. (Zeitlich dazwischen hatten auch noch Beethovens lebhafte Neigung zu Antonies Schwägerin Bettina Brentano in den Jahren 1810/11 und sein starker Flirt mit Amalie Sebald vom Sommer 1811 – mit dem „feurigen Kuß, wenn uns niemand sieht“ – gelegen. Entsprechend wird der Beginn der „zarten Freundschaft“ mit Antonie im allgemeinen auf Ende 1811, mithin maximal neun Monate vor dem berühmten Brief, datiert. Vgl. Goldschmidt 1977, S. 124f sowie 349.) Auf den Kontakt zu Antonie lässt sich außerdem Beethovens Verweis auf Esterházy im Brief nicht plausibel beziehen, mit dem zwar Josephine, nicht aber Antonie persönlich bekannt war. Schließlich ergibt die Passage „… doch nie verberge dich vor mir“ aus demselben Brief auf Antonie bezogen keinen Sinn, denn sie hatte sich Beethoven gegenüber niemals so verhalten. – Stark umstritten sind nicht zuletzt die psychologischen Interpretationen des berühmten Briefes durch Solomon, der unter anderem Beethovens strapaziöse Reise von Prag nach Teplitz (4./5. Juli 1812) – durch einen Wald, den man ihn „fürchten machte“ und wo auf dem „schrecklichen Wege (...) grundloß bloßer Landweg“ der Wagen brach – ins Unbewusste verlagert und als Angst vor der Frau und der Sexualität umdeutet: „Wir beginnen zu spüren, dass Beethoven hier keine irdische Fahrt einer täglich verkehrenden Postkutsche durch den Regen beschreibt, sondern eine symbolische Reise, die die Gefahr seines eigenen Weges von einer ängstlichen Isolation zu Mannheit und Vaterschaft darstellt. (...) Der furchterregende Wald und der grundlose schlammige Weg mögen als Symbol für Beethovens große Angst vor Antonies Liebe interpretiert werden, vor einer Umarmung, die ihn in den Abgrund stürzen würde und der er sich nicht überlassen kann, weil es irgendwie verboten ist.“ (Solomon 1979, S. 187) Dazu lapidar Goldschmidt: „Damit dürfte ein Musterbeispiel gegeben sein, wie die psychoanalytische Hermeneutik sich über Fakten hinwegsetzt. Die ganze Unzulässigkeit der Methode wird greifbar.“ (Goldschmidt 1979, S. 217)
  33. Dazu zusammenfassend Hess: „Mag Solomon nun auch mit wissenschaftlicher Akribie nachweisen, daß alle äußeren Fakten für seine Hypothese sprechen: innere Gründe sprechen ebenso dagegen.“ (Hess 1976, S. 167) – Sehr detaillierte Auseinandersetzungen, vor allem mit Solomons psychologischen Schlussfolgerungen, die zum Teil auch noch auf Übersetzungsfehlern basieren, finden sich bei Goldschmidt (1977 sowie 1979, S. 213-217), Tellenbach (1983 S. 35ff und vor allem 1998) sowie Pichler (1994, S. 272-276). Des Weiteren in Englisch: Beahrs (1986, 1988, 1993), explizit Tellenbach (1993/1994), Altman (1996), Steblin (2007) und Klapproth (2011). – Alle weiteren Kandidatinnen wie Bettina Brentano (zuletzt Walden 2011), Gräfin Marie Erdödy (zuletzt Altman 1996), Dorothea von Ertmann und Magdalene Willmann wurden von der Forschung längst widerlegt oder erfüllen nicht die äußeren Präliminarien. Eine 1964 von dem Ehepaar Editha und Richard Sterba aufgestellte Hypothese, Beethovens Neffe Karl sei das Objekt dessen homoerotischer Neigungen gewesen, enthielt viel Psychoanalyse aber wenig Fakten und fand in der Musikwissenschaft kaum Anhänger, zumal das Paar mit der Beethoven-Literatur nur oberflächlich vertraut war. Das Buch ignorierte zudem konsequent die sieben Jahre zuvor veröffentlichten „Dreizehn Liebesbriefe Beethovens an Josephine“, die nicht unbedingt für Beethovens homoerotische Neigungen sprechen. Die absurdeste, von der Forschung niemals gestützte Version präsentierte jedoch der auch sonst nicht gerade faktenfundierte Spielfilm Ludwig van B. – Meine unsterbliche Geliebte in Gestalt von Beethovens verhasster Schwägerin Johanna geb. Reiss, der Mutter von Beethovens Neffen Karl van Beethoven.
  34. Kaznelson (1954), Brosche-Graeser (1974), Goldschmidt (1977), Tellenbach (1983, 1987), Steblin (2002, 2007, 2009).
  35. Goldschmidt macht geltend, dass „Josephine bei ihren häufigen Besuchen nach Prag niemals im Gasthof logierte, sondern stets bei ihrer Schwägerin, der Gräfin Golz, wohnte. Das berechtigt zu der Vermutung, daß das Wiedersehen mit Beethoven sich in deren Hause in der Prager Neustadt zugetragen hat.“ (Goldschmidt 1977, S. 180.)
  36. „St[ackelberg] (...) ist gefühllos für bittende in der Noth. (...) Ich will Liebert in Prague [!] sprechen. ich will die Kinder nie von mir lassen. (...) Ich habe Stackb zu liebe [mich] physisch zugrunde gerichtet indem ich (...) noch so viele Kummer und Krankheit durch ihn zugezogen habe.“ (Josephines Tagebuch, um/nach 8. Juni 1812, in Steblin 2007, S. 162.)
  37. Goldschmidt (1977), S. 231.
  38. Es gibt keine anderen Liebesbriefe Beethovens und nirgends Andeutungen von ihm, die in Richtung einer Liebesbeziehung zu einer anderen Frau gedeutet werden könnten.
  39. Es ist auffallend, daß Beethoven gerade in den Briefen von 1807, als Josephine gezwungen wurde, sich vor ihm zu verbergen, ihr mehrmals seine „ewige Treue“ versprach.
  40. In den fünfzehn Briefen an Josephine Brunsvik nennt Beethoven diese unter anderem „Engel“ und „mein Alles“ sowie „einzig Geliebte“ (cit. nach Schmidt-Görg 1957, S. 19 bzw. 15).
  41. Dies lässt sich (s.o.) in keiner Weise plausibel auf Antonie Brentano beziehen – sie hatte sich niemals vor Beethoven „verborgen“.
  42. Sie war krank und verlassen, wie Beethoven in dem berühmten Brief mehrmals bemerkte: „Du leidest mein theuerstes Wesen ...“
  43. Die vollkommene Zerrüttung der Stackelbergschen Ehe – von einer analogen Zerrüttung der Ehe von Antonie Brentano kann nicht die Rede sein – ist mittlerweile sehr gut dokumentiert. (Goldschmidt 1977, Tellenbach 1983, Steblin 2007) Eine gerichtliche Trennung, von Josephine damals herbeigeführt, würde den Weg für die von Beethoven in seinem Brief an die „Unsterbliche Geliebte“ geforderte permanente Verbindung („mache, daß ich mit dir leben kann“) freigelegt haben. Dies allerdings um den Preis, dass Josephine in diesem Falle die Vormundschaft über ihre Kinder verloren hätte. (Tellenbach 1988)
  44. Im Gegensatz zu Antonie konnte Josephines Anwesenheit zum fraglichen Zeitpunkt in Prag bis heute nicht bewiesen werden. Allerdings konnte sie auch nicht falsifiziert werden, und die neuen Funde von Steblin (2007) beweisen, dass sie eine solche Reise wenige Wochen zuvor tatsächlich beabsichtigte. Mit der Anwesenheit Josephines in Prag am 3. Juli 1812 muss also nach wie vor gerechnet werden.

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