- Gewohnheitsrecht
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Gewohnheitsrecht ist ungeschriebenes Recht, das aufgrund langer tatsächlicher Übung (lat. consuetudo) und durch allgemeine Anerkennung seiner Verbindlichkeit im Sinne einer Überzeugung von der rechtlichen Notwendigkeit der Übung (lat. opinio necessitatis oder opinio iuris) entstanden ist. Gewohnheitsrecht, das örtlich begrenzt ist – beispielsweise das Gewohnheitsrecht einer Gemeinde –, wird als Observanz bezeichnet.
Das Gewohnheitsrecht in der allgemeinen Rechtsquellenlehre
Begriff
Gewohnheitsrecht entsteht – vereinfacht dargestellt – nicht durch ein förmliches Rechtssetzungsverfahren, sondern durch längerdauernde, stetige, allgemeine und gleichmäßige Übung (longa consuetudo), die von den Beteiligten als rechtsverbindlich anerkannt wird (opinio iuris). Gewohnheitsrecht leitet sich also nicht vom geschriebenen Recht ab, sondern tritt als dessen Konkurrent auf. Fehlt die opinio iuris, handelt es sich um eine bloße Gewohnheit, die allein kein Recht schaffen kann. Rechtmäßig gebildetes Gewohnheitsrecht steht dabei dem geschriebenen Recht grundsätzlich gleich, es sei denn die Rechtsordnung verlangt ausdrücklich nach einer geschriebenen Regelung.[1]
Das Gewohnheitsrecht ist Teil des positiven Rechts. Dieses Recht ist vom Menschen für den Menschen gesetzt. Das positive Recht unterteilt sich in Gewohnheitsrecht und geschriebenes Recht. Geschriebenes Recht wird als gesetztes Recht bezeichnet, d. h. dass es von staatlichen Organen (in der Regel von der Legislative, zum Teil von der Exekutive) in einer bestimmten Form erlassen worden ist.
Geltung
Gewohnheitsrecht ist in vielen Rechtsordnungen als eigenständige Rechtsquelle anerkannt. So auch in der bundesdeutschen Rechtsordnung. Große Bedeutung hat Gewohnheitsrecht im Völkerrecht.
Unterscheidung zum Richterrecht
Das Gewohnheitsrecht ist nach herrschender Auffassung von dem so genannten Richterrecht zu unterscheiden, bei dem es sich um ein Weiterdenken und eine Fortbildung des geltenden Rechts durch die Judikative handelt, ohne dass dadurch neues Recht im eigentlichen Sinne geschaffen werden würde. Neuerdings wird aber vereinzelt – ausgehend von der Überlegung, dass Präjudizien eine sich mit der Zeit verstärkende Bindungswirkung zukommt – ein fließender Übergang von rechtsfortbildenden Einzelfallentscheidungen über eine ständige Rechtsprechung hin zum Gewohnheitsrecht angenommen. Die Rechtsprechung bleibt nämlich befugt, Richterrecht aufgrund besserer Einsicht jederzeit zu ändern, während über das Gewohnheitsrecht – wie über das gesetzte Recht – nur der Gesetzgeber selbst verfügen kann. Auch bei dem Gerichtsgebrauch, also der ständigen Rechtsprechung der obersten Gerichte, handelt es sich nicht um Gewohnheitsrecht.
Aus mehr rechtssoziologischer Sicht wird gegen eine Unterscheidung von Gewohnheits- und Richterrecht argumentiert, dass Richter über die Geltung von Gewohnheitsrecht entscheiden und daher Gewohnheitsrecht letztlich „Juristenrecht“ (Max Weber) sei.[2]
Allerdings kann sich Gewohnheitsrecht unter Umständen aus Richterrecht oder Gerichtsgebrauch entwickeln.[3]
Gewohnheitsrecht in weltlichen Rechtsordnungen
Gewohnheitsrecht in staatlichen Rechtsordnungen
Gewohnheitsrecht in kodifizierten Rechtsordnungen
Gewohnheitsrecht in der Bundesrepublik Deutschland
Besondere Bedeutung hatte die Lehre vom Gewohnheitsrecht in Deutschland, solange das römische Recht aufgrund der Rezeption als Gewohnheitsrecht galt – grundsätzlich bis zum 1. Januar 1900. Besonders Georg Friedrich Puchta hat die Lehre vom Gewohnheitsrecht im 19. Jahrhundert wissenschaftlich weiterentwickelt.
Geltung als Rechtsquelle
Auch in der bundesdeutschen Rechtsordnung ist die Möglichkeit gewohnheitsrechtlich begründeter (einfachrechtlich geltender) Regeln grundsätzlich anerkannt.[4]
Amtsermittlungspflicht (§ 293 ZPO)
Ein Gericht ist verpflichtet, das Bestehen und den Inhalt von Gewohnheitsrecht von Amts wegen zu ermitteln § 293 ZPO. Dies auch in der Revisionsinstanz[5]
Verweis auf Gewohnheitsrecht
In einigen Gesetzesnormen auf Gewohnheiten und Bräuche verwiesen, so zum Beispiel in § 346 HGB oder § 242 BGB.
Verbot der Strafbarkeit kraft bloßen Gewohnheitsrechts
In mancherlei Hinsicht wird das Gewohnheitsrecht − das sonst dem gesetzten Recht völlig gleichsteht − vom Gesetzgeber besonders behandelt. So kann z. B. die Strafbarkeit von Handlungen in Deutschland nicht durch Gewohnheitsrecht begründet werden, weil Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes fordert, dass die Strafbarkeit einer Handlung vor ihrer Begehung gesetzlich bestimmt sein muss.
Gewohnheitsrecht in Österreich
Auch in Österreich ist Voraussetzung für die Entstehung von Gewohnheitsrecht eine langdauernde, allgemeine und gleichmäßige Übung (= Anwendung) bestimmter Regeln. Die Übung muss außerdem von der Überzeugung getragen sein, dass die angewandten Regeln Recht sind (opinio iuris).
In diesem Sinne sind im österreichischen Recht eine Reihe von Normen nachweisbar, etwa im Anerbenrecht die Anwendung des Grundsatzes, dass der Übernehmer eines Bauernhofes nach der Übernahme „wohl bestehen“ können muss; das Recht über fremde Wiesen und Felder zu spazieren (ist nur für Wälder im Forstgesetz gesetzlich normiert), Pilze zu sammeln und Blumen zu pflücken.
§ 10 ABGB legt fest, dass auf Gewohnheiten nur in den Fällen Rücksicht genommen werden darf, in welchen sich ein Gesetz darauf beruft. Die Bestimmung ist z. B. auf Verkehrsgewohnheiten (§ 914 ABGB verweist auf die „Übung des redlichen Verkehrs“ für die ergänzende Vertragsauslegung) oder die Handelsbräuche (§ 346 UGB: „Unter Unternehmern ist … auf die im Geschäftsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen.“)
Von einer Mindermeinung in der österreichischen Jurisprudenz (v. a. den Vertretern der „Reinen Rechtslehre“ Kelsens) wird bestritten, dass es in Österreich überhaupt Gewohnheitsrecht gibt. Diese Vertreter begründen dies damit, dass die österreichische Bundesverfassung nur die Entstehung von Recht durch Gesetz regle und diese Regelung erschöpfend sein, so dass – wie auch die Ableitung aus der Grundnorm scheitere – für Gewohnheitsrecht kein Raum bleibe. Die überwiegende Meinung in Österreich vertritt, dass die Bundesverfassung zwar nur die Entstehung von Recht durch bewusste Rechtsetzung ausdrücklich behandelt, ihr Schweigen zur Frage des Gewohnheitsrechts aber nicht als dessen völlige Ablehnung zu deuten ist. Ebenso spricht § 10 ABGB (siehe oben) nicht gegen die Geltung von Gewohnheitsrecht, sondern engt nur dessen Anwendungsbereich ein.
Siehe auch: Ersitzung
Gewohnheitsrecht in der Schweiz
Art. 1 des Schweizerischen ZGB bezieht das Gewohnheitsrecht ausdrücklich in die anzuwendenden Rechtsquellen mit ein.
Siehe auch: Rechtssoziologie, Historische Rechtsschule, Pandektenwissenschaft
Gewohnheitsrecht im Common Law
Gewohnheitsrecht im Völkerrecht
Im Völkerrecht spielt das Gewohnheitsrecht eine große Rolle. Im Völkerstrafrecht gilt das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts nicht so strikt.
Hauptartikel: Völkergewohnheitsrecht
Gewohnheitsrecht in religiösen Gemeinschaften
Allgemeines
Das Auftauchen von Gewohnheitsrecht bei Religionen hat immer wieder zu Schwierigkeiten oder besonderen Problemen geführt. Insbesondere wurde immer wieder kritisiert, dass „Gewohnheit“ bei einer Stifterreligion automatisch eine willkürliche Verfälschung der ursprünglichen Offenbarung darstellt. Es wird dem aber oft entgegengehalten, dass altertümliche Vorstellungen an moderne Gegebenheiten angepasst werden müssten.
So haben etwa Reformatoren der Katholischen Kirche die Einführung neuer Sakramente vorgeworfen, um dann selbst ihrer Meinung nach nicht authentische Traditionen zu verwerfen.
Die islamische Sunna („gewohnte Handlungsweise“) und der jüdische Talmud („Belehrung, Studium“) sind interpretative Weiterentwicklungen der heiligen Schriften (Koran bzw. Tora). In der Frage, ob die Offenbarung abgeschlossen sei oder nicht, unterscheidet sich das orthodoxe vom Reformjudentum.
Das Gewohnheitsrecht im katholischen Kirchenrecht
Das kanonische Recht, die älteste heute noch geltende und weltweit verbreitete Rechtsordnung, unterscheidet in cc. 23–28 Codex Iuris Canonici drei Arten von rechtsverbindlichem Gewohnheitsrecht: das gesetzesmäßige (secundum legem), das gesetzeswidrige (contra legem) und das Rechtslücken füllende außergesetzliche (praeter legem).
Einzelnachweise
- ↑ Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Kommentar zum GG, 12. Aufl., 2011, Einleitung Rn. 102
- ↑ So u.a. Kühl/Reichold/Ronellenfitsch: Einführung in die Rechtswissenschaft. - München: Beck 2011, § 6 Rn. 18 m.w.N.
- ↑ BGH, Beschluss vom 13. Mai 1965 - Ia ZB 27/64 - NJW 1965, 1862: „wenn er zu einer entsprechenden tatsächlichen und ständigen Übung führt, die auf der Überzeugung beruht, daß das Geübte Recht sein soll“.
- ↑ (BVerfGE 22, 114 [121]; 28, 21 [28f.]; 34, 293 [303f.]; 57, 121 [134f.]; 61, 149 [203f.]; Stern Staarecht Bd. I, S. 109f.; ders. Bd. II, S. 579f.; Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S. 433; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Kommentar zum GG, 12. Aufl., 2011, Einleitung Rn. 102
- ↑ BGH, Beschluss vom 13. Mai 1965 - Ia ZB 27/64 - NJW 1965, 1862
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