Jochen Gerz

Jochen Gerz

Jochen Gerz (* 4. April 1940 in Berlin) ist ein deutscher Künstler.

Er ist in erster Linie Konzeptkünstler. Seine Ausstellungen präsentieren nie einzelne künstlerische Disziplinen, sondern sind in erster Linie als Environments zu verstehen; darin sind hauptsächlich die Medien Fotografie, Video, Künstlerbuch, Skulptur bzw. Plastik, aber auch Performance enthalten.

Jochen Gerz lebt seit 2008 in Irland (Kilgarvan, Co. Kerry).

Inhaltsverzeichnis

Werdegang

Jochen Gerz kam von der Literatur zur Kunst: Er begann als Schriftsteller (Konkrete Poesie) und war Auslandskorrespondent einer deutschen Presseagentur. Er blieb zunächst in der Nähe seiner Heimatstadt Düsseldorf. In Köln studierte er Germanistik, Anglistik, Sinologie, später dann in Basel Archäologie und Urgeschichte. Es kam zu keinem Studienabschluss.

Arbeiten im öffentlichen Raum

Gerz wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt durch seine Aktionen, die in der Regel gemeinsam mit anderen erarbeitet wurden. Einige Beispiele sind:

Mahnmal gegen Faschismus, Hamburg-Harburg 1986

Das Denkmal, das er 1986 zusammen mit Esther Shalev-Gerz entwarf, steht im Hamburger Stadtteil Harburg und ist eine ein Meter breite und 12 Meter hohe Säule mit einem dünnen Bleimantel. Neben dieser Säule gab es vier Griffel und eine Tafel, die in sieben Sprachen auf dieses Denkmal gegen den Faschismus hinwies und Passanten dazu einlud zu unterzeichnen. Sobald die erreichbare Fläche beschrieben war, sollte die Säule um dieses Stück abgesenkt werden. In der ursprünglichen Vorstellung der Künstler sollte also ein Denkmal in der Interaktion mit den Menschen entstehen, bei der eine Liste mit Namen eingraviert werden würde, und das gleichzeitig bei dieser Vollendung im Boden verschwunden wäre. Nur durch eine kleine Glasscheibe sollte ein Einblick auf einen Teil der Säule möglich sein, deren Inschrift ähnlich wie auf vielen anderen Denkmalen des Holocaust als eine lange Liste von Namen erschien, mit dem entscheidenden Unterschied, dass hier im Gegensatz zu Listen der Namen von Opfern lebende Menschen, und zwar von diesen selbst geschrieben, zu lesen wären. Jochen Gerz sprach bei seinen Arbeiten von „einem neuen Typus von Denkmälern, die die traditionell angestrebte kurze Betroffenheit des Betrachters ersetzt durch seine bleibende Mitautorenschaft und Mitverantwortung.“ [1]

Nach kurzer Zeit zeigte sich aber ein anderes Bild: die Säule war überzogen von einer ganzen Schicht von Namen und Sprüchen (x liebt y oder „Ausländer raus!“) und deren Durchstreichungen sowie Bildern und Graffiti. Im Laufe der Absenkungen sind bis zur letztendlichen Versenkung Schussspuren an der Bleiummantelung gefunden worden; es wurde auch versucht, am Fuße der Säule die ganze Ummantelung zu entfernen – schließlich wurden auch Hakenkreuze eingeritzt.

Der Künstler selbst kommentierte dies so: „Denn die Orte der Erinnerung sind Menschen, nicht Denkmäler.“[1] An anderer Stelle vermerkte er: „Als Spiegelbild der Gesellschaft ist das Monument im doppelten Sinn problematisch, da es die Gesellschaft nicht nur an Vergangenes erinnert, sondern zusätzlich – und das ist das Beunruhigendste daran – an die eigene Reaktion auf diese Vergangenheit.“ [2]

2146 Steine – Mahnmal gegen Rassismus, Saarbrücken 1993

Im April 1990 wurden alle 66 jüdischen Gemeinden in Deutschland (und der damaligen DDR) eingeladen, die Listen ihrer Friedhöfe zur Verfügung zu stellen. Gemeinsam mit acht Studenten entfernte Gerz in einer nächtlichen Aktion Pflastersteine des Saarbrücker Schlossplatzes, gravierte auf die Unterseite der Steine die Namen von jüdischen Friedhöfen, auf denen bis zur nationalsozialistischen Diktatur bestattet wurde, und setzte die Steine wieder ein. Die Zahl der von den jüdischen Gemeinden genannten Friedhöfe wuchs bis Herbst 1992 auf 2146. Sie gab dem Mahnmal den Namen: 2146 Steine – Mahnmal gegen Rassismus Saarbrücken. Diese Arbeit korrespondierte mit dem (mittlerweile) unsichtbaren Mahnmal von Hamburg-Harburg, das über die Jahre in den Boden versenkt wurde. Der Saarbrücker Schlossplatz heißt heute Platz des Unsichtbaren Mahnmals.

Bremer Befragung – SINE SOMNO NIHIL, Bremen 1995

Hierbei handelt es sich um eine Skulptur, die zwischen 1990 und 1995 in Zusammenarbeit mit 232 Bremer Bürgern (von 50.000 Befragten) entstand, die die Fragen beantworteten:

  1. Zu welchem Thema sollte die Arbeit Stellung nehmen?
  2. Glauben Sie, dass sich Ihre Vorstellungen mit Hilfe von Kunst verwirklichen lassen?
  3. Möchten Sie an dem Kunstwerk mitarbeiten?

Die an der Auftragsarbeit der Stadt Beteiligten entschieden in sechs öffentlichen Seminaren, dass die Skulptur kein materielles Objekt sein musste.

Das Lebende Monument, Biron 1996

Der Auftrag des französischen Kultusministeriums war ungewöhnlich. Ein deutscher Künstler sollte das Denkmal für die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs im Dorf Biron in der Dordogne, wo die Massaker der SS noch in lebhafter Erinnerung waren, ersetzen. Jochen Gerz liess den Obelisk und die Tafeln mit den Namen der Gefallenen erneuern und fragte jeden Bewohner eine Frage, die geheim blieb. Die 127 anonymen Antworten liess er auf Emailleschilder brennen und auf dem neuen Obelisk anbringen. Auch nach der Einweihung wuchs die Zahl der Schilder auf dem „lebenden Monument“. Neue und junge Einwohner beantworten die „geheime Frage“ und setzen den Dialog der Dorfbewohner mit ihrer Geschichte fort.

Warum ist es geschehen? Realisierungsentwurf: Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 1997

Das Konzept, mit dem Jochen Gerz unter die letzten vier Teilnehmer kam, versuchte nicht die Shoah darzustellen oder der Erinnerung daran eine Form zu geben. Im Raum der Antworten sollten die Besucher der Gedenkstätte Stellung nehmen zur Frage: Warum ist es geschehen? Die Antworten sollten von einem Roboter tags- und nachts in den Betonboden des großen Geländes neben dem Brandenburger Tor gefräst werden. 60-80 Jahre lang sollte das Mahnmal Baustelle bleiben, bis die Antworten der Besucher des Denkmals die immense Fläche (auch zur Erinnerung der langen öffentlichen Debatte, die seiner Realisierung in Deutschland vorausgegangen war) gefüllt hätten. Das Wort „Warum“ in den 39 Sprachen der verfolgten Juden Europas sollte 16m über dem Boden schwebend den Platz beleuchten.

Les mots de Paris, 2000

Aus Anlass des neuen Milleniums realisierte Jochen Gerz für das französische Kulturministerium "Die Wörter von Paris", eine Arbeit zur ebenso oft romantisierten wie tabuisierten Existenz der Obdachlosen. Waren sie früher als clochards Gegenstand von Filmen, Gedichten, Chansons, sind sie heute als SDF aus dem touristischen Zentrum der französischen Hauptstadt verbannt. Gerz stellte 12 Obdachlose als Teil des Kunstwerks für 6 Monate an und probte 3 Monate lang, zusammen mit Theaterleuten und Kunststudenten die Ausstellung der Obdachlosen auf dem meistbesuchten Platz von Paris, dem Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame. In der ungewöhnlichen Ausstellung standen Pariser Passanten und Touristen aus aller Welt denen gegenüber, die unsichtbar geworden sind. Die Obdachlosen sprachen ohne Komplex von ihrem Leben „hinter dem Spiegel“ und fanden häufig ein überraschtes Publikum, das sich zögernd auf den Dialog einließ.

Future Monument, Coventry 2004

Das "Zukunftsmonument" ist die Antwort der Bewohner von Coventry auf eine oft dramatische Vergangenheit. Es handelt von Feinden, aus denen Freunde werden. 6000 Bürger leisteten einen Beitrag, mit einer öffentlichen und zugleich persönlichen Aussage. Die Stadt erinnerte ihre Zerstörung im Zweiten Weltkrieg durch die Deutschen, zugleich entdeckte sie, wie viele Einwohner aus Coventry heute Migranten sind und was es bedeutet, Kolonie gewesen zu sein. Auf den Glasplatten vor dem Obelisk aus Glas sind aus den acht meistgenannten früheren Feinden Freunde geworden:
Unseren deutschen Freunden
Unseren russischen Freunden
Unseren englischen Freunden
Unseren französischen Freunden
Unseren japanischen Freunden
Unseren spanischen Freunden
Unseren türkischen Freunden
Unseren irischen Freunden

Amaptocare, Dublin 2004-13

In Dublin entsteht seit 2001 der größte Kunstauftrag Irlands. Die Einwohner des verarmten Stadtteils Ballymun sind eingeladen, Bäume für den öffentlichen Raum zu spenden. Über 600 Bäume sind der Stadt von ihren Bewohnern geschenkt worden. Fünfzehn Arten standen zur Wahl und auch der Standort konnte vom Spender bestimmt worden. Jeder Teilnehmer des Autorenprojekts formuliert mithilfe des Künstler einen Text, der neben seinem Baum auf einem Pult die Frage beantwortet: Was würde dieser Baum, wenn er sprechen könnte, über mich sagen? Auf der neuen City Plaza entsteht eine gläserne Bodenkarte (30:30m) des Stadtteils und in den Granitboden sind die Namen der Spender eingraviert.

woherwohin, Internationales Bodenseefestival 2004

Im Auftrag des Internationalen Bodenseefestivals und ausgehend von dessen grenzüberschreitenden Aktivitäten stellt der Künstler 2004 den Bewohnern um den See die Frage nach Herkunft und Wunschort, dem Ort, an dem sie am liebsten sein und leben würden. Im Bodenseeraum wird die Bevölkerung, unabhängig von Staatsgrenzen und Nostalgien, nach den Wurzeln ihrer Identität befragt

Platz der Grundrechte, Karlsruhe 2005

Platz der Grundrechte bei Nacht

Ausgangspunkt war die Idee der Stadt Karlsruhe, die eigene Beziehung zum Recht und zu den nationalen, regionalen und städtischen Gerichten, vor allem zum Bundesverfassungsgericht, zu thematisieren und sichtbar zu machen. Jochen Gerz stellte im ersten Teil der Arbeit den Karlsruher Gerichtspräsidenten, einigen anderen Juristen, aber auch prominenten Bürgern der Stadt Fragen über den Beitrag des Rechts zur Gesellschaft. Danach wandte er sich mit seinen Fragen an Bürger, die mit dem Gesetz in Konflikt gerieten. So entstanden zweimal 24 Aussagen. Je eine Antwort der beiden befragten Gruppen wurde auf die Vorder- und Rückseite eines Straßenschilds emailliert. Realisiert wurden insgesamt 24 Schilder mit 48 Aussagen zum Recht, jedes auf einen Metallpfosten montiert. Am 2. Oktober 2005 wurde der neue Platz der Grundrechte beim Karlsruher Schlossplatz eingeweiht. Eine zweite, dezentrale Version des Platzes ist an 24 von Bürgern ausgewählten Standorten über die Stadt verstreut.

Platz des europäischen Versprechens, Bochum 2007-12

Platz des europäischen Versprechens

Im Auftrag der Stadt Bochum und im Rahmen der Kulturhauptstadt RUHR.2010 entsteht in Bochum seit Sommer 2007 der Platz des europäischen Versprechens. Er befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Bochumer Rathaus und der Innenstadt. Die Teilnehmer geben Europa ein persönliches Versprechen, das unveröffentlicht bleibt. Dafür werden die Namen der Autoren auf großen Basaltbodenplatten eingraviert, welche sich ausgehend von der Heldengedenkhalle in der Christuskirche über den Vorplatz ausbreiten. Bisher haben sich 14000 Menschen an diesem Projekt beteiligt. Der Platz des europäischen Versprechens soll 2012 fertig gestellt werden. [3]

2-3 Straßen. Eine Ausstellung in Städten des Ruhrgebiets, 2008-11

Ebenfalls im Rahmen der Ruhr.2010 lud Jochen Gerz 78 Kreative ein, ein Jahr mietfrei im Ruhrgebiet zu leben. Die drei Städte Duisburg, Dortmund und Mülheim an der Ruhr stellten dafür jeweils sanierten Wohnraum zur Verfügung. Ziel der Ausstellung 2-3 Straßen war die Veränderung der betreffenden Straßen sowie die Veröffentlichung eines Buches, welches von zahlreichen Autoren, den alten und neuen Mietern, aber auch den Besuchern der Straßen geschrieben wurde. Das Motto der Ausstellung lautete: Wir schreiben... und am Ende wird meine Straße nicht mehr die gleiche sein[4]

Weitere Projekte

Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen

Einer der wichtigsten Beiträge von Jochen Gerz war 1976 auf der 37. Biennale in Venedig zu sehen, zu der Klaus Gallwitz neben Joseph Beuys und Reiner Ruthenbeck den damals 36-Jährigen eingeladen hatte. Der neun Meter hohe und sieben Meter lange Zentaur, eine Holzkonstruktion, war durch die Zwischenwand des Raumes geteilt. Der etwas größere Teil war unten mit einer Klappe versehen, durch die Gerz in den Raum, in dem er sich mehrere Tage aufhielt, gelangen konnte. Im größeren der beiden Säle standen sechs Pulte, versehen mit 48 karierten Papierbögen, beschrieben mit rotbrauner Abdeckfarbe in Spiegelschrift, Fotos und Zeichnungen.

Wie in anderen ›Griechischen Stücken‹ macht Gerz die griechische Mythologie zum Ausgangspunkt seiner irritierenden, verwirrenden und die Wirklichkeit konterkarierenden Aktionen, Installationen und Performances. Er treibt die antike Sage jedoch nicht weiter als humanistisches Bildungsgut voran, sondern verweist auf den Apparat Kultur als etwas vom wirklichen Leben Trennendes. Der Zentaur von Jochen Gerz ist, so Karlheinz Nowald »natürlich der Kulturmensch, der Schwierigkeiten hat, von seiner Zivilisation loszukommen«.

Ein originalgetreuer Nachbau dieser Installation befindet sich heute im Museum Wiesbaden.

Exit/Dachau

Auf ein Museum besonderer Art wies Gerz 1974 mit diesem Projekt hin. Gegenstand der Arbeit war das Museum des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Laut Detlef Bluemler wollte er damit die Verharmlosung durch das Abbilden kritisieren, indem er verschiedene Hinweisschilder anbrachte. »Wenn heute das der Bequemlichkeit dienende Museumsstichwort ›Exit-Ausgang‹ an den Türen hängt«, so Gottfried Knapp, »die einst direkt und unausweichlich in den Tod geführt haben, dann bekommt die unbedachte, durch Diskrepanz verzerrte Analogie der Verweisungssysteme eine makabre Dimension.« Weitere Begriffe, die Gerz zu einer konkreten Poesie zusammensetzte, waren ›Fortsetzung‹, ›Rauchen verboten‹ oder ›Es wird gebeten, die Ausstellungsstücke nicht zu beschädigen‹. Dazu präsentierte er einen fensterlosen, dämmrigen Raum. Aus nackten Glühlampen fällt fahles Licht auf streng angeordnete Tische und Stühle, die aus grob bearbeitetem Holz gezimmert sind. Über Lautsprecher ist das Stöhnen eines Mannes zu hören, sowie Schreibmaschinengeklapper – eine mögliche Deutung wäre, dass dies die Dokumentation des Schreckens symbolisieren soll. Die Stühle sind zur Wand hin ausgerichtet, auf den Tischen liegt je ein Fotoalbum – festgeschraubt. In den Alben befinden sich Fotografien, solche, die das Leiden der KZ-lnsassen festhalten, und andere, die die Teilnahmslosigkeit des Umgangs mit diesem ›Kulturabschnitt‹ fixieren: KZ-Verordnungen, Museums-Verordnungen, Regeln, Verbote, Warnungen und Zeichen, die dem reibungslosen Kanalisieren von Besucherströmen dienen.

Gerz scheint den Besucher zu zwingen, über die Parallelität der Konzepte KZ und Museum nachzudenken. Sein Credo könnte lauten: zeigen, dass unser Handeln, vor allem aber die Art, wie es dargestellt wird, »gar nichts mit unserem Leben zu tun hat, dass wir nicht eins damit sind«.[2].

Barbara Distel[5], die langjährige Leiterin der Gedenkstätte Konzentrationslager Dachau bezeichnete Gerz Vorgehen als "Denunziation der Gedenkstätte" und warf Gerz vor, nicht die an dem Ort geschehenen Verbrechen oder das Leiden der Opfer als skandalös zu empfinden, sondern den Begriff Museum und die Bitte an die Besucher, die Würde der Stätte zu bewahren.

Prometheus

Ein anderes seiner ›Griechischen Stücke‹ lief so ab: mit Hilfe eines Spiegels lenkt Gerz Sonnenlicht auf das Objektiv einer Video-Kamera, die in einer Entfernung von 50 Metern stehend ihn filmt. Durch die Überbelichtung wird nach und nach das aufgenommene Bild gelöscht. »Das Medium blenden mit Licht«, schreibt Gerz zu dieser Performance. Oder auch: »P. im Stock von D. ist der Mann, der sich dagegen wehrt, abgebildet zu werden.« Er will nicht, dass man ein Bild von ihm macht. Möge man sich eines von sich selbst machen. Denn »es gibt nur ein echtes Bild«, so Gerz, »und das sind wir selbst«.

Ausstellung von Jochen Gerz neben seiner fotografischen Reproduktion

1972 stellte sich Gerz in Florenz zwei Stunden lang neben eine an einer Hauswand klebende Fotografie seiner selbst. Doch die vorbeiflanierenden Passanten betrachteten nicht etwa das ›Original‹, sondern interessierten sich vielmehr für das Abbild. Damit, so eine Interpretation von Detlef Bluemler, zeige Gerz, wie abgelenkt vom Wesentlichen wir durch die tagtäglich über uns hereinbrechende Bilderflut der Medien sind. Sein Diktum ›Mach dir kein Bild von mir‹ sei ein weiteres mal erfüllt worden. »Den Medien den Rücken kehren«, hat Gerz in seinen tagebuchähnlichen Aufzeichnungen notiert, »man kann es nicht.«

Performance 79

Im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe in der Münchner Städtischen Galerie im Lenbachhaus installierte er 1979 zwei Videokameras bzw. -monitore und ein Gummiseil, das den Raum in zwei Hälften teilte. Das eine Ende des Seils war in der Wand verankert, das andere, für das Publikum nicht sichtbar, in Schlingenform um den Hals von Gerz gelegt. Zog jemand an dem Seil, zog sich die Schlinge zu. Auf den Monitoren war die jeweilige Wirkung zu sehen. In der Wiederholung von 1980 im Frankfurter Kunstverein war, so Amine Haase, »entweder das Erkennen verlangsamt, oder die Brutalität des seilziehenden Publikums war eiskalt: Gerz musste die Aktion abbrechen«.

Eine naheliegende Interpretation wäre, dass der Mensch einen anderen offenbar deshalb bereitwillig stranguliert, weil die Reaktion des Opfers nur via ›Television‹ ankommt. Darüber befragt, wie diese Performance von Gerz denn ihrer Meinung nach zu sehen sei, antwortete ein großer Teil des (Münchner) Publikums: Sinnbild des Leidens. Im Zusammenhang mit seiner inhaltlich ähnlich angelegten Performance ›Rufen bis zur Erschöpfung‹ äußerte sich Gerz: »… man kann ja heute gar nicht von uns als dem Leiden reden. […] Wir gucken uns ja jeden Tag 25 Tote an.«

Literarische Arbeiten

In den philologischen Hörsälen wurden Gerz Zweifel an der Sprache injiziert. Die Nürnberger Prozesse nennt er als Beispiele dafür, »was man mit Sprache anrichten kann«, wie »man mit Sprache lügen kann«. Ein »Auslaufen der Literatur als Avantgarde« hat bewirkt, dass die Literatur der Nachkriegszeit für ihn »nie interessant gewesen« ist. Seine Literatur war und ist beispielsweise die der Engländer oder der Amerikaner Ezra Pound, James Joyce, Malcolm Lowry oder des Italieners Italo Svevo.

Obwohl seine Literatur eher einen der Kunst dienenden Charakter hat, wird sie auch für sich genommen hoch eingeschätzt. »Das umfangreichste und reichste dieser Bücher«, schreibt Petra Kipphoff, »(das parallel zum Venedig-Projekt entstandene Buch ›Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen‹) ist Reflexion und Rechenschaftsbericht einerseits, eine Aphorismensammlung andererseits, die in der Verzweigtheit der filigranen Formulierungen in der zeitgenössischen Literatur nicht ihresgleichen hat.«

Die Spiegelschrift spielt in vielen seiner Werke eine Rolle, so etwa bei der Installation ›Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen‹, bei der die 48 an Pulten befestigten Papierbögen spiegelbildlich beschrieben waren. Gerz selbst verweist darauf, er sei als Linkshänder geboren und habe sich, da es am Ende des Krieges keine Schulen gegeben habe, zunächst mit der linken Hand das Schreiben beigebracht. Außerdem gibt er in einem jener künstlerisch-literarischen Gedankengänge mit kulturkritischem Hintergrund, für die er in den 1970er und 1980er Jahren bekannt war, zu Protokoll: »Man kann mit der linken Hand schreiben, ohne auch gleichzeitig die Spiegelschrift lesen zu können. Wenn einer links schreibt, aber nicht links liest, kann er noch nicht einmal lesen, was er geschrieben hat. […] Wenn man nicht lesen kann, muss man sich mehr auf das Gedächtnis verlassen. […] Das, was man aufschreibt, wird nach und nach etwas von der Geilheit der Wörter verlieren, gelesen zu werden. (Denn das Geschriebene kann sich keine Hoffnung machen, so bald gelesen zu werden. In Wirklichkeit ist jedes Wort wohl zuerst darauf aus, gelesen zu werden und dann erst dem Zusammenhang zu dienen, in dem es steht.)« Gerz treibt die Linksschreibung noch einen Schritt weiter, indem er sie inhaltlich in das ›Zentaur‹-Thema flicht: »Das Pferd von Troja ist selbst eine Linksschreibung innerhalb der Rechtsschreibung von Troja. Doch im Pferd drinnen ist zur Rechtsschreibung des Pferds die Linksschreibung des Outis und seiner Leute.«

Fotografische Projekte

Gerz bedient sich bei der Fotografie/Text-Kombination keinerlei ästhetischer Gestaltung. Anordnung der Fotos und gleichermaßen korrespondierende wie scheinbar unpassende Texte gestatten dem Betrachter, sich selbst eine Ästhetik der Aussage zu formulieren. ›Le grand amour‹ nennt Gerz seinen zweiteiligen Zyklus, in dem grobkörnige Porträts der sterbenden Mutter den Bildern der ›großen Liebe‹ gegenübergestellt werden.

Mit der Kamera sucht Gerz keine Motive, seine Fotos wirken eher beiläufig und alltäglich. Die 196 Fotos der Serie ›Das Rauchen‹ sagen nichts aus über die Zeitfolge des Belichtens oder über die Empfindung des Fotografen angesichts des Bildes. Gerz präsentiert eine scheinbar sinnlose Reihung von Abbildern. »Schon vom Einsatz der Mittel her«, so Herbert Molderings, »wird deutlich, dass es nicht darum gehen kann, dem bestehenden Reservoir an Reproduktionen der Welt wieder neue, wieder andere ästhetisch ausgewogene und symbolisch verdichtete Fotos hinzuzufügen, sondern dass hier die Tätigkeit des Fotografierens selbst und ihr Platz im alltäglichen kulturellen Verhalten (die ›Verstrickung in seine eigene Beziehung zum Apparat‹) zu denken geben.«

Oft ist dem Betrachter der Text/Foto-Kombinationen unklar, welchen Bezug der Text zum Bild hat. Die Sehgewohnheit verlangt vom Text eine zusätzliche Erläuterung der Abbildung. Doch dies, so Detlef Bluemler, verhindere den eigenen Gedanken dazu, der Bewusstseinsprozess werde aufgehalten. Gerz jedoch wolle diesen mit seiner Kunst fördern.

Rezeption

Auffallend ist, dass Jochen Gerz selbst unter Kennern seiner Arbeit gelegentlich Verwirrung und Irritationen auslöst. So beendet Georg Jappe seine Besprechung von Gerz' ›Das zweite Buch – Die Zeit der Beschreibung‹ mit den Worten: »Dies durchlesend stelle ich fest, dass es mir vermutlich nicht gelungen ist, Jochen Gerz näherzubringen. Was ihm auch nicht entspräche.«

Ähnlich erging es Ulrich Raschke bei der Rezension des ersten Gerzschen (Druck-)Werkes ›Annoncenteil – Arbeiten auf/mit Papier‹, erschienen 1971: »Beim Überlesen des vorangegangenen Absatzes: Das stimmt ja gar nicht, das hat mit Gerz überhaupt nichts zu tun. […] Die Gewöhnung an Dinge, die eigene Erfahrung spielen einem einen Streich, man ist auf Kammerton a eingestimmt, und dabei bleibt es.«

»Künstler«, so Georg Jappe, »halten Jochen Gerz gern für einen Literaten, sie vermissen Materialität und Form; Literaten halten Jochen Gerz gern für einen Künstler, sie vermissen Inhalt, Ordnungskategorien, Stil.«

Barbara Distel[5] kritisierte verschiedene Aktionen Gerz und anderer Künstler als "Skandalisierung von Erinnerungsorten", die eine "unterschwellig wahrnehmbare Aggression gegen KZ-Gedenkstätten und deren gesellschaftspolitische Aufgaben" befördere.

Einzelnachweise

  1. a b Jochen Gerz: Rede an die Jury des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. 14. November 1997
  2. a b James E. Young: Formen des Erinnerns (The texture of Memory). Wien 1997, S. 68
  3. Webseite Platz des europäischen Versprechens
  4. http://www.2-3strassen.eu/index.html
  5. a b Barbara Distel, "Neue Formen der Erinnerung", in Realität, Metapher, Symbol Dachauer Hefte Band 22: Auseinandersetzung mit dem Konzentrationslager Dachauer Hefte Verlag, Dachau 2006, S. 3–10 ISBN 3-9808587-7-4

Auszeichnungen und Preise

Texte über Jochen Gerz

  • Ulrich Raschke: Einweg-Buch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. November 1971.
  • Georges Schlocker: Ein Museum wird ausgestellt. Deutsches Allg. Sonntagsblatt, Hamburg, 25. Mai 1975.
  • Gottfried Knapp: Peinliche, peinigende Doppeldeutigkeit. Süddeutsche Zeitung, München, 12. Oktober 1977.
  • Georg Jappe: Die Unsichtbarkeit des Wirklichen. Die Zeit, Hamburg, 5. August 1977.
  • Jürgen Hohmeyer: AIs wenn es gar nicht geschrieben wäre. Kat. J. G., Kestner-Gesellschaft, Hannover 1978.
  • Herbert Molderings: Foto/Texte von Jochen Gerz. J. G., Kestner-Gesellschaft, a. a. O.
  • Petra Kipphoff: Trau keinem Bild. Die Zeit, Hamburg, 15. September 1978.
  • Amine Haase: Eine Kluft trennt das Leben von der Kunst. Kölner Stadtanzeiger, 9./10. Februar 1980.
  • Rudolf Krämer-Badoni: Der Künstler als Lorelei. Die Welt, Hamburg, 5. Februar 1980.
  • Interview mit Kirsten Martins. "Performance - Eine andere Dimension", Kat. Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1983. ISBN 3-88725-056-7
  • Karlheinz Nowald: Griechische Stücke, Kulchor Pieces. Kat. Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen; Heidelberger Kunstverein 1984.
  • Interview mit Jean Francois Chevrier. Galeries Magazine, Paris Juni/Juli 1989, o. S.
  • Detlef Bluemler: Weitermachen gegen das Aufhören. In: Künstler. Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst, Ausgabe 6, München 1989.
  • Doris von Drateln: Im Zweifel schwebend. Die Zeit (Hamburg), Nr. 45, 4. November 1990.
  • Günter Metken: Die Kunst des Verschwindens. Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (Stuttgart), Nr. 534, Juni 1994.
  • Rosi Huhn, Das Problem der Entsorgung in Kunst und Kulture als Passage zum Positiven Barbarentum / Le Problème du traitement des résidus dans l'art et dans la culture, en tant que passage vers une 'Barbarie Positive, Passages [d']après]/ Passagen Nach Walter Benjamin. Verlag Herman Schmidt, Mainz, 1992.
  • Robert Fleck: In einer Welt voll Bilder ist die Kunst unsichtbar. Art (Hamburg), Nr.1 2, 1995.
  • Harald Fricke: Die Zeit der Schlachtordnung ist vorbei. Die Tageszeitung (Berlin), 17. Juli 1996.
  • Eleonora Louis, Mechtild Widrich: Die Gelassenheit des Verräters. Zu Jochen Gerz‘ Foto/Text Arbeiten. In: Jochen Gerz. Daran Denken, Verlag Richter Düsseldorf, 1997.
  • Theo Rommerskirchen: Jochen Gerz. In: viva signatur si! Remagen-Rolandseck 2005. ISBN 3-926943-85-8
  • Hermann Pfütze: Der Auftrag – oder wie entsteht Kunstbedarf? in: Jochen Gerz: „Platz der Grundrechte Karlsruhe“, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2006, S. 106–121, ISBN 3-938821-30-2
  • Cornelia Tomberger: Das Gegendenkmal: Avantgardekunst, Geschichtspolitik und Geschlecht in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, transcript-Verlag, Bielefeld 2007 ISBN 978--3-89942-774-5
  • A.B. Meadows, "Jochen Gerz: Creative Stimulator of Participatory Art", in: Art in Society, Issue # 10 http://www.art-in-society.de/AS10/Gerz/ABM%282%29OnJGerz.html

Texte von Jochen Gerz

  • Jochen Gerz: Footing. Paris/Gießen 1968.
  • Jochen Gerz: Die Beschreibung des Papiers. Darmstadt/Neuwied 1973.
  • Jochen Gerz: Von der Kunst / De l’art Dudweiler 1985.
  • Jochen Gerz: Texte. Bielefeld 1985.

Ausstellungskataloge/Dokumentationen

  • Jochen Gerz: Foto, Texte, The French Wall & Stücke, Badischer Kunstverein, Karlsruhe 1975.
  • Jochen Gerz: Die Schwierigkeiten des Zentaurs beim vom Pferd steigen, Kunstraum München 1976.
  • Jochen Gerz: Exit / Das Dachau Projekt, Frankfurt 1978.
  • Jochen Gerz: La Chasse / The Strip, Kunstraum München 1986.
  • Jochen Gerz: Œuvres sur papier photographique 1983–86, Musée des Beaux-Arts de Calais 1986.
  • Jochen Gerz: Ausstellungskatalog Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1988.
  • Jochen Gerz: Erase the past, DAAD Berlin 1991.
  • Jochen Gerz: Life after humanism, Stuttgart 1992.
  • Jochen Gerz: 2146 Steine – Mahnmal gegen Rassismus, Ostfildern 1993.
  • Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz: Das Harburger Mahnmal gegen Faschismus, Ostfildern 1994.
  • Jochen Gerz: Die Bremer Befragung: sine somno nihil, 1990-95. Ostfildern 1995.
  • Jochen Gerz: Gegenwart der Kunst, Regensburg 1996.
  • Jochen Gerz: get out of my lies, Wiesbaden 1997.
  • Jochen Gerz: Werkverzeichnis Bd. I-IV, Nürnberg 1999/2011.
  • Jochen Gerz: 2-3 Straßen TEXT / 2-3 Straßen MAKING OF, Köln 2011.

Weblinks


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