Verfassung des Osmanischen Reiches

Verfassung des Osmanischen Reiches
Titelblatt des Osmanischen Grundgesetzes, 1876
Datum mit der Unterschrift Sultan Abdülhamids II. auf der Verfassungsurkunde

Die Osmanische Verfassung (osm.قانون اساسىKanûn-ı Esâsî, wörtlich „Grundgesetz“; türk. Temel Kanun) vom 23. Dezember 1876 war die erste und zugleich letzte schriftlich fixierte Verfassung des Osmanischen Reiches.

Kern des Verfassungsdokuments war die Einführung eines Zweikammernparlaments, mithin der Weg in die konstitutionelle Monarchie, sowie die Verankerung von Grundrechten. Allerdings bestimmte der Sultan über Gesetzgebung und durch sein Verbannungsrecht auch über seine Untertanen. Im Februar 1878 setzte Sultan Abdülhamid II. die Verfassung faktisch außer Kraft und herrschte – über dreißig Jahre lang – bis zur Wieder-In-Kraftsetzung im Juli 1908 als absoluter Monarch.

Schließlich wurde die Verfassung am 20. April 1924 de jure durch die Türkische Verfassung von 1924 aufgehoben, nachdem sie de facto bereits zwischen den Jahren 1921 und 1923 durch das Gesetz über die grundlegende Organisation samt Anhang und Abänderungen schrittweise außer Kraft gesetzt worden war.

Inhaltsverzeichnis

Entstehungsgeschichte

Bündnisvertrag

Alemdar Mustafa Pascha

Im Jahr 1807 revoltierten die Janitscharen unter Führung Kabakçı Mustafas[1], entthronten Selim III., der mit Hilfe europäischer Ausbilder die Armee zu reorganisieren versuchte, und setzten Mustafa IV. als Sultan ein. Dieser versuchte, vorangegangene Reformen rückgängig zu machen, woraufhin Alemdar Mustafa Pascha mit seiner Armee nach Istanbul marschierte, um Selim erneut auf den Thron zu bringen. Da Selim III. während der Belagerung des Palastes ermordet wurde, ließ Alemdar Mustafa Pascha Mustafa IV. töten und am 28. Juli 1808 dessen Bruder Mahmud II. – der einzige noch lebende legitime Thronanwärter – zum Sultan ausrufen. Mustafa Pascha selbst wurde der Großwesir des Sultans.[2][3]

Zu dieser Zeit erkannten lokale Machthaber in Anatolien und Rumelien die zentrale Autorität nicht an und sagten sich zum Teil von dieser los. Der Großwesir lud jene Notabeln (âyan) zu Gesprächen in die Hauptstadt ein, wo sie am 29. September 1808[4] aufgenommen wurden. Die Teilnehmer trafen mit – zeitgenössischen Berichten nach – 70.000[5] eigenen Soldaten in Istanbul ein und wurden außerhalb der Stadt untergebracht.[1] Am 7. Oktober 1808 unterzeichneten sie den Sened-i İttifâk (‏سند اتفاق‎ /„Bündnisvertrag“), durch den der Sultan auf seine Verfügungsgewalt über Leben und Eigentum der Âyan verzichtete. Die Notabeln erkannten im Gegenzug die Zentralmacht an und sprachen dem Sultan ihre Treue aus.[6][7]

Dieser Vertrag gewährte somit – ähnlich wie die Magna Carta dem Adel in England[5][8] – den Notabeln grundlegende Freiheiten gegenüber dem osmanischen Sultan und war der erste Schritt zur konstitutionellen Monarchie. Letztlich war der Bündnisvertrag eine Verfassung im materiellen Sinn beziehungsweise ein verfassungsähnliches Dokument.[9]

Die treibende Kraft hinter diesem Schriftstück, Alemdar Mustafa Pascha, verstarb am 14. November 1808, wodurch der Vertrag faktisch seine Gültigkeit verlor. Schließlich weigerten sich auch spätere Großwesire die Urkunde zu unterzeichnen, womit sie endgültig unwirksam wurde.[1]

Hatt-ı Şerif von Gülhane

Sultan Abdülmecid I.

Nach dem Tod Mahmuds II. folgte ihm am 2. Juli 1839 sein Sohn Abdülmecid I. auf den Thron. Im Einklang mit den ausdrücklichen Anweisungen seines Vaters machte er sich daran, die Reformen durchzuführen, denen Mahmud sich gewidmet hatte. Am 3. November 1839 verkündete Außenminister Reşit Pascha das von ihm erarbeitete und als Fortsetzung der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte angesehene[10] Hatt-ı Şerif (‏خط شريف‎ /„Edles Handschreiben“) von Gülhane, womit er die Epoche des Tanzimat einläutete, also die Periode tiefgreifender Reformen im Osmanischen Reich. Das Handschreiben, das einem Motu Proprio entspricht, enthielt die Grundlinien für diese Reformen. Der kaiserliche Erlass garantierte unabhängig von der Religionszugehörigkeit den Schutz „des Lebens, der Ehre und des Vermögens der Bevölkerung“. Des Weiteren versicherte der Sultan die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren, die gerechte Verteilung von Steuern und die Reduzierung der Wehrdienstdauer auf vier bis fünf Jahre.

Eine weitere Errungenschaft des Handschreibens stellte die Einrichtung des Rates für Justizangelegenheiten (Meclis-i Ahkâm-ı Adliye) dar. Dieser fertigte Gesetzentwürfe an und legte sie dem Herrscher zur Sanktionierung vor.[11]

Im formellen Sinn war dieser Erlass keine Verfassung und ebenfalls kein einklagbares Recht. Gleichwohl spielte das Hatt-ı Şerif von 1839 eine bedeutende Rolle in der Verfassungsentwicklung des Reiches, zumal es ein Versprechen der späteren Verfassung war.[9][12]

Großherrliches Handschreiben

Das Hatt-ı Hümâyûn (‏خط همايون‎ /„Großherrliches Handschreiben“) der Hohen Pforte wurde am 18. Februar 1856, also 18 Tage nach dem Waffenstillstand im Krimkrieg, verkündet. Es bestätigte und entwickelte die Reformen im Hatt-ı Şerif weiter.

Ziel des Schreibens war die gänzliche Gleichstellung zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Untertanen, indem das Millet-System aufgelöst und allen Religionsgemeinschaften das osmanische Untertansrecht zugesprochen wurde. So wurde Nichtmuslimen der bis dahin, außer der Millet-i Rum[13] (griechische Glaubensnation), verwehrte Zugang zu Staatsposten ermöglicht. Die Ridda wurde Schari'a-widrig nicht mehr mit dem Tode bestraft. Nichtmuslime wurden in Militärschulen aufgenommen und auch in Hinsicht der zu entrichtenden Steuern (vgl. Dschizya) wurde eine Gleichstellung angestrebt.[14] Im Sinne eben dieser Gleichstellung bestimmte Art. 15, dass „gleiche Rechte auch gleiche Pflichten“ mit sich brachten. So waren Nichtmuslime nun wehrpflichtig, konnten allerdings zur Befreiung einen Ersatzmann stellen oder eine Wehrsteuer (bedel-i nakdi) entrichten.[15] Für die muslimischen Untertanen bedeutete dies wiederum, dass auch sie durch eine Zahlung vom Wehrdienst befreit werden konnten.[16]

Verfassung

Erste Verfassungsperiode

Im Verlauf der Jahre 1875 und 1876 kam es zu großen Aufständen in Bosnien-Herzegowina und Bulgarien (siehe Bulgarischer Aprilaufstand 1876). Außenpolitisch näherte man sich im Palast Russland, das den Rebellen allerdings Unterstützung zusagte, an. Der Aufstand vom 10./ 11. Mai 1876 gegen diese Annäherung führte unter anderem zur Entlassung des Großwesirs Mahmud Nedim Pascha und der Neubesetzung der obersten Posten. Großwesir wurde Mütercim Mehmed Rüşdi Pascha, Scheichülislam Hasan Hayrullah Efendi und Kriegsminister Hüseyin Avni Pascha. Diese setzten zusammen mit dem Vorsitzenden des Staatsrates Midhat Pascha den Herrscher Abd ul Aziz am 30. Mai 1876 ab und seinen Neffen Mehmed Murad Efendi als Murad V. ein. In den folgenden Tagen kam es zu größeren Streitereien zwischen Hüseyin Avni Pascha, der sich gegen eine Konstitution aussprach, und dem Verfassungsbefürworter Midhat Pascha. Großwesir Rüşdi Pascha sprach sich auf der Seite Avni Paschas aus und war der Ansicht, dass die Annahme einer Verfassung in Anbetracht der psychischen Störungen Murads V. unangebracht war und nicht in Frage kam.[17] Am 15. Juni 1876 wurde Hüseyin Avni Pascha während einer Versammlung im Haus Midhat Paschas von einem Anhänger des abgesetzten und ermordeten Abd ul Aziz erschossen.[18]

Midhat Pascha

Am 30. und 31. Juni 1876 erklärten Serbien (siehe Serbisch-Osmanischer Krieg) und Montenegro dem Osmanischen Reich den Krieg. Mittlerweile drängte Großbritannien zur Abhaltung einer Konferenz, um einen drohenden Russisch-Osmanischen Krieg zu verhindern und den Aufständischen größere Autonomie zuzusprechen. Um einem etwaigen ausländischen Eingriff entgegenzuwirken, drängte Midhat Pascha auf die baldige Ausrufung einer Verfassung, die vor der geplanten Konferenz in Kraft treten und allen osmanischen Untertanen gleiche Rechte gewähren sollte.

Sultan Abdülhamid II., etwa 1890

Um den kranken Murad V. absetzen zu können, nahm Midhat Pascha Gespräche mit dessen Bruder Abdülhamid auf und bot ihm, unter der Bedingung einer Verfassungsannahme, den Thron an. Als Abdülhamid verlautbaren ließ, dass er die neue Verfassung annehmen werde[17], wurde er am 31. August 1876 als Abdülhamid II. auf den Thron gebracht.[18] Der neue Sultan ließ sich nun jedoch mit der Einlösung seiner Versprechen, insbesondere der Einberufung eines Verfassungsausschusses, Zeit, willigte letztendlich aber auf weiteren Druck Midhat Paschas ein.[19]

Ein erster Beratungsausschuss, der das weitere Vorgehen bestimmen sollte und dem 20 Ulama und höhere Staatsbeamte angehörten, wurde am 30. September 1876 per kaiserlichem Erlass einberufen. Den Vorsitz führte Midhat Pascha. Dem Ausschuss wurden Midhat Paschas 59 Artikel umfassendes Kanûn-ı Cedîd (‏قانون جديد‎ /„Neues Gesetz“) sowie Said Paschas auf der Übersetzung französischer Verfassungsgesetze (diejenigen von 1848 und 1852) basierender Entwurf vorgelegt. Da sich unter den Ausschussmitgliedern auch Verfassungsgegner befanden, kam es zu heftigen Streitereien, worüber auch die Presse berichtete. Nur eine Woche nach Gründung beschloss der Ministerrat (Heyet-i Vükelâ) daher die Auflösung des bestehenden und die Einberufung eines neuen Ausschusses.[20]

Am 8. Oktober 1876 wurden die Namen der Mitglieder des Verfassungsausschusses, auch „Spezialausschuss“ (Cemiyet-i Mahsusa, Mahsus Komisyon) genannt, bekanntgegeben. Diese Kommission bestand aus 24 (später bis zu 37) Personen unter Vorsitz Server[21], wahrscheinlicher aber Midhat Paschas[19][20][22]. Um effizienter arbeiten zu können, wurden Arbeitsgruppen, etwa für Regelungen bezüglich der Verwaltung, gebildet.

Namık Kemal
Ausschnitt (Art. 75–83, Abschnitt „Mehâkim“) aus einem Entwurf mit Kommentierungen Namık Kemals.

Bei der Erstellung eines Verfassungsentwurfs wurden, neben den erwähnten Werken Midhat und Said Paschas, Süleyman Hüsnü Paschas Kanûn-ı Esâsî Müsveddesi (etwa „Grundgesetzentwurf“)[20] sowie möglicherweise die Belgische und die Preußische Verfassung herangezogen.[21][23] Die erarbeiteten Verfassungsentwürfe (insgesamt gab es drei) wurden auf Wunsch des Sultans auserwählten Beamten im Yıldız-Palast, wie etwa Mütercim Mehmed Rüşdi Pascha und dem Ministerrat zur Überarbeitung vorgelegt. Der letzte Entwurf wurde am 1. Dezember 1876 fertiggestellt und am 6. Dezember vom Ministerrat angenommen.[19] Im Yıldız-Palast bestand man allerdings auf einem Verbannungsrecht des Sultans. Somit fand Art. 113, durch den dem Sultan dieses Verbannungsrecht mit Absatz 3 zugesprochen wurde, Eingang in die Verfassung.[18] Diese Entwicklung rief bei einigen Mitgliedern des Spezialausschusses, insbesondere bei dem Jungosmanen Namık Kemal, der 1867 wegen seiner politischen Gesinnung, etwa der Forderung nach Freiheitsrechten und einer verfassungsmäßigen Regierung, nach London geflohen war[24], später amnestiert und am 2. November 1876 Mitglied des Verfassungsausschusses wurde, Empörung hervor. Midhat Pascha, der auf die Ausrufung der Verfassung drängte, gelang es schließlich, die erzürnten Gemüter zu besänftigen. Am 19. Dezember 1876 wurde er zum Großwesir ernannt.

Am 23. Dezember 1876 trat die oktroyierte (von fr. octroyer), das heißt „gewährte, bewilligte“ – im Deutschen verstanden als „aufgezwungene, aufgedrängte“ – Verfassung durch kaiserlichen Erlass in Kraft. Außenminister Saffet Pascha unterbrach die begonnene Konferenz von Konstantinopel und erklärte, begleitet von 101 Salutschüssen, dass eine neue Verfassung ausgerufen werde, die alle osmanischen Untertanen gleichstelle und ihnen ihre Rechte und Freiheiten garantiere.[25]

Russland blieb jedoch gegenüber dem Osmanischen Reich misstrauisch und betrachtete die Verfassung als vorgeschobene Scheinlösung. Am 5. Februar 1877 setzte der Herrscher Midhat Pascha ab und machte ihm gegenüber zum ersten Mal von seinem Verbannungsrecht Gebrauch.[17][26] Knapp elf Wochen später brach der Russisch-Osmanische Krieg aus, der verloren wurde. Die Verfassung hatte, besonders nach Ansichten aus dem Yıldız-Palast, ihren Zweck nicht erfüllt. Auch fürchtete der Sultan persönlich für die Niederlage verantwortlich gemacht zu werden und sprach deshalb das Parlament schuldig, das er schließlich am 14. Februar 1878 auflöste und ohne das er in der Folgezeit absolutistisch über das Reich herrschte.[27]

Zweite Verfassungsperiode

Hauptartikel: Zweite osmanische Verfassungsperiode, Jungtürken, Komitee für Einheit und Fortschritt

Erinnerungspostkarte zur Wiedereinsetzung des Grundgesetzes, 1908.

Am 3. Juli 1908 zog der Offizier (kolağası) Ahmet Niyazi Bey, der an einer Verschwörung gegen das absolutistische Regime Abdülhamids II. beteiligt war und um die Aufdeckung dieser Beteiligung fürchtete[28], mit 200[29] bzw. 400[30] (bewaffneten) Leuten in die Berge und verlangte offen die Wieder-In-Kraftsetzung der Verfassung. Unterstützung erfuhr er dabei vom Komitee für Einheit und Fortschritt unter Führung Enver Beys, von der Armenischen Revolutionären Föderation sowie von albanischen, griechischen und bulgarischen Gemeinden. Die durch Niyazi Bey angestoßene jungtürkische Revolution fand in Mazedonien, vor allem in den Vilayets Kosovo, Monastir und Saloniki, statt.[31] Als Reaktion entsandte der Sultan Şemsi Pascha, der mit seiner 18. Division gegen Niyazi Bey ziehen sollte, allerdings am 7. Juli vom Jungtürken Atıf Bey erschossen wurde.[31] Der Sultan entließ nun, um den Aufständischen entgegenzukommen, seinen Großwesir Mehmed Ferid Pascha und ernannte am 22. Juli Mehmed Said Pascha, dessen Übersetzungen französischer Verfassungstexte im Jahr 1876 bei der Verfassungsausarbeitung Berücksichtigung gefunden hatten.

Am 23. Juli proklamierte das Komitee für Einheit und Fortschritt bei Demonstrationen mit hoher Teilnehmerzahl in mehreren Städten die „Freiheit“ (hürriyet). Dadurch zwang man die Regierung zur Wiedereinführung der Verfassung, was in der Nacht zum 24. Juli 1908 tatsächlich erreicht und im Großherrlichen Handschreiben vom 1. August 1908 bestätigt wurde. Die Revoltierenden wurden amnestiert.[28]

Am 17. Dezember 1908 versammelten sich der Senat und das neu gewählte Abgeordnetenhaus. Parlamentspräsident wurde der aus dem Exil zurückgekehrte Ahmed Rıza. Insgesamt waren 147 Türken, 60 Araber, 27 Albaner, 26 Griechen, 14 Armenier, vier Juden und zehn Slawen vertreten.[32]

Am 26. April 1909 beschloss das Parlament im Einklang mit einer Fatwa des Scheichülislam die Absetzung Abdülhamids II. An dessen Stelle trat Mehmed V. Das Parlament verabschiedete am 21. August 1909 eine Verfassungsänderung, wodurch die Macht des Sultans stark beschränkt und das Parlament gestärkt wurde.[33] Das Parlament konnte nun Gesetze einbringen, der Sultan verlor sein nach Art. 113 Abs. 3 gegebenes Recht Verbannungen auszusprechen, die Pressezensur wurde verboten und den Bürgern und Arbeitern wurde die Versammlungsfreiheit und das Streikrecht zugesprochen.[32]

Weitere Änderungen folgten in den Jahren 1914 bis 1918, durch die weitere Schritte in Richtung einer parlamentarischen Monarchie unternommen wurden. Der Sultan nahm zusätzliche Machteinbußen hin; so konnte er das Abgeordnetenhaus nur noch unter der Auflage, dass es innerhalb von vier Monaten wiedergewählt wurde, auflösen. Die Ernennung der Regierung erfolgte nun mit Zustimmung des Abgeordnetenhauses, wobei die Minister diesem gegenüber verantwortlich waren. Des Weiteren musste der Sultan laut Art. 3 im Parlament schwören, dass er die „Verfassung achten, sowie dem Vaterlande und der Nation treu bleiben werde.“ Zudem war das Parlament nun berechtigt, mit einer Zweidrittelmehrheit vom Sultan zurückgewiesene Gesetzesentwürfe anzunehmen.[34][35][36]

Aufhebung

Mitglieder der Gegenregierung in Ankara

Insbesondere dadurch, dass Sultan Abdülhamid II. das Parlament am 14. Februar 1878 aufgelöst hatte und dieses sich bis zum 4. Dezember 1908 nicht versammeln konnte, war die Verfassung faktisch über 30 Jahre lang außer Kraft gesetzt.

Am 20. Januar 1921 ratifizierte die Gegenregierung unter Mustafa Kemal Pascha das Gesetz über die grundlegende Organisation, die „De-Facto-Verfassung der Widerstandsbewegung[37]. Dieser Gesetzestext hob das Osmanische Grundgesetz nicht vollständig auf, sondern ergänzte und setzte es nur sukzessive außer Kraft.[38] Erstmals wurde die Volkssouveränität in einem Verfassungsdokument verankert (Art. 1 Satz 1), wobei auf das Prinzip der Gewaltenteilung verzichtet und die gesetzgebende sowie ausführende Gewalt einheitlich von der Großen Nationalversammlung verkörpert wurde (Art. 2). Bezüglich der rechtsprechenden Gewalt gab es keine Regelungen, womit theoretisch das Kanûn-ı Esâsî Gültigkeit gehabt hätte. Faktisch jedoch wurden während des Befreiungskrieges sogenannte Unabhängigkeitsgerichte (İstiklâl Mahkemeleri) gegründet, deren Mitglieder aus den Reihen und von der Nationalversammlung gewählt wurden.

Am 1. November 1922 schaffte die Nationalversammlung das Sultanat ab. Am 29. Oktober 1923 wurde die Republik als Staatsform beschlossen und am 3. März 1924 folgte schließlich die Aufhebung des Kalifats.

Letztendlich wurden die Verfassungen von 1876 und 1921 am 20. April 1924 mit Art. 104 der neuen Verfassung aufgehoben. Art. 1 dieser Verfassung bestimmte die Republik als Staatsform und wurde durch Art. 102 Abs. 4 einer Verfassungsänderung entzogen (vgl. auch Ewigkeitsklausel). Die in Art. 1 Satz 1 des Gesetzes über die grundlegende Organisation verankerte Volkssouveränität wurde nun in Art. 3 festgehalten. Die gesetzgebende Gewalt wurde von der Großen Nationalversammlung (Art. 6), die ausführende Gewalt vom Staatspräsidenten und Rat der Vollzugsbeauftragten (İcra Vekilleri Heyeti; später: Ministerrat, Bakanlar Kurulu) (Art. 7) ausgeübt. Art. 8 bestimmte die Unabhängigkeit der türkischen Gerichtsbarkeit.

Inhalt

Allgemeines

Die Verfassung setzte sich aus einem Vorwort – der Präambel – „den allgemeinen Rechten der osmanischen Untertanen“ (Art. 8–26) und Normierungen zur Staatsorganisation zusammen. Der ursprüngliche Text bestand aus 119 Artikeln und wurde im August 1909 um zwei weitere Artikel ergänzt. Insgesamt wurde die Verfassung in zwölf Abschnitte unterteilt.

Staatsorganisation

Die ersten fünf Artikel der Verfassung

Im Abschnitt „Memâlik-i Devlet-i Osmaniye“ (‏ممالك دولت عثمانيه‎ /„Das Osmanische Reich“) wurde die Unteilbarkeit des Osmanischen Reiches mit seiner Hauptstadt Istanbul kodifiziert. Die Ämter des Sultans sowie Kalifen wurden der Familie Osman zugesprochen und, wie seit der Herrschaft Ahmeds I. gewohnheitsrechtlich, nun nach gesatztem Recht an den ältesten Sohn vererbt. Der Herrscher galt als der Beschützer des Islam und folglich als heilig. Er musste keinem gegenüber Rechenschaft ablegen und konnte bei Verstößen gegen die Verfassung nicht belangt werden. Artikel 6 schützte die Freiheitsrechte der Sultansfamilie sowie „ihr bewegliches und unbewegliches Privatvermögen“ und „ihre lebenslänglichen Zivillisten“.

Schließlich wurden dem Souverän in Art. 7 umfangreiche Hoheitsrechte zugestanden. Diese waren:

[…]: Die Ernennung und Absetzung der Minister, die Verleihung von Ämtern, Würden und Orden, die Investitur der Gouverneure der privilegierten Provinzen gemäß den Bestimmungen der diesen verliehenen Privilegien, die Münzprägung, die Erwähnung seines Namens im öffentlichen Gebete, die Abschließung von Verträgen mit auswärtigen Staaten, die Erklärung von Krieg und Frieden, der Oberbefehl über die Land- und Seemacht, die Beförderung von Militärpersonen, die Ausübung der Gerichtsbarkeit nach den Scheriat- und Kanungesetzen, die Aufstellung von Regulativen über die öffentliche Verwaltung, die Milderung oder gänzliche Erlassung der gesetzlichen Strafen, die Berufung, die Vertagung und erforderlichenfalls die Auflösung des Parlamentes, letzteres jedoch nur unter der Bedingung, daß Neuwahlen ausgeschrieben werden.[39]

Der Sultan besaß so eine große Machtfülle. Sein stärkstes Mittel war das Recht zur Aussprechung von Verbannungen (Art. 113 Abs. 3).[40]

Grundrechte

Die Grundrechte waren im zweiten Abschnitt (Tebaa-i Devlet-i Osmaniye’nin Hukuk-u Umumiyesi „allgemeine Rechte der osmanischen Untertanen“) in den Artikeln 8 bis 26 sowie ab dem August 1909 zusätzlich in den Artikeln 119, 120 geregelt.

Art. 8 definierte zunächst den Begriff „Osmane“ (Osmanlı). „Osmanen“ waren demnach „alle Untertanen des osmanischen Reiches, welcher Religion oder Sekte sie auch angehören mögen“. Dabei konnte diese „Staatsangehörigkeit“ auch erworben oder verloren werden. Solange die Untertanen Rechte Dritter nicht verletzten, genossen sie persönliche Freiheit (Art. 9), die durch Art. 10 ausdrücklich vor Angriffen und staatlicher Willkür geschützt wurde (nullum crimen, nulla poena sine lege). Art. 11 bestimmte zwar den Islam als Staatsreligion, sprach jedoch allen Zugehörigen anerkannter Religionen freie Ausübung zu, sofern dies nicht gegen die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit verstieß. Die Pressefreiheit, solange gesetzeskonform, und ab 1909 das Zensurverbot waren in Art. 12 verankert. Vereine durften gegründet (Art. 13), Petitionen eingereicht (Art. 14) und freier Unterricht erhalten oder erteilt (Art. 15) werden. Alle Schulen wurden unter staatliche Kontrolle gestellt (Art. 16). Des Weiteren wurden alle Osmanen vor dem Gesetz gleichgestellt und ihnen wurden gleiche Rechte (hukuk) und Pflichten (vezaif) gegenüber dem Reich (Art. 17) zugesprochen beziehungsweise auferlegt. Der Zugang in den Staatsdienst war allen Untertanen (wie seit dem Hatt-ı Hümâyûn von 1856) offen (Art. 19), jedoch von der Beherrschung des Türkischen, der amtlichen Sprache, abhängig (Art. 18). Steuern wurden „allen osmanischen Untertanen im Verhältnis zu ihrem Vermögen auferlegt“ (Art. 20), Eigentum unter Schutz gestellt und Enteignung nur im öffentlichen Interesse und, dem Gesetz entsprechend, gegen eine Entschädigung gestattet (Art. 21). Die Unverletzlichkeit der Wohnung wurde in Art. 22 verankert, das Recht auf den gesetzlichen Richter in Art. 23 geregelt. Vermögenskonfiskationen (müsadere) und Corvée (angarya) wurden mit Art. 24, Folter und andere Misshandlungen mit Art. 26 verboten. Gemäß Art. 25 durften unter anderem Steuern nur auf Grund eines Gesetzes erhoben werden (siehe: Gesetzmäßigkeit der Besteuerung).[22]

Ministerrat

Mitglieder des Ministerrats (Vükelâ-yı Devlet / ‏وکلﻪ دولت‎ /„Staatsminister“; Art. 27–38, Abschnitt 3) waren der Großwesir, der Scheichülislam, der Präsident des Staatsrates sowie die Außen- (Hariciye), Bau- (Nâfia), Finanz- (Maliye), Handels- und Landwirtschafts- (Ticaret ve Ziraat), Innen- (Dahiliye), Justiz- (Adliye), Kriegs- (Harbiye), Kultus- (Maârif) und Marineminister (Bahriye Nazırı). Weitere Mitglieder waren der Minister der frommen Stiftungen (Evkaf-ı Hümâyun Nazırı) und der Minister der Post, der Telegrafen und Telefone (Posta ve Telgraf ve Telefon Nazırı).

Großwesir und Scheichülislam wurden direkt vom Sultan, die übrigen Mitglieder per kaiserlichem Erlass ernannt (Art. 27). Der Rat trat unter dem Vorsitz des Großwesirs, der die Aufgaben des Regierungschefs übernahm, zusammen (Art. 28). Die Minister waren zunächst nur dem Herrscher, nach der Verfassungsänderung des Jahres 1909 „für die allgemeine Politik der Regierung gemeinsam und für die Geschäfte ihres Amtes einzeln dem Abgeordnetenhause gegenüber verantwortlich“ (Art. 30). Auch die Ernennung wurde 1909 geändert. Die Ämter des Großwesirs und des Scheichülislams wurden zwar weiterhin vom Sultan übertragen, doch erfolgte die Ernennung der übrigen Mitglieder seitens des Großwesirs.

Des Weiteren mussten die Minister nun nach Art. 35 bei grundlegenden Meinungsverschiedenheiten mit dem Abgeordnetenhaus entweder zurücktreten oder aber den Beschluss der Abgeordneten annehmen. Im Mai 1914 wurde Art. 35 erneut geändert. Dieser Änderung zufolge entschied der Sultan bei Vorlage geschildeter Situation, ob neue Minister eingesetzt oder das Abgeordnetenhaus aufgelöst, dann allerdings innerhalb von vier Monaten erneut gewählt, wurde. Am 9. März 1916 entfiel Art. 35 restlos.

Die Mitglieder des Rates waren befugt zu jeder Zeit an Parlamentssitzungen teilzunehmen und vor dem Parlament zu reden (Art. 37).

Beamte

Beamte (Memurîn / ‏مأمورين‎; Art. 39–41, Abschnitt 4) konnten, „solange ihr Betragen keinen gesetzlichen Grund zu ihrer Absetzung bildet und sie nicht selbst zurücktreten oder für die Regierung ein zwingender Grund zu ihrer Absetzung nicht besteht, weder abgesetzt noch entlassen werden“ (Art. 39). Nach Art. 41 waren sie gegenüber Vorgesetzten „zu Respekt und Ehrfurcht verpflichtet“ und hatten deren Weisungen zu befolgen (Gehorsamspflicht), sofern diese nicht gegen Gesetze verstießen. Bei Befolgung in gesetzwidrigen Fällen war der Beamte für eben diese verantwortlich.

Parlament

Erste Parlamentssitzung, 1877

Das Parlament (Meclis-i Umumî / ‏مجلس عمومی‎; Art. 42–59, Abschnitt 5) bestand nach Art. 42, 43 aus zwei Kammern, dem Senat sowie dem Abgeordnetenhaus, die jährlich mit kaiserlichem Erlass vom 1. November bis zum 1. März (ab August 1909 „1. Mai“; ab Februar 1915 „vier Monate“, also erneut der 1. März) zusammentraten. Der Sultan konnte das Parlament auch vor diesem Zeitpunkt eröffnen und die Sitzungsdauer verlängern oder verkürzen (Art. 44). Ab dem August 1909 konnte die Sitzungsdauer zwar verlängert, jedoch nicht mehr verkürzt werden. Am Tag der Eröffnung mussten der Sultan oder zumindest der Großwesir als sein Vertreter sowie die Minister und die Mitglieder beider Kammern anwesend sein (Art. 45). Letztere wurden an diesem Tag beeidigt und schworen „dem Vaterlande treu zu dienen, alle Pflichten zu erfüllen, die ihnen die Verfassung und ihr Mandat auferlegen, und sich aller Handlungen zu enthalten, die diesen Pflichten zuwiderlaufen“ (Art. 46).

Art. 47 gewährleistete das freie Mandat, das heißt die Freisprechung von einer Bindung an „Versprechungen oder Instruktionen“, sowie die Indemnität der Parlamentarier. Des Weiteren genossen die Parlamentsmitglieder Immunität, welche nur mit Zweidrittelmehrheit des Parlamentes aufgehoben werden konnte (Art. 48, 79). Die Mitglieder des Parlaments konnten nicht beiden Kammern gleichzeitig angehören und kein anderes Amt bekleiden (Art. 50).

Das Initiativrecht lag grundsätzlich bei den Ministern (Art. 53), wobei dem Parlament (bis zum August 1909) nur ein beschränktes, von der zumindest stillschweigenden Zustimmung des Sultans abhängiges Initiativrecht zustand. Auf Verlangen des Senats oder des Abgeordnetenhauses, aber erst mit Erlass des Herrschers, arbeitete der Staatsrat Gesetzesentwürfe aus (Art. 54), die dann zunächst vom Abgeordnetenhaus beraten und dann zum Senat weitergeleitet (Art. 55) wurden. Gesetzeskraft erhielten diese allerdings nur durch kaiserlichen Erlass (Art. 54).

Die Parlamentssitzungen mussten in türkischer Sprache erfolgen (Art. 57).

Senat

Die Gesamtanzahl der Mitglieder des Senats (Hey’et-i Âyan / ‏هيئت اعيان‎; Art. 60–64, Abschnitt 6) war auf höchstens ein Drittel der Anzahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses beschränkt; Präsident sowie die Mitglieder des Senats wurden vom Sultan auf Lebenszeit ernannt (Art. 60). Diese mussten mindestens 40 Jahre alt sein (Art. 61) und konnten „auf eigenes Verlangen vom Staat in ein anderes Amt versetzt“ werden (vgl. Art. 62).

Die Aufgabe des Senats bestand darin, vom Abgeordnetenhaus vorgelegte Gesetzes- und Budgetentwürfe auf Verstöße „gegen den Glauben, die Souveränitätsrechte des Sultans, die Freiheit, die Bestimmungen der Verfassung, die territoriale Einheit des Staates, die innere Sicherheit im Lande, die zum Schutze und zur Verteidigung des Vaterlandes ergriffenen Maßnahmen oder gegen die öffentliche Sicherheit“ zu prüfen und gegebenenfalls an das Abgeordnetenhaus zurückzusenden oder an den Großwesir weiterzuleiten (Art. 64).

Das monatliche Gehalt der Senatoren betrug 10.000 Kurūsch (Art. 63).

Abgeordnetenhaus

Ahmed Vefik Pascha, erster Präsident des Abgeordnetenhauses

Die Gesamtanzahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses (Hey’et-i Meb’usan / ‏هيئت مبعوثﻦ‎; Art. 65–80, Abschnitt 7) war so begrenzt, dass auf etwa 50.000 männliche Einwohner je ein Abgeordneter (nefer) entfiel (Art. 65).

Nach Art. 66 hatten die Wahlen nach speziellem Gesetz zu erfolgen, das allerdings gemäß Art. 55 auch im Abgeordnetenhaus hätte angenommen werden müssen. Die Verfassungsväter hatten diesen Umstand jedoch bedacht; so erarbeitete der Verfassungsausschuss parallel zum Verfassungsentwurf ein provisorisches Wahlgesetz (Talimât-ı Muvakkate „vorläufige Bestimmungen“). Dieses wurde am 15. Oktober 1876 vom Sultan abgesegnet, trat am 28. Oktober[41] bzw. 6. November[42] 1876 in und gemäß Art. 119 der Verfassung nach einmaliger Anwendung außer Kraft.

Das Abgeordnetenwahlgesetz (İntihab-ı Mebusan Kanunu) von 1877 übernahm weitgehend die Regelungen des provisorischen Wahlgesetzes. Nach Art. 66 der Verfassung i.V.m. Art. 8, 21 des Abgeordnetenwahlgesetzes fanden die Wahlen gleich und indirekt, frei, allgemein und geheim statt. Bis zu 500 Wähler (Müntehib-i Evvel) wählten mit relativer Mehrheit einen Wahlmann (Müntehib-i Sani) (Art. 21, 43, 45, 46 des Abgeordnetenwahlgesetzes). Die Wähler durften nicht Angehöriger einer fremden Nation sein oder dies behaupten und mussten mindestens das 25. Lebensjahr vollendet haben. Zudem durften sie zur Zeit der Wahl nicht im Dienstverhältnis zu einer anderen Person oder unter einem Sachwalter stehen, ihre politischen Rechte eingebüßt haben oder Gemeinschuldner sein. Die Wahlmänner mussten zusätzlich Untertanen des Reiches sein und durften nicht im Dienste einer anderen Nation stehen. Für Abgeordnete galt zusätzlich ein Mindestalter von 30 Jahren und die Beherrschung der türkischen Sprache. Des Weiteren durften sie nicht für einen „sittenlosen Lebenswandel bekannt“ (su’-i ahval ile müştehir) sein (vgl. Art. 68). Ihre Wiederwahl war möglich (Art. 69).

Der Präsident sowie Erster und Zweiter Vizepräsident wurden aus je drei vorgeschlagenen Kandidaten vom Sultan ernannt. Nach der Verfassungsänderung von 1909 wählte das Abgeordnetenhaus den Präsidenten sowie die Vizepräsidenten und informierte den Sultan lediglich über die Wahl (Art. 77). Die Abgeordneten erhielten jährlich eine Summe von 20.000, ab 1909 30.000 und nach 1916 50.000 Kurūsch aus der Staatskasse. Das monatliche Gehalt betrug, inklusive Reisekosten für Hin- und Rückfahrt, 5.000 (ab 1916 4.000) Kurūsch (Art. 76).

Zum ersten Präsidenten des Hauses ernannte Abdülhamit II., entgegen dem in Art. 77 gebotenen Prozedere, den ihm treuen Ahmed Vefik Pascha.[43] In der zweiten Legislaturperiode wurde zunächst, Art. 1 der Geschäftsordnung (Dahilî Nizamname) entsprechend, der älteste Abgeordnete, Gümüşgerdan Mihalaki Bey, Präsident. Später konnte sich Hasan Fehmi Efendi gegen Rıfat Efendi und Scheich Bahaettin Efendi, der Erster Vizepräsident wurde, durchsetzen. Zweiter Vizepräsident wurde Hovhannes Allahverdiyan.[44]

Gerichtsbarkeit

Im Abschnitt „Mehâkim“ („Gerichte“; Art. 81–91) wurde die Unabhängigkeit der Gerichte (vgl. Art. 86) und die Sicherheit der Richter garantiert. Art. 81 regelte zunächst die Ernennung, Versetzung, Pensionierung und die Absetzung von Richtern, wonach diese per Dekret ernannt und nicht absetzbar waren, jedoch freiwillig auf das Amt verzichten konnten. Weiteres war einem speziellen Gesetz zu entnehmen. Gerichtsverhandlungen mussten grundsätzlich unter Beteiligung der Öffentlichkeit erfolgen; Urteile durften veröffentlicht werden. Ein Ausschluss der Öffentlichkeit war, in im Gesetz geregelten Fällen, zulässig (Art. 82). Jedem stand es zu, vor Gericht von den notwendigen gesetzlichen Mitteln Gebrauch zu machen (Art. 83).

Art. 87 bestimmte, dass „Prozesse, die sich auf das Scheriatrecht beziehen, […] vor den Scheriatgerichten, jene, welche nach dem bürgerlichen Gesetze entschieden werden, vor den Zivilgerichten geführt“ wurden.

Hoher Gerichtshof

Gemäß Art. 92 war das Hohe Gericht (Divân-ı Âlî; Art. 92–95, Abschnitt 9) für Verfahren gegen Minister, Mitglieder des Kassationshofes und gegen Personen, „die gegen die Person oder die Rechte des Sultans zu handeln oder die Sicherheit im Staate zu gefährden versuchen“ zuständig. Dem aus zwei Kammern bestehenden Gericht gehörten je zehn Mitglieder aus dem Senat, dem Staatsrat (Şûrâ-yı Devlet) und aus dem Kassations- und Appellationshof (Mahkeme-i Temyiz ve İstinaf), also insgesamt 30 Mitglieder an (Art. 92). Die Anklagekammer (Daire-i İthamiye) bestand aus neun (Art. 93), die Urteilskammer (Divân-ı Hüküm) aus 21 Richtern (Art. 95). Nach Art. 94 hatte die Anklagekammer mit einer Zweidrittelmehrheit zu entscheiden, ob überhaupt Klage erhoben wurde. Bei Erhebung einer Klage entschied die Urteilskammer ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit nach geltendem Gesetz, wobei die Urteile weder appellabel noch kassierbar waren (Art. 95).

Finanzen

Steuern durften nur auf der Grundlage von Gesetzen erhoben werden (Art. 96) und das Jahresbudget wurde vom Parlament überprüft und dem Abgeordnetenhaus vorgelegt (Art. 98f.) Zudem wurde ein Rechnungshof (Dîvân-ı Muhâsebat) gegründet und war für die Überprüfung der mit Finanzen betrauten Beamten (Art. 105) zuständig. Der Rechnungshof bestand aus zwölf Mitgliedern, welche vom Sultan ernannt und nur durch das Abgeordnetenhaus entlassen werden konnten (Art. 106).

Verschiedene Bestimmungen

Im zwölften und letzten Abschnitt (Art. 113–119 bzw. 121) fanden sich die Verschiedenen Bestimmungen (Mevadd-ı Şitâ). Nach Art. 113 Abs. 1, 2 konnte die Regierung bei Bedarf den Ausnahmezustand (İdare-i Örfiye / ‏اداره عرفيه‎) verhängen und der Sultan war, bis zum August 1909, berechtigt, nach Art. 113 Abs. 3, Verbannungen auszusprechen. Primärunterricht (birinci mertebe) war für alle Osmanen verpflichtend (Art. 114). Art. 115 schützte die Verfassung vor Suspendierung und Außer-Kraft-Setzung. Eine Verfassungsänderung konnte nur auf Vorschlag des Ministerrats, des Senats oder des Abgeordnetenhauses durch eine Annahme mit Zweidrittelmehrheit im Senat und eine Bestätigung der Annahme mit Zweidrittelmehrheit im Abgeordnetenhaus sowie mit Zustimmung des Sultans vorgenommen werden (Art. 116). Für Justizangelegenheiten war der Kassations- und Appellationshof, für Verwaltungsangelegenheiten der Staatsrat und für Verfassungsfragen der Senat zuständig (Art. 117).

Ab dem August 1909 schützte Art. 119 das Briefgeheimnis, Art. 120 garantierte einerseits die Vereinigungsfreiheit und verbot andererseits Vereine, „die gegen die Moral und die guten Sitten verstoßen oder dem Zwecke dienen, den territorialen Bestand des osmanischen Reiches zu verletzen, die Form der Verfassung und Regierung zu ändern, gegen die Bestimmungen der Verfassung zu handeln und die verschiedenen osmanischen Volksteile politisch zu trennen“. Auch wurde die Gründung geheimer Gesellschaften verboten. Sitzungen im Senat hatten nach Art. 121 grundsätzlich öffentlich zu sein, konnten aber auf Antrag der Minister oder fünf Senatoren mit Stimmenmehrheit nichtöffentlich abgehalten werden.

Bedeutung und Kritik

Durch dieses Grundgesetz wurde erstmals im Osmanischen Reich der Versuch unternommen, der religiösen Legitimation der Herrschafts– und Staatsgewalt mit demokratischen Elementen die Absolutheit abzusprechen. Der Sultan blieb jedoch theokratisch legitimierter Herrscher, auf den die Staatsorganisation maßgeschneidert war.[23] Somit herrschte der Sultan trotz einer de-jure gültigen Verfassung im absolutistischen Sinne.[45] Dies zeigte sich insbesondere in der Auflösung des Parlaments nur elf Monate nach In-Kraft-Treten der Verfassung. Die in der Verfassung – allerdings auch schon in vorhergehenden Erlässen – garantierten Grundrechte waren in der Osmanischen Rechtsgeschichte zwar nicht belanglos, allerdings wegen des Verbannungsrechts nach Art. 113 Abs. 3 durch das Gutdünken des Herrschers stark beschränkt.

Wie stark sich die über dreißig Jahre währende faktische Unwirksamkeit der Verfassung auf die Pressefreiheit auswirkte, machte sich nach dem Verbot der Pressenzensur im Jahr 1908 bemerkbar. So stieg die Anzahl erscheinender Periodika nach der Wiederinkraftsetzung der Verfassung schlagartig. In den Jahren 1908 und 1909 wurden 330 Werke gezählt.[32]

Literatur

  • Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukukuna Giriş. 1. Auflage. Ekin Kitabevi, Bursa Januar 2008, ISBN 978-9944-141-37-6, S. 10–32.
  • Friedrich von Kraelitz-Greifenhorst: Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches. Verlag des Forschungsinstitutes für Osten und Orient, Wien 1919.
  • Christian Rumpf: Das türkische Verfassungssystem: Einführung mit vollständigem Verfassungstext. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1996, ISBN 978-3447038317, S. 37–57.
  • Thomas Scheben: Verwaltungsreformen der frühen Tanzimatzeit: Gesetze, Maßnahmen, Auswirkungen: Von der Verkündigung des Ediktes von Gülhane 1839 bis zum Ausbruch des Krimkrieges 1853. Frankfurt am Main, Bern, New York 1991.
  • Bülent Tanör: Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri: 1789–1980. 2. Auflage. Der Yayınları, İstanbul 1995, S. 101–183.
Festschrift
  • Armağan. Kanun-u Esasî’nin 100. Yılı (Festschrift zum 100. Jahrestag des Kanun-u Esasî). Sevinç Matbaası, Ankara 1978.

Weblinks

Darstellungen
Gesetzestexte

Einzelnachweise

  1. a b c Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukukuna Giriş. 1. Auflage. Ekin Kitabevi, Bursa Januar 2008, ISBN 978-9944-141-37-6, S. 10ff.
  2. M. Şükrü Hanioğlu: A Brief History of the Late Ottoman Empire. Princeton University Press, 2008, ISBN 978-0-691-13452-9, S. 56.
  3. Virginia H. Aksan: Ottoman Wars 1700-1870: An Empire Besieged. Pearson Education Limited, London 2007, ISBN 978-0-5823-0807-7, S. 249.
  4. Bülent Tanör: Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri: 1789–1980. 2. Auflage. Der Yayınları, İstanbul 1995, S. 35.
  5. a b Virginia H. Aksan, Daniel Goffman: The early modern Ottomans: Remapping the Empire. Cambridge University Press, 2007, ISBN 9780521817646, S. 124 f.
  6. Christian Rumpf: Rezeption und Verfassungsordnung: Beispiel Türkei. Stuttgart 2001, S. 4. (PDF; 210,6 KB)
  7. Kutluhan Bozkurt: Die Beziehungen der Türkei zur EU: Rechtliche Prozesse und rechtliche Einflüsse. Wien 2004, S. 47 f. (PDF; 1,16 MB)
  8. Sina Akşin: Sened-i İttifak ile Magna Carta’nın Karşılaştırılması. In: AÜ Dil ve Tarih-Coğrafya Fakültesi Tarih Bölümü Tarih Araştırmaları Dergisi, Bd. 16, Nr. 27, 1992, S. 115–123 (PDF; 489,93 KB).
  9. a b Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukuku. Ekin Kitabevi, Bursa 2000, S. 3 ff. (Bündnisvertrag) (Edles Handschreiben)
  10. Klaus Kreiser: Der osmanische Staat 1300–1922. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2008, ISBN 9783486585889, S. 39.
  11. Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukukuna Giriş. 1. Auflage. Ekin Kitabevi, Bursa Januar 2008, ISBN 978-9944-141-37-6, S. 14.
  12. Sabri Şakir Ansay: Das Türkische Recht. In: Bertold Spuler (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik. Erste Abt. Der Nahe und der Mittlere Osten. Ergänzungsband III. Orientalisches Recht. Brill, Leiden 1964, S. 442 f.
  13. Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukukuna Giriş. 1. Auflage. Ekin Kitabevi, Bursa Januar 2008, ISBN 978-9944-141-37-6, S. 16.
  14. Günter Seufert, u.a.: Die Türkei: Politik, Geschichte, Kultur. C.H. Beck, 2006, ISBN 9783406547508, S. 71f.
  15. Klaus Kreiser, Christoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, ISBN 3-89331-654-X, S. 337f.
  16. Enver Ziya Karal: Osmanlı Tarihi. Türk Tarih Kurumu Yayınları, Ankara 1994, S. 252.
  17. a b c Yusuf Ziya Özer: Mukayeseli Hukuku Esasiye Dersleri. Recep Ulusoğlu Basımevi, Ankara 1939, S. 389ff. (PDF; 24,41 MB).
  18. a b c Sina Akşin: Birinci Meşrutiyet Meclis-i Mebusanı (I). In: AÜ Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi, Bd. 25, Nr. 1, 1970, S. 19–39 (19f.) (PDF; 8,87 MB).
  19. a b c Stanford Shaw, Ezel Kural Shaw: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. Vol. II: Reform, Revolution, and Republic: The Rise of Modern Turkey, 1808–1975. Cambridge University Press, Cambridge et al. 2002, ISBN 9780521291668, S. 174 f.
  20. a b c Selda Kaya Kılıç: 1876 Anayasasının Bilinmeyen İki Tasarısı. In: AÜ Osmanlı Tarihi Araştırma ve Uygulama Merkezi Dergisi, Nr. 4, 1993, S. 557–633 (563ff.) (PDF; 3,78 MB).
  21. a b Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukuku. Ekin Kitabevi, Bursa 2000, S. 19 ff. (online).
  22. a b Ahmet Mumcu: Türkiye'de İnsan Hakları ve Kamu Özgürlüklerin Tarihsel Gelişimi. In: Kıymet Selvi (Hrsg.): İnsan Hakları ve Kamu Özgürlükleri. 2. Auflage. Anadolu Üniversitesi, Eskişehir 2005, ISBN 975-06-0312-5, S. 118 ff.
  23. a b Christian Rumpf: Rezeption und Verfassungsordnung: Beispiel Türkei. Stuttgart 2001, S. 8. (PDF; 210,6 KB)
  24. Mehmet Hacısalihoğlu: Die Jungtürken und die Mazedonische Frage (1890–1918). Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2003, ISBN 9783486567458, S. 59.
  25. Ralph Uhlig: Die Interparlamentarische Union: 1889–1914. Franz Steiner Verlag, 1988, ISBN 9783515050951, S. 490 f.
  26. Hans-Jürgen Kornrumpf: Midhat Pascha, Ahmed Şefik. In: Mathias Bernath, u.a. (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Band III. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 1979, ISBN 9783486489910, S. 194.
  27. Sina Akşin: Birinci Meşrutiyet Meclis-i Mebusanı (I). In: AÜ Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi, Bd. 25, Nr. 1, 1970, S. 19–39 (38f.) (PDF; 8,87 MB).
  28. a b Alan Palmer: Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches. Heyne, München 1997, ISBN 978-3-453-11768-6, S. 290f.
  29. Mehmet Hacısalihoğlu: Die Jungtürken und die Mazedonische Frage (1890–1918). Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2003, ISBN 9783486567458, S. 165ff.
  30. Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukukuna Giriş. 1. Auflage. Ekin Kitabevi, Bursa Januar 2008, ISBN 978-9944-141-37-6, S. 23.
  31. a b Mehmet Hacısalihoğlu: Die Jungtürken und die Mazedonische Frage (1890–1918). Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2003, ISBN 9783486567458, S. 188ff.
  32. a b c Klaus Kreiser, Christoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, ISBN 3-89331-654-X, S. 357 ff.
  33. Tagung der GfR vom 20. bis 22. März 1996 in Jena, Gesellschaft für Rechtsvergleichung, abgerufen am 22. Januar 2009.
  34. Christian Rumpf: Rezeption und Verfassungsordnung: Beispiel Türkei. Stuttgart 2001, S. 10. (PDF; 210,6 KB)
  35. Ahmet Mumcu: Türkiye'de İnsan Hakları ve Kamu Özgürlüklerin Tarihsel Gelişimi. In: Kıymet Selvi (Hrsg.): İnsan Hakları ve Kamu Özgürlükleri. 2. Auflage. Anadolu Üniversitesi, Eskişehir 2005, ISBN 975-06-0312-5, S. 122 ff.
  36. Burhan Gürdoğan: İkinci Meşrutiyet Devrinde Anayasa Değişiklikleri. In: AÜ Hukuk Fakültesi Dergisi, Bd. 16, Nr. 1, 1959, S. 91–105 (PDF; 426,66 KB).
  37. Kutluhan Bozkurt: Die Beziehungen der Türkei zur EU: Rechtliche Prozesse und rechtliche Einflüsse. Wien 2004, S. 15. (PDF; 1,16 MB)
  38. Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukukuna Giriş. 1. Auflage. Ekin Kitabevi, Bursa Januar 2008, ISBN 978-9944-141-37-6, S. 32.
  39. Die Verfassung des Osmanischen Reichs (1876), Art. 7.
  40. Christian Rumpf: Rezeption und Verfassungsordnung: Beispiel Türkei. Stuttgart 2001, S. 9. (PDF; 210,6 KB)
  41. Sina Akşin: Birinci Meşrutiyet Meclis-i Mebusanı (I). In: AÜ Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi, Bd. 25, Nr. 1, 1970, S. 19–39 (21) (PDF; 8,87 MB).
  42. Selda Kaya Kılıç: 1876 Anayasasının Bilinmeyen İki Tasarısı. In: AÜ Osmanlı Tarihi Araştırma ve Uygulama Merkezi Dergisi, Nr. 4, 1993, S. 557–633 (569) (PDF; 3,78 MB).
  43. Sina Akşin: Birinci Meşrutiyet Meclis-i Mebusanı (I). In: AÜ Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi, Bd. 25, Nr. 1, 1970, S. 19–39 (23) (PDF; 8,87 MB).
  44. Sina Akşin: Birinci Meşrutiyet Meclis-i Mebusanı (I). In: AÜ Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi, Bd. 25, Nr. 1, 1970, S. 19–39 (30) (PDF; 8,87 MB).
  45. Christian Rumpf: Einführung in das türkische Recht. C. H. Beck, München 2004, ISBN 978-3-406-51293-3, S. 25.
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