2-3 Straßen

2-3 Straßen
Haus am Hans-Böckler-Platz, Mülheim
Die Oesterholzstraße, Dortmund.
Die Sankt-Johann-Straße, Duisburg.

„2-3 Straßen. Eine Ausstellung in Städten des Ruhrgebiets“ von Jochen Gerz war Teil der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010. 78 Teilnehmer aus Deutschland, Europa und Übersee wohnten für ein Jahr mietfrei in drei Städten des Ruhrgebiets und schrieben dafür als Autoren an einem gemeinsamen Text. Das künstlerische Experiment „2-3 Straßen“ startete mit Beginn des Kulturhauptstadt-Jahres in Duisburg, Dortmund und Mülheim an der Ruhr. Ziel der Arbeit war die Veränderung der Straßen. Insgesamt sind 887 Menschen Autoren geworden, und ihre Arbeit hat vielfältige Spuren in den Straßen hinterlassen.

Inhaltsverzeichnis

Ausstellung

Das Konzept von Jochen Gerz für „2-3 Straßen“ entstand 2006 im Auftrag des NRW KULTURsekretariats. Danach sollten drei ganz normale Straßen mit Leerstand in drei Städten des Ruhrgebiets ein Jahr lang zur Kunst und zur Ausstellung werden. 78 Kreative waren eingeladen, ein Jahr lang mietfrei in der Ausstellung zu wohnen und einen gemeinsamen Text zu schreiben, der nach Ablauf des Jahres in Buchform veröffentlicht würde. Da sich grundsätzlich jeder an diesem kreativen Prozess beteiligen konnte – alte Mieter, neue Mieter, Passanten und Besucher – war die Tendenz des auf diese Weise entstehenden Werks nicht vorauszusagen, ebenso wenig wie die Entwicklung sozialer Beziehungen und Veränderungen in den Straßen: „Wir schreiben... und am Ende wird meine Straße nicht mehr die gleiche sein.“

Als „Ausstellung“ sollte die Realität, der Alltag in den Straßen zum Gegenstand ästhetischer Erfahrung werden. Das Publikum der Kulturhauptstadt und die Bewohner der Region praktizieren in Anlehnung an Bazon Brocks Besucherschulen seit der documenta 4 (1968) die „Besucherschule in 2-3 Straßen“. Soziologen, Kulturwissenschaftler und Urbanisten betreiben wissenschaftliche Studien, und die mediale Berichterstattung wirft ein zusätzliches Licht auf die sonst eher marginalisierten Quartiere. Im Gegenzug entstehen vor Ort neue Öffentlichkeiten, in denen sich die Straße ein Bild von sich selbst macht. „2-3 Straßen“ ist ein in der Kunstlandschaft einzigartiger sozialer Prozess, der nicht nur auf die Veränderung der Straßen zielt, sondern auch auf die der Kunst. Er setzt die Kreativität und Autorschaft der ganzen Gesellschaft als Grundbedingung zeitgenössischer Kultur voraus.

Ablauf

Zwei Jahre nach der Entstehung des künstlerischen Konzepts nahm „2-3 Straßen“ konkrete Züge an. In drei der ursprünglich fünf interessierten Ruhrgebietsstädte – Duisburg, Mülheim an der Ruhr und Dortmund – konnte die Ausstellung realisiert werden. Sie wählten jeweils eine Straße aus, um dort Leerstand zu sanieren und ein Jahr lang mietfrei zur Verfügung zu stellen. Die Straßen waren typisch für westdeutsche Nachkriegsstädte und beinhalteten keine nennenswerten Besonderheiten. Zu den Kriterien der Auswahl zählte einzig, dass sie in einem Viertel liegen, das „erneuert, verändert wird oder das neu entsteht, renoviert, rehabilitiert oder umgewidmet wird.“[1]

An der Finanzierung des Projekts beteiligten sich neben der Kulturhauptstadt sowohl das Ministerium für Bau und Verkehr als auch das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie NRW, sowie die örtlichen Wohnbaugesellschaften, und zeigten damit ihr Interesse am Thema Kreativwirtschaft. Von Stadt zu Stadt waren die Profile der Quartiere verschieden. In Mülheim wurden 13 Wohnungen von der dritten bis 20. Etage eines sanierten Hochhauses am Bahnhof, Hans-Böckler-Platz 7/9 Teil der Ausstellung, in Duisburg-Hochfeld, einem alten Arbeiterviertel, 20 Wohnungen in der Saarbrücker Straße / Sankt-Johann-Straße, und in der Dortmunder Nordstadt 24 Wohnungen unweit des Borsigplatzes im Karree zwischen Schlosser- und Oesterholzstraße.

Auf die Anzeige zur Einladung der Teilnehmer („Grundgehalt: ein Jahr mietfrei wohnen“) Ende 2008, die in identischer Form in Immobilien-Portalen, Tageszeitungen und Kulturmagazinen geschaltet wurde, meldeten sich 1457 Kandidaten. Es folgte ein einjähriger E-Mail-Austausch mit den Kandidaten, der eine frühzeitige Auseinandersetzung mit „2-3 Straßen“ ermöglichte. Kriterium für die Teilnahme war die Motivation, ein Jahr lang die eigene, fremde Umwelt zu gestalten und regelmäßig am gemeinsamen Text zu schreiben. Von der anfangs großen Zahl der Kandidatinnen und Kandidaten aus 30 Ländern (und vier Kontinenten) konnten schließlich 78 Teilnehmer berücksichtigt werden. Ihre Zahl richtete sich nach der Anzahl der von den Städten bereitgestellten Wohnungen.

Der Bezug begann im Herbst 2009, die künstlerische Arbeit am 1. Januar 2010. Vor Ort und in einem Koordinationsbüro in Essen arbeiteten 20 Mitarbeiter ein Jahr lang mit den Teilnehmern zusammen und unterstützten die Entwicklung zahlreicher Projekte mit der Nachbarschaft. Bis zum Ende des Jahres besichtigten über 1300 Menschen die Straßen. 887 Autoren haben in 10.000 Beiträgen auf 3000 Seiten gemeinsam geschrieben. Nach Ende der Ausstellung blieben über die Hälfte der neuen Mieter im Ruhrgebiet. Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit war eine Fortsetzung jenseits des Kunstkontextes im Konzept als ein Ziel von „2-3 Straßen“ genannt.[2]

Schreiben des Texts

Der Text ist ein nicht zu steuerndes Ergebnis kollektiver Autorschaft. Bewohner, Passanten und die Besucher der Straßen beteiligten sich daran, wobei jeder neue Beitrag chronologisch an das bereits Geschriebene anschloss und sich im Laufe des Jahres zu einem einzigen Fließtext zusammenfügte. Dabei wurden alle Beiträge berücksichtigt, solange sie von den Autoren selbst stammten und zuvor noch nicht veröffentlicht wurden.

„2-3 Straßen TEXT“ ist eine digitale Produktion, die über eine browserbasierte Software erstellt wurde. Die Texte wurden online geschrieben und per Mausklick oder nach acht Minuten Inaktivität automatisch in einem zentralen Archiv gespeichert. Dieses Archiv war während des Jahres nicht einsehbar. Die Autoren konnten ihre Beiträge weder zurückrufen, noch korrigieren oder explizit an das Vorangegangene anschließen. Dadurch, dass sie immer neu ansetzten, wurde eine permanente Gegenwart erzeugt, in der sich ein fortlaufender Prozess abbildet. „Das Verfahren ähnelt dem des Cut-up, mit dem Unterschied allerdings, dass hier kein Text zerschnitten und neu zusammengesetzt wurde, sondern dass von den Schreibenden heterogene ‚Schnitte’ hergestellt und im Computer seriell zusammengefügt wurden. Auf diese Weise entstand ein Dokument, das die Simultaneität und Polyphonie der Wirklichkeit radikaler und direkter zur Anschauung bringt, als alle bisherigen Versuche experimenteller Literatur dies vermochten.“[3]

Ein zentraler, wenn auch unsichtbarer Teil der Ausstellung in den Straßen war der Text, der nur vor Ort geschrieben werden konnte. Einzig ein Monitor im Museum Folkwang in Essen zeigte flüchtig Wort für Wort im Moment der Aufnahme im Archiv. Das Werk wurde seinen Autoren erst nach Ablauf des Jahres mit Erscheinen des Buchs bekannt (Die Namen aller Autoren sind im Anhang aufgelistet). Ihr Beitrag als vielstimmiger, 16-sprachiger Monolog wird zu einem „Fluss ohne Ufer.“[4] „2-3 Straßen TEXT“ erneuert den Anspruch zeitgenössischer Literatur, die Wirklichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern zu gestalten: Die Gesellschaft als Autor.

Veränderung

Vielleicht zeigt „2-3 Straßen“ mehr als die heutigen Möglichkeiten von Kunst und Literatur. Die Arbeit spürt die Veränderungen im gesellschaftlichen Selbstverständnis von Kultur, Wirtschaft, Stadtentwicklung nicht nur auf, sondern sie provoziert sie. Sie geht von der Beobachtung aus, dass sich die Menschen in einer heterogenen „kulturellen Gesellschaft“ weniger als Zuschauer an traditioneller Kultur (gleich welcher Provenienz) orientieren, sondern in den Medien informieren und konstituieren. Die Sehnsucht nach Selbstversicherung scheint dabei ebenso groß wie die Unlust am Befolgen überkommener Muster zu sein. Die so entstehende Spannung nutzt „2-3 Straßen“ zweifach. Die Arbeit erprobt zum einen, was die Praxis von Kunst unter diesen Umständen sein kann. Zum anderen verfolgt sie die Veränderung des Umfelds selbst als ein Ziel des Experiments, das sich nicht als Kunst allein versteht. Voraussetzung dafür ist die Erweiterung des Autorenbegriffs in den Bereich der inaktiven Zuschauergesellschaft hinein. Autorschaft wird verstanden als der eigene, kreative Beitrag zur Öffentlichkeit ebenso wie zum eigenen Leben, und die Teilnahme an der kulturellen Gesellschaft aller.

Einzelnachweise

  1. Jochen Gerz: Konzept 2-3 Straßen, in: 2-3 Straßen MAKING OF, hg. v. Hermann Pfütze, DuMont, Köln 2011.
  2. Jochen Gerz: Konzept 2-3 Straßen, in: 2-3 Straßen MAKING OF, hg. v. Hermann Pfütze, DuMont, Köln 2011.
  3. Ralf Georg Czapla: ...ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, in: 2-3 Straßen MAKING OF, hg. v. Hermann Pfütze, DuMont, Köln 2011.
  4. Michael Kohler: Fluss ohne Ufer, Frankfurter Rundschau, 29. November 2010.

Literatur

Weblinks


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