Nahe Null

Nahe Null

Nahe Null (russisch Околоноля) ist der Titel eines im Juni 2009 unter dem Pseudonym Natan Dubowizki in Russland erschienenen Romans, als dessen Autor Wladislaw Jurjewitsch Surkow gilt, Kreml-Ideologe und stellvertretender Leiter der russischen Präsidialverwaltung. Zu Surkow führte das Pseudonym Dubowizki, das auf den Namen seiner zweiten Frau Natalja Dubowizkaja anspielt, zudem bestätigte der russische Schriftsteller Wiktor Jerofejew, Surkow sei der Autor. Die literarischen Qualitäten von "Nahe Null" werden von den Kritikern als beachtlich eingeschätzt. Das Buch malt ein düsteres Bild des postkommunistischen Russland und beschreibt dessen Missstände schonungslos.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung und Veröffentlichung

2009 forderte Wladislaw Jurjewitsch Surkow in einem Interview mit der Zeitschrift Itogi die Schaffung eines "besonderen kulturellen und psychologischen Klimas", das einen neuen "zivilisatorischen Trend" ermöglichen solle. Russland sei ökonomisch und mentalitätsmässig ein "Rohstoff-Land". Nur mit einer “Futurisierung” werde Russland konkurrenzfähig und könne sich international behaupten, erklärte der Kreml-Ideologe und stellvertretende Leiter der russischen Präsidialverwaltung.

Ende Juni 2009 erschien in Russland unter dem Pseudonym Natan Dubowizki (russisch Натан Дубовицкий) ein aufsehenerregender Roman mit dem Titel "Nahe Null" (russisch Околоноля. Die literarischen Qualitäten werden von den Kritikern als beachtlich eingeschätzt, sowohl die Komposition als auch der Stil des Textes verraten einen geübten Verfasser. Filmregisseur Nikita Michalkow verglich den Roman sogar mit Michail Bulgakows Klassiker "Der Meister und Margarita". Den im Untertitel erhobenen Genre-Anspruch "gangsta fiction" löst der unbekannte Autor auf den 112 Seiten durch den extensiven Gebrauch von Gossen- und Gangster-Slang ein.

Die russische Presse rätselte monatelang über die Autorschaft des erfolgreichen Romans aus dem Verlag Russki Pioner. Alle Spuren führten dabei zu Wladislaw Jurjewitsch Surkow, Kreml-Ideologe und stellvertretender Leiter der russischen Präsidialverwaltung. Als wichtigstes Indiz für Surkow wurde gewertet, dass das verwendete Pseudonym auf den Namen seiner zweiten Frau Natalja Dubrowitzkaja anspielt.

Die renommierte russische Tageszeitung Wedomosti enthüllte, dass Surkow kurz nach Erscheinen des Buches einen Beitrag über Kunstgeschichte im Magazin von Russki Pioner und im Juni im gleichen Magazin von einem noch unvollendeten Roman geschrieben habe.

Am 14. September 2009 publizierte auch die britische Qualitätszeitung The Independent eine Enthüllungsgeschichte, in welcher ein Mitarbeiter von "Russki Pioner" die Urheberschaft von Surkow bestätigte. [1]

Ende September 2009 veröffentlichte Surkow selbst eine kritische Rezension des Romans, in der er "Nahe Null" als Befreiungsschlag einer unlesbar gewordenen literarischen Postmoderne deutete. Der Held sei "ein sehr schlechter Mensch, der sehr gerne besser werden würde, aber nicht kann und deshalb leidet". Der Autor habe nichts zu sagen, deshalb kaspere er nur herum. Der Roman "Nahe Null" werde in naher Zukunft als das erkannt werden, was er in der Tat sei – nichts. Vor dem Hintergrund von Surkows Ziel einer Neugestaltung der russischen Mentalität erhält seine negative Selbstrezension einen polittechnologischen Sinn: Wenn die russische Gesellschaft die in "Nahe Null" beschriebenen Missstände überwinden kann, ist der Roman überflüssig.

Am 11. November verriet der russische Schriftsteller Wiktor Wladimirowitsch Jerofejew in einem Interview der Literaturnaja gaseta, Surkow habe diesen "bemerkenswerten Roman" geschrieben. Er besitze ein von Wladislaw Surkow persönlich signiertes Exemplar von "Nahe Null". [2] Am 29. Dezember publizierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen weiteren Beitrag von Wiktor Jerofejew mit dem gleichen Resumee: "Der dritte Mann im Staat, der sechsundvierzigjährige Wladislaw Surkow, der für die gesamte Innenpolitik unseres Landes verantwortlich zeichnet, hat einen Roman über das Leben im heutigen Russland geschrieben." [3] Surkow selbst hat seine Autorschaft bis heute nicht bestätigt.

Inhalt

Hauptperson des Romans ist Jegor Samochodow, der im Russland der frühen 1990er Jahre sein Geld mit Copyright-Piraterie, Verwertung von nichtdeklarierten Auflagen und als Ghostwriter für Politiker verdient. Er lebt geschieden von seiner Frau und ist auch außerstande, seine eigene Tochter zu lieben. Samochodow wird in den mafiosen Bruderbund des "Schwarzen Buches" aufgenommen, muss aber als Aufnahmebedingung einen Mord begehen, den er ohne mit der Wimper zu zucken ausführt.

Der Roman entwirft ein düsteres Bild des postkommunistischen Russland und zählt die Missstände schonungslos auf: "Bestechung, Schmiergeldzahlungen, Auftragsmorde, Schutzorganisationen, staatliche Investitionen in Ehefrauen, Schwager und Nichten; die Vermietung von Machtorganen an respektable Schlitzohren und Emporkömmlinge mit Beziehungen; der Handel mit Ämtern, Orden, Auszeichnungen, Titeln; Kontrolle über die Nachfolge; käufliche Rechtsprechung, einträglicher Patriotismus." [4]

Seine Sexpartnerin Plaksu (russisch Плаксу) unterscheidet Samochodow "von einer Gummipuppe nur dadurch, dass sie nicht aus Gummi ist". Sie steht im "Süden" Russlands (der als Kaukasus-Region identifizierbar ist) als Schauspielerin vor der Kamera und wird auf der Leinwand so realistisch vergewaltigt und ermordet, dass Samochodow ein Verbrechen vermutet. Im "Süden" sucht und findet er den brutalen Regisseur, der als Inbegriff der totalen Demoralisierung der russischen Gesellschaft charakterisiert wird.

Der Roman endet in einer unerwarteten Volte: Möglicherweise ist das Geschehen nur eine Horrorvision des Protagonisten, der seine Verbrechen nur im Schlaf begangen hat. Immer wieder taucht dabei als ästhetisches Vorbild Vladimir Nabokovs später Roman "Durchsichtige Dinge" (1972) auf, in dem die Grenzen zwischen Fiktion und Realität bewusst verwischt werden.

Übersetzungen und Verfilmungen

"Nahe Null" ist in deutscher Übersetzung im Berlin Verlag erschienen. Der Regisseur Kirill Serebrennikow möchte 2010 eine theatralische Inszenierung des Romans auf die Bühne bringen. [5]

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. The Independent, "Did Kremlin political chief really write murky gangster novel?", 14. September 2009
  2. Literaturnaja gaseta, "Виктор Ерофеев: Я не русофоб!", 11. November 2009
  3. Frankfurter Allgemeine Zeitung, "Ein Kreml-Roman: Die Macht der Verachtung", 29. Dezember 2009
  4. Russki Pioner, Nr. 11, Oktober 2009 (Übersetzung aus dem Russischen)
  5. RIA Novosti, "Серебренников поставит "Околоноля", когда закончит с "Мертвыми душами"", 5. Oktober 2009

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