Bildung für nachhaltige Entwicklung

Bildung für nachhaltige Entwicklung

Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ist ein normatives Bildungskonzept mit dem Ziel, dem Individuum zu ermöglichen, aktiv an der Analyse und Bewertung von nicht nachhaltigen Entwicklungsprozessen teilzuhaben, sich an Kriterien der Nachhaltigkeit im eigenen Leben zu orientieren und nachhaltige Entwicklungsprozesse gemeinsam mit anderen lokal wie global in Gang zu setzen.

Inhaltsverzeichnis

Entstehungshintergrund

Auf der Grundlage des Nachhaltigkeit-Konzeptes des Brundtland-Berichts von 1987 wurde auf der Rio-Konferenz („Umwelt und Entwicklung“) der Vereinten Nationen 1992 die Agenda 21 verabschiedet, in der die nachhaltige Entwicklung als gemeinsames Leitbild der Menschheit für das 21. Jahrhundert dokumentiert wird. In Kapitel 36 widmet sich die Agenda 21 der „Förderung der Schulbildung, des öffentlichen Bewusstseins und der beruflichen Aus- und Fortbildung“ und stellt damit die erste offizielle Verknüpfung von nachhaltiger Entwicklung mit der Bildung dar. Warum wird diese Verknüpfung als notwendig angesehen? Zur Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung seien gesteuerte Wandlungsprozesse auf politischer Ebene und innovative Produktionsverfahren sowie weitere naturschonende Maßnahmen auf der wirtschaftlichen Ebene allein nicht ausreichend. Darüber hinaus sei auf individueller und gesellschaftlicher Ebene ein Engagement für nachhaltige Entwicklung, veränderte Konsum- und Verhaltensmuster sowie ein verändertes Gerechtigkeitsempfinden und Umweltbewusstsein nötig. Insgesamt sei dies alles nur über einen umfassenden mentalen und kulturellen Wandel zu bewerkstelligen [1] Dieser mentale Wandel als Prozess veränderter Bewusstseinsbildung der Individuen zur Umgestaltung gesellschaftlicher Leitbilder sei aber ohne eine weltweite Bildungsinitiative nicht machbar, denn eine „Selbstveränderung setzt eine gezielte Steuerungspolitik voraus - und Institutionen die solche Veränderungen bewirken können.“ [2]

Die Zielsetzung der Agenda 21 jedenfalls wurde seit Mitte der 1990er Jahre konzeptionell als Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) bzw. als Education for Sustainable Development (ESD) ausgearbeitet. BNE verbindet zwei gesellschaftliche Problemfelder: ökologische Notwendigkeiten und entwicklungspolitische Einsichten. Sie führt folglich Aspekte der Umwelt- und Entwicklungspolitik in einem entsprechenden Bildungskonzept zusammen.

Im Bereich der Umweltfragen wurde wegen der seit den 1960er Jahren verstärkt beobachtbaren und prognostizierten Krisenphänomene ein Bedrohungsszenario in Bezug auf mögliche zukünftige Ressourcenknappheit (durch Ressourcenverschwendung), vermehrte Umweltschädigungen und -katastrophen aller Art mit irreversiblen ökologische Folgen für Mensch und Natur im globalen Maßstab sowie ein zunehmendes Artensterben diagnostiziert. Es wurde prognostiziert, dass diese Phänomene durch die rasant wachsende Weltbevölkerung noch zusätzlich verstärkt würden. Diese Aspekte umreißen die Inhalte, die von Bildungskonzepten wie der Umwelterziehung oder der Ökopädagogik inhaltlich und didaktisch aufgenommen wurden [3] Dagegen stand im Fokus der entwicklungspolitischen Bildung die Ungerechtigkeit im Hinblick auf die Verteilung der Lebenschancen und Reichtümer zwischen dem reicheren industrialisierten Norden der Welt und den ärmeren Entwicklungs- und aufstrebenden Schwellenländern der südlichen Halbkugel. Klar war, dass ein Ausgleich zwischen Nord und Süd dringend nötig ist. Hinzu kommt aber die Erkenntnis, dass sich die Wirtschafts- und Lebensweise des Nordens aus ökologischen Gründen nicht einfach globalisieren lässt, da die verfügbaren Ressourcen nicht ausreichen und die Umweltverschmutzung rapide ansteigen würde [4][5]. Anstatt vom Bedrohungsszenario der Umweltbildung und dem Elendszenario der entwicklungspolitischen Bildung auszugehen, verfolgt die Bildung für nachhaltige Entwicklung eine positive Strategie: Es geht bei Schonung der natürlichen Ressourcen „um die gerechte Verteilung der Lebenschancen“ bzw. der natürlichen Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben „aller derzeit auf der Erde lebenden Menschen (intragenerationelle Gerechtigkeit) und um die gerechten Chancen für die zukünftigen Generationen (intergenerationelle Gerechtigkeit)“ [5]. Dies soll aber erreicht werden, ohne zugleich auf ökonomische Prosperität zu verzichten; vielmehr ist ökonomische Prosperität in vielen Ländern Voraussetzung für die Schaffung gerechterer Verhältnisse. In der BNE werden vor diesem normativen Hintergrund die Umweltbildung und das globale Lernen zusammen gedacht.

Entwicklung von BNE in Deutschland

In Deutschland wurde das Prinzip der Nachhaltigkeit 1994 als Staatsziel in Artikel 20a [6] des Grundgesetzes verankert, allerdings noch ohne explizite Erwähnung der Bildung. Erste konzeptionelle Arbeiten zur Bildung für nachhaltige Entwicklung in den 1990ern stammen aus der Umweltbildung. Die erste offizielle bildungspolitische Publikation zur Bildung für nachhaltige Entwicklung in Deutschland war der Orientierungsrahmen „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ [7]. Es folgte ebenfalls im Auftrag der Bund-Länder-Kommission die Publikation "Bildung für eine nachhaltige Entwicklung – Gutachten zum Programm" [8], die die Grundlage für das BLK-Programm 21 bildet, das im Schulbereich einen großen Anschub der Bildung für nachhaltige Entwicklung bewirkte. Mit dem Bundestagsbeschluss „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ von 2000 [9] wurde die Bundesregierung aufgefordert, die Gestaltung der bundesdeutschen Gesamtpolitik am Leitbild einer „nachhaltigen Entwicklung“ auszurichten und diese Zielsetzung mit konkreten Maßnahmen im Bildungsbereich zu verwirklichen.

Im Hinblick auf die Zusammenführung von den Bereichen Umweltbildung und Globales Lernen ist eine von allen relevanten Akteuren akzeptierte Verortung unter dem „Dach“ der Bildung für nachhaltige Entwicklung zunächst nur langsam voran gekommen. Immerhin hat im Juni 2007 ein von der Kultusministerkonferenz (KMK) veröffentlichtes bzw. verabschiedetes Papier beide Linien aufgenommen: gemeinsam mit der Bundesregierung hat sich die KMK auf einen "Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung" geeinigt. Die einen Tag später von der KMK gemeinsam mit der deutschen UNESCO-Kommission verabschiedete Empfehlung zur „Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Schule“ wurde in die Publikation des Orientierungsrahmens aufgenommen. Der Rahmen selbst bezieht sich ausdrücklich auf Bildung für nachhaltige Entwicklung (vgl. KMK/BMZ 2007).

Ziele

Ziel der BNE ist es, dass die Individuen Kompetenzen erwerben, um aktiv und eigenverantwortlich die Zukunft gestalten zu können. In diesem Zusammenhang spielen ebenso rationale, emotionale wie auch handlungsbezogene Komponenten und der Erwerb von Urteilsfähigkeit eine entscheidende Rolle. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) dient speziell dem Gewinn von Gestaltungskompetenz.

Kompetenzen

Eine Stellungnahme der OECD-Bildungsminister besagt: „Nachhaltige Entwicklung und sozialer Zusammenhalt hängen entscheidend von den Kompetenzen der gesamten Bevölkerung ab – wobei der Begriff ´Kompetenzen` Wissen, Fertigkeiten, Einstellungen und Wertvorstellungen umfasst.“ [10] Die mit dem Begriff BNE verbundenen Kompetenzen wurden unter dem Konzept der Gestaltungskompetenz ausformuliert. „Mit Gestaltungskompetenz wird die Fähigkeit bezeichnet, Wissen über nachhaltige Entwicklung anwenden und Probleme nicht nachhaltiger Entwicklung erkennen zu können. Das heißt, aus Gegenwartsanalyse und Zukunftsstudien Schlussfolgerungen über ökologische, ökonomische und soziale Entwicklungen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ziehen und darauf basierende Entscheidungen treffen, verstehen und individuell, gemeinschaftlich und politisch umsetzten zu können...“ [11] Die Gestaltungskompetenz lässt sich in 10 Teilkompetenzen aufgliedern:

  1. Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen
  2. Vorausschauend denken und handeln
  3. Interdisziplinär Erkenntnisse gewinnen und handeln
  4. Gemeinsam mit anderen planen und handeln können
  5. An Entscheidungsprozessen partizipieren können
  6. Andere motivieren können, aktiv zu werden
  7. Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können
  8. Selbstständig planen und handeln können
  9. Empathie und Solidarität für Benachteiligte zeigen können
  10. Sich motivieren können, aktiv zu werden [11]

Das Konzept Gestaltungskompetenz ist mit den Schlüsselkompetenzen der OECD kompatibel; die Teilkompetenzen der Gestaltungskompetenz sind jeweils den Schlüsselkompetenzen zugeordnet. Die drei Kategorien der OECD-Schlüsselkompetenzen sind:

  • Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (Sprache und Technologie);
  • Interagieren in heterogenen Gruppen und
  • autonome Handlungsfähigkeit. [12]

Praxisbeispiele

Wie die Förderung dieser Gestaltungskompetenzen in der Praxis aussehen könnte, zeigen unter anderem das einstige BLK-Programm 21 und sein Nachfolgeprojekt Transfer 21. Deren Werkstattmaterialien und Projektvorschläge orientieren sich stark an den Gestaltungskompetenzen und bewegen sich hauptsächlich in den Bereichen

  • interdisziplinäres Lernen,
  • Partizipation im lokalen Umfeld
  • und innovative Strukturen in der Schule.

Die für die BNE relevanten Themen sind äußerst vielseitig, von Sitten und Bräuchen in anderen Ländern über das Biotop in der eigenen Gemeinde bis zum schulinternen Kiosk, in dem Pausensnacks aus biologischem Anbau sowie fairem Handel verkauft werden. Methoden wie fächerübergreifende Projektwochen, Schülerfirmen, Kooperationen zwischen Schulen und Unternehmen, Elternpartizipation oder Planspiele (beispielsweise simulierte Stadtratssitzungen) erhalten im Hinblick auf die Ziele der BNE einen immer größeren Stellenwert [13].

Außerhalb von Schule führt die Arbeitsgemeinschaft Natur und Umweltbildung Deutschland e.V. ANU seit 1999 mit überwiegender Förderung durch das BMU Projekte durch, um das Thema Nachhaltigkeit in der Bildungspraxis - insbesondere der außerschulischen Umweltbildungseinrichtungen - zu verankern. Im Ergebnis sind eine Vielzahl praktischer Beiträge entstanden, die nach Schwerpunktthemen gegliedert sind und laufend ergänzt werden.[14]

Zu den wichtigen Themen einer Bildung für nachhaltigen Entwicklung im außerschulischen Bereich gehören insbesondere Bauen und Wohnen, Energie und Klimaschutz, Geld/Wirtschaft/ökonomische Bildung, Mobilität, Wasser, Naturschutz, Landwirtschaft / Ernährung / Gesundheit, Konsum, Partizipation. Wichtig ist eine genaue Zielgruppenansprache, die sich u.a. an der Lebenswelt, den Wertorientierungen und Einstellungen der Bildungsteilnehmenden orientieren muss. Eingesetzt werden partizipative Methoden wie z.B. Open Space, Zukunftwerkstatt oder Philosophieren mit Kindern.[15]

Immer wichtiger wird neben dem formalen sowie dem nicht-formalen Bildungssektor auch der Bereich des Informellen Lernens. Dabei handelt es sich um ein mehr "beiläufiges" Lernen, das andere Methoden nutzt als das typische Lehrer-und-Schüler-Verhältnis, aber auch pädagogisch gestaltet werden kann. Beispiele sind Wettbewerbe oder der Familienbesuch in einem Zoo.[16]

Kritik

Von Praktikern aus den Gebieten, die BNE umfassen, wird kritisiert, dass der Anspruch des BNE-Konzepts Umwelt-, Natur-, Friedens-, entwicklungspolitische und geschlechterspezifische Erziehung zu leisten, überzogen sei. In einem Artikel des Österreichischen Standard heißt es dazu: "Schon die ästhetische Dimension bleibt in der Regel ausgeklammert, obwohl ihre Bedeutung seit 20 Jahren angesichts des historischen Satzes im Konflikt um das Kraftwerk Hainburg und die Donauauen ("Dort ist ja nur Gestrüpp!") erkannt sein müsste. Von der (entwicklungs-)politischen oder spirituellen Dimension ganz zu schweigen."[17]

Siehe auch

Literatur

  • Beyer, Axel (Hrsg.): Fit für Nachhaltigkeit? Biologisch-anthropologische Grundlagen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Leske + Budrich, Opladen 2002. ISBN 3-8100-3293-X
  • de Haan, Gerhard (2004): Ergebnisse und Perspektiven des BLK Programms "21". In: Dokumentation der Abschlussveranstaltung des BLK-Programms "21". Berlin. Seiten 25-31
  • Gorbatschow, Michail: Mein Manifest für die Erde. Frankfurt/M. 2003 ISBN 3-593-37215-0
  • Kultusministerkonferenz: Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung. Bonn 2007, siehe BNE-portal.de: Orientierungsrahmen für den Lernbereich globale Entwicklung(PDF 2MB)
  • Kyburz-Graber, Regula; Hofer, Kurt & Wolfensberger, Balz (2006): Studies on a socio-ecological approach to environmental education – a contribution to a critical position in the education for sustainable development discourse. In: Environmental Education Research 12(1), 101-114.
  • Lude, Armin (2001): Naturerfahrung und Naturschutzbewusstsein, Studien-Verlag, Innsbruck/Wien/München
  • Lehle, Georg (2005): Nachhaltige Lebensfreude, Mankau-Verlag, Murnau
  • Overwien, Bernd, Rathenow, Hanns-Fred (Hrsg.):Globalisierung fordert politische Bildung. Politisches Lernen im globalen Kontext. Unter Mitarbeit von Ghassan El-Bathich, Nils Gramann, Katja Kalex. Opladen 2009
  • Peter, Horst; Moegling, Peter; Overwien, Bernd: Politische Bildung für nachhaltige Entwicklung. Bildung im Spannungsfeld von Ökonomie, sozialer Gerechtigkeit und Ökologie. Immenhausen 2011
  • Reheis, Fritz: Nachhaltigkeit, Bildung und Zeit. Zur Bedeutung der Zeit im Kontext der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in der Schule. Hohengehren: Schneider Verlag 2005
  • Rieß, Werner & Apel, Heino (2006) (Hrsg.): Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Aktuelle Forschungsfelder und -ansätze. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. (auf SpringerLink.com)
  • Rieß, Werner (2010). Bildung für nachhaltige Entwicklung. Theoretische Analysen und empirische Studien. Münster: Waxmann
  • Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung Bildung für eine nachhaltige Entwicklung: Orientierungsrahmen, BLK-Heft 69, 1998 (PDF 220kB)
  • Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Gutachten zum Programm von Gerhard de Haan und Dorothee Harenberg, Freie Universität Berlin, BLK-Heft 72, 1999 (PDF 320kB)

Weblinks

Deutschland

Oesterreich

Schweiz

Einzelnachweise und Fußnoten

  1. BLK-Heft 72, 1999, S. 25f.
  2. Gerhard de Haan: Politische Bildung für Nachhaltigkeit
  3. BLK-Heft 72, S. 18
  4. BLK-Heft 72, S. 14
  5. a b Reheis 2005, S. 14
  6. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 20a: Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
  7. BLK-Heft 69
  8. BLK-Heft 72
  9. Bundestagsdrucksache 14/3319, 10. Mai 2000
  10. OECD.org: Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen, S. 6 (PDF 380KB)
  11. a b Programm Transfer 21: Orientierungshilfe Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Sekundarstufe I Englisch: Transfer-21 Programme: Guide Education for Sustainable Development at Secondary Level
  12. OECD.org: Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen, S. 7 (PDF 380KB)
  13. Materialien des Transfer-21 sowie Übersicht Werkstattmaterialien
  14. www.umweltbildung.de/projekte
  15. www.umweltbildung.de/nachhaltigkeit.html
  16. Hamburg lernt Nachhaltigkeit / Informelles Lernen
  17. derStandard.at: Bildung für Nachhaltige Entwicklung, 25. März 2004

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