Gaios

Gaios

Gaios (griechisch Γάϊος, lateinisch Gaius; * vermutlich um 75; † wohl nach 130) war ein antiker Philosoph. Er war Platoniker und gehörte zu den maßgeblichen Vertretern des Mittelplatonismus.

Inhaltsverzeichnis

Leben

In der Forschung ist vermutet worden, dass Gaios um 75 geboren wurde, doch ist diese Annahme sehr unsicher.[1] Über seine Herkunft, Jugend und Ausbildung sowie über seine Wirkensstätte ist nichts bekannt. Da sein Schüler Albinos um die Mitte des 2. Jahrhunderts bereits ein berühmter Lehrer war und weitere Schüler schon früher Unterricht erteilten, ist davon auszugehen, dass Gaios’ Lehrtätigkeit in die erste Jahrhunderthälfte fällt.

Eine Inschrift aus Delphi, die in den späten zwanziger oder frühen dreißiger Jahren des 2. Jahrhunderts angefertigt wurde, bezeugt, dass einem Philosophen Gaios, Sohn des Xenon, das dortige Bürgerrecht sowie weitere Ehren und Rechte verliehen wurden; auch seine Kinder erhielten das Bürgerrecht. Wahrscheinlich handelt es sich um den bekannten Mittelplatoniker.[2] Eine andere Inschrift, die um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstand, berichtet von der Verleihung des delphischen Bürgerrechts an eine Gruppe von vier Platonikern, darunter Bakchios von Paphos, der als Adoptivsohn des Gaios bezeichnet wird. Die Annahme, dass dieser Gaios mit dem Lehrer des Albinos gleichzusetzen ist, liegt nahe;[3] wenn sie zutrifft, ist davon auszugehen, dass der Adoptivsohn nicht bereits in die Bürgerrrechtsverleihung an Gaios und dessen damals vorhandene (leibliche) Kinder einbezogen war.

Werke und Lehre

Es sind keine Werke des Gaios erhalten geblieben und auch keine Titel überliefert. Sein Schüler Albinos fertigte eine Sammlung von Nachschriften aus seinem Unterricht an, die jedoch verloren ist. Ein aus elf Büchern[4] bestehender Teil dieser Sammlung war als „Grundzüge (hypotypóseis) der platonischen Lehren“ betitelt.[5] Bei Albinos’ erhaltener „Einführung in Platons Dialoge“ kann es sich um eine Nachschrift aus einer Lehrveranstaltung des Gaios handeln.[6] Dass Gaios Platon-Kommentare schrieb, ist möglicherweise einer Bemerkung des Neuplatonikers Porphyrios zu entnehmen, die sich allerdings vielleicht auf Albinos’ Nachschriftensammlung bezieht und in diesem Fall nicht als Beleg für die Existenz solcher Kommentare dienen kann.[7] Generell sind Bezugnahmen auf Gaios in späterer antiker Literatur keine Beweise für direkte Benutzung von dessen eigenen Werken, da sie auch auf Kenntnis der Nachschriftensammlung beruhen können; es ist möglich, dass Gaios überhaupt keine Schriften hinterlassen hat.[8]

Viel Anklang fand in der älteren Forschung die 1905 von Tadeusz Sinko vorgetragene Hypothese, dass die Lehren einer „Schule des Gaios“ aus erhaltenen Werken von Platonikern dieser Richtung rekonstruierbar seien. Damals zählte man nicht nur – historisch korrekt – Albinos zu den Schülern des Gaios, sondern man identifizierte auch irrtümlich den Verfasser der mittelplatonischen Lehrschrift Didaskalikos mit Albinos und betrachtete dieses Werk daher zu Unrecht als Quelle für die Lehren der Schule des Gaios. Auch in einem anonym überlieferten Kommentar zu Platons Dialog Theaitetos und in der Schrift De Platone et eius dogmate des Apuleius glaubte man den Einfluss dieser Schule erkennen zu können. Nach der heute herrschenden Auffassung ist jedoch kein direkter Zusammenhang zwischen dem Didaskalikos, dessen wirklicher Autor der Mittelplatoniker Alkinoos war, und dem Unterricht des Gaios ersichtlich, und auch für die Einordnung der Werke des Theaitetos-Kommentators und des Apuleius in die Lehrtradition des Gaios fehlen überzeugende Belege.[9]

Aus einer nur fragmentarisch überlieferten Darlegung des Albinos geht hervor, dass Gaios Platons Aussagen teils als Tatsachenbehauptungen einstufte, teils nur als Annäherungen an die Wahrheit. Gaios meinte, das Ausmaß der Genauigkeit und Klarheit der Äußerungen Platons sei von der Art des jeweiligen Themas abhängig.[10]

Rezeption

Gaios’ Adoptivsohn Bakchios von Paphos ist wahrscheinlich mit dem gleichnamigen Philosophen, welcher der erste Philosophielehrer des künftigen Kaisers Mark Aurel war, gleichzusetzen.[11]

Der berühmte Arzt Galenos erhielt seine Ausbildung in platonischer Philosophie bei zwei Schülern des Gaios: zunächst in den vierziger Jahren des 2. Jahrhunderts bei einem nicht namentlich bekannten Philosophen in seiner Heimatstadt Pergamon und später bei Albinos in Smyrna.

In der Schule Plotins, des Begründers des Neuplatonismus, in Rom war Gaios einer der Mittelplatoniker, deren Lehren zum Unterrichtsstoff gehörten.[12]

Noch in der Spätantike hatte Gaios’ Name einen guten Klang; der berühmte Neuplatoniker Proklos zählte ihn zu den bedeutendsten Platonikern.[13] Eine anonym überlieferte spätantike Liste (Canones) empfohlener Autoren nennt ihn an erster Stelle in der Aufzählung der „besonders nützlichen“ Erklärer von Platons Philosophie.[14] Noch im 6. Jahrhundert waren die Aufzeichnungen des Albinos aus dem Unterricht des Gaios zugänglich: Der Neuplatoniker Priskianos Lydos erwähnte, dass er sie heranzog.[15]

Quellensammlungen

  • Heinrich Dörrie/Matthias Baltes (Hrsg.): Der Platonismus in der Antike, Band 3: Der Platonismus im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, ISBN 3-7728-1155-8, S. 14−21, 28f. (Quellentexte mit Übersetzung) und S. 145, 151−153, 161f., 182−184, 205, 213 (Kommentar)
  • Adriano Gioè: Filosofi medioplatonici del II secolo d. C. Testimonianze e frammenti. Bibliopolis, Napoli 2002, ISBN 88-7088-430-9, S. 45−76 (Quellentexte mit italienischer Übersetzung und Kommentar)

Literatur

  • Tryggve Göransson: Albinus, Alcinous, Arius Didymus. Acta Universitatis Gothoburgensis, Göteborg 1995, ISBN 91-7346-282-9, S. 28−76
  • John Whittaker: Gaius. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 3, CNRS Éditions, Paris 2000, ISBN 2-271-05748-5, S. 437–440

Anmerkungen

  1. Willy Theiler: Forschungen zum Neuplatonismus, Berlin 1966, S. 83; Whittaker (2000) S. 437.
  2. Griechischer Text und deutsche Übersetzung bei Heinrich Dörrie/Matthias Baltes: Der Platonismus in der Antike, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 14−17 (und Kommentar S. 144f.). Siehe dazu Whittaker (2000) S. 438. Zur Datierung siehe Bernadette Puech: Prosopographie et chronologie delphique sous le Haut-Empire. In: Topoi. Orient – Occident 8, 1998, S. 261−266, hier: 261f.
  3. Whittaker (2000) S. 438f.; Bernadette Puech: Bacchios de Paphos. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 2, Paris 1994, S. 47f., hier: 48.
  4. Siehe dazu John Whittaker: Studies in Platonism and Patristic Thought, London 1984, Nr. XX S. 329f.
  5. Heinrich Dörrie/Matthias Baltes: Der Platonismus in der Antike, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 28f., 182−184.
  6. Göransson (1995) S. 51f.; Burkhard Reis: Der Platoniker Albinos und sein sogenannter Prologos, Wiesbaden 1999, S. 147−149; Heinrich Dörrie/Matthias Baltes: Der Platonismus in der Antike, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 183.
  7. Gioè (2002) S. 61f.
  8. Karl Praechter: Zum Platoniker Gaios. In: Clemens Zintzen (Hrsg.): Der Mittelplatonismus, Darmstadt 1981, S. 67−88, hier: 68−72 und John Whittaker: Studies in Platonism and Patristic Thought, London 1984, Nr. XX S. 327f. (zur Gaios-Rezeption bei Proklos); Göransson (1995) S. 43, 60−68, 71−75; John Dillon: The Middle Platonists, London 1977, S. 267.
  9. Whittaker (2000) S. 438; John Dillon: The Middle Platonists, London 1977, S. 266−340; Göransson (1995) S. 14−23.
  10. Siehe dazu Heinrich Dörrie/Matthias Baltes: Der Platonismus in der Antike, Bd. 4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 98f., 357f.
  11. Karl Praechter: Kleine Schriften, Hildesheim 1973, S. 103f.; Bernadette Puech: Bacchios de Paphos. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 2, Paris 1994, S. 47f., hier: 48; zurückhaltender Göransson (1995) S. 38.
  12. Porphyrios, Vita Plotini 14, 10−14.
  13. Proklos, In Platonis rem publicam II, S. 96 Z. 11f. Kroll; griechischer Text und deutsche Übersetzung bei Heinrich Dörrie/Matthias Baltes: Der Platonismus in der Antike, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 18−20 (und Kommentar S. 152f.).
  14. Griechischer Text und deutsche Übersetzung bei Heinrich Dörrie/Matthias Baltes: Der Platonismus in der Antike, Bd. 3, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 20−21 (und Kommentar S. 153−155); vgl. Göransson (1995) S. 60−68.
  15. Siehe dazu John Whittaker: Studies in Platonism and Patristic Thought, London 1984, Nr. XX S. 326f. und 328 Anm. 50; zu Zweifeln an der Glaubwürdigkeit von Priskianos’ Behauptung siehe Göransson (1995) S. 48f.

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