Vorkonstitutionelles Gesetz

Vorkonstitutionelles Gesetz

Vorkonstitutionelles Recht ist Recht, das vor Inkrafttreten einer gegenwärtig geltenden Verfassung entstanden ist.

Wesentliche Aufgabe einer Verfassung ist es, das Verfahren der Rechtsetzung festzulegen.

Wird durch politische Umwälzungen eine neue Verfassung geschaffen, die gegebenenfalls abweichende Rechtsetzungsverfahren vorsieht, so stellt sich die Frage, was mit dem bisher geltenden, also vorkonstitutionellen Recht geschehen soll.

Um nicht das gesamte wirtschaftliche (Kauf- und Arbeitsrecht), soziale (Vereins-, Versicherungsrecht) und familiäre Leben (Ehe- und Personenstandsrecht) mangels gesetzlicher Regelungen zum Erliegen zu bringen, muss praktisch jede Verfassung zumindest im Grundsatz bisheriges Recht für weiterhin geltend erklären. Denn kein Verfassungsgeber könnte gleichzeitig sämtliche notwendige Regelungen neu in Kraft setzen.

Bei einer bundesstaatlichen Verfassung wie beispielsweise dem deutschen Grundgesetz ergibt sich weiterhin die Frage, ob vorkonstitutionelles Recht als Bundes- oder Landesrecht fortgelten soll.

Inhaltsverzeichnis

Situation in Deutschland

Bezogen auf die geltende Verfassung, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, kommt als vorkonstitutionelles Recht in Betracht:

  • Reichs- und Landesrecht, das vorher in Kraft getreten ist,
  • Recht der Besatzungsmächte,
  • Recht des Saarlands vor dem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 1. Januar 1957 und
  • Recht der DDR vor dem Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990.

Gesetzliche Regelung

Zunächst regelt Art. 123 Absatz 1 GG die grundsätzliche Fortgeltung, sofern das vorkonstitutionelle Recht dem GG nicht widerspricht. Das heißt: inhaltlich, denn hinsichtlich des Gesetzgebungsverfahrens widerspricht es ihm allemal. Auf diese Weise gelten beispielsweise - freilich mit zahlreichen späteren Änderungen - fort:

Die Art. 124 und 125 GG beschäftigen sich mit der Frage, ob bisheriges Recht als Bundes- oder Landesrecht fortgilt.

Über Meinungsverschiedenheiten entscheidet gemäß Art. 126 GG, § 13 Nr. 14, §§ 86 ff. BVerfGG das Bundesverfassungsgericht.

Über diese Regelungen hinaus geht Art. 117 GG: Für eine Übergangszeit erklärt diese Vorschrift vorkonstitutionelles Recht für wirksam, obwohl es auch inhaltlich gegen die Verfassung verstößt, nämlich gegen das Grundrecht der Freizügigkeit oder die Gleichbehandlung von Mann und Frau. Hintergrund waren die Flüchtlingsströme in der unmittelbaren Nachkriegszeit bzw. die Notwendigkeit, Zeit für eine Familienrechtsreform zu gewinnen.

Folgen

Ansonsten gibt es hinsichtlich vorkonstitutionellen Rechts keine Besonderheiten, es handelt sich also insbesondere nicht um Rechtsnormen minderen Ranges.

Es bleibt lediglich darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass die konkrete Normenkontrolle, Art. 100 GG, gegen vorkonstitutionelle Parlamentsgesetze nicht zulässig ist (es sei denn, der nachkonstitutionelle Gesetzgeber hat durch spätere Änderungen einen Abschnitt insgesamt oder auf sonstige Weise, z. B. durch Verweisungen, erkennbar in seinen Willen aufgenommen). Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts soll nämlich nur den Gesetzgeber vor dem Vorwurf der Fachgerichte schützen, gegen die Verfassung verstoßen zu haben. Den vorkonstitutionellen Gesetzgeber kann ein solcher Vorwurf aber gar nicht treffen. Deshalb sind hier die Fachgerichte ausnahmsweise selbst zur Verwerfung verfassungswidriger Parlamentsgesetze befugt.

Zudem genügt (nur!) vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt (z.B. des Art. 2 Absatz 1 S. 2 GG).

Zeitpunkt

Der in vor- und nachkonstitutionelles Recht trennende Zeitpunkt ist der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Grundgesetzes, welches mit dem Ablauf des 23. Mai 1949 in Kraft trat (vgl. Art. 145 Abs. 2 GG). Somit ist ein Gesetz nachkonstitutionell, wenn dieses nach dem 23. Mai 1949, 24:00 Uhr (oder anders ab dem 24. Mai 1949, 0:00 Uhr) erlassen wurde.

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