Notfall- und Katastrophenpharmazie

Notfall- und Katastrophenpharmazie

Die Notfall- und Katastrophenpharmazie ist ein Teilgebiet der Pharmazie, welches sich mit der Sicherstellung der Arzneimittelversorgung in außergewöhnlichen Lagen (Großschadensereignissen oder Katastrophen) beschäftigt. Die Aufgaben sind vielfältig und immer abhängig von den gesetzlichen Vorgaben der jeweiligen Länder.

Inhaltsverzeichnis

Definition

„Die Notfall- und KatastrophenPharmazie (KatPharm) dient der Sicherstellung einer bestmöglichen pharmazeutischen Versorgung der Bevölkerung bei Großschadensereignissen und Katastrophen sowie in sonstigen Ausnahmesituationen. Dazu entwickelt sie Konzeptionen für das pharmazeutische Notfallmanagement der öffentlichen Apotheken und der Krankenhausapotheken[1]. Mit aller Fachkompetenz der Apotheker wirkt die Notfall- und Katastrophenpharmazie grundlegend an der notfall- und katastrophenmedizinischen Versorgung beim Massenanfall von Verletzten / Patienten mit, insbesondere mit Konzeptionen und Qualitätsstandards für die Sanitätsmaterialversorgung

  • der Rettungsdienste und Hilfsorganisationen,
  • des Bevölkerungsschutzes,
  • bei Massenveranstaltungen,
  • bei Einsätzen in der internationalen Hilfe,
  • für Projekte in der Entwicklungszusammenarbeit.
Zur Erfüllung dieser Aufgaben bedarf es einer zusätzlichen Qualifikation der Apotheker für das pharmazeutische Notfallmanagement.“

Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V.[2]

Ziele

Die Notfall- und KatastrophenPharmazie verfolgt das Ziel, den Apotheker als wichtiges Bindeglied in den Gesundheitlichen Bevölkerungsschutz zu integrieren, um die pharmazeutische Versorgung auch in außergewöhnlichen Situationen möglichst optimal aufrechtzuerhalten.[3][4]

Die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten sowie des Katastrophenschutzes muss auch bei Krisen, Katastrophen und Seuchen – der jeweiligen Situation entsprechend – so gut wie möglich sichergestellt werden. Bei massiven Schadensereignissen kann dann auch die pharmazeutische Versorgung erheblich beeinträchtigt sein. Insbesondere die Kritischen Infrastrukturen sind hierbei zu berücksichtigen. Die Öffentlichen Apotheken und die Krankenhausapotheken werden in unterschiedlicher Weise von einem Massenanfall von Patienten tangiert sein.[5]

Grundlage und Entwicklung in Deutschland

Den Auftrag für die Entwicklung der Notfall- und Katastrophenpharmazie in Deutschland gibt der §1 im Gesetz über das Apothekenwesen: "Dem Apotheker obliegt die ordnungsgemäße Sicherstellung der Bevölkerung mit Arzneimitteln."[6]

In Deutschland war die Notfallversorgung mit Arzneimitteln zum Ende des Zweiten Weltkrieges geprägt durch das Kriegsgeschehen. Provisorische Notapotheken wurden durch ständige Luftbombardements immer wieder zerstört, so dass zum Ende des Krieges die Apotheken in die Kellerräume und Bunker verlagert wurden. 1944 wurden die Apotheker verpflichtet, auch bei Luftalarm ihren Beruf weiter auszuüben. Die Notapotheken und Bunkerapotheken stellten maßgeblich die Versorgung mit Arzneimitteln zum Ende des Krieges und in der Nachkriegszeit sicher. Erst zu Beginn der 1950er Jahre normalisierte sich die Arzneimittelversorgung wieder.[7]

In der Bundesrepublik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge des Neuaufbaus des zivilen Luftschutzes im Jahr 1955 ein Programm der Bundesregierung beschlossen, welches unter anderem die Schaffung von Arzneimittelvorräten zur Aufgabe hatte. Am 9. Oktober 1957 wurde das „Erste Gesetz über Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung“(ZBG) verabschiedet, in dem sich Ermächtigungen für die Arzneimittelbevorratung befanden. Im Mai 1960 wurde die Allgemeine Verwaltungsvorschrift über Umfang und Durchführung der Arzneimittelbevorratung veröffentlicht.[8][9] Die Wehrpharmazie wurde im Rahmen des Zivilschutzes immer stärker auch in die Versorgung der Bevölkerung in Krisenzeiten eingebunden. In der DDR war die Versorgung der Bevölkerung klares Ziel der Wehrpharmazie, während in der Bundesrepublik die zivile Pharmazie die Wehrpharmazie beeinflusste.[10]

Im Laufe des Kalten Krieges wurde in beiden deutschen Staaten ein kontinuierlicher Ausbau der Arzneimittelvorräte vorangetrieben. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde kein Anlass mehr gesehen, weiterhin Arzneimittel zentral für die Bevölkerung vorzuhalten. Im Jahr 1996 wurde mit fachlicher notfall- und katastrophenmedizinischer Beratung durch die Deutsche Gesellschaft für KatastrophenMedizin e.V (DGKM e.V.) von Apothekern für Klinische Pharmazie ein Handbuch zum „Management der Krankenhausapotheke bei Großschadensereignissen und Katastrophen“ erstellt, um auf die neuen Rahmenbedingungen vorbereitet zu sein.[11].[12]

Im März 1997 erfolgte mit der Auflösung der Sanitätsmaterialbevorratung des Zivilschutzes ein großer Einschnitt für die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung im Notfall. Das in rund 100 Zivilschutz-Sanitätslagern und Hilfskrankenhäusern noch bevorratete Material (Arzneimittel, Verbandstoffe, Einrichtungs- und Ausstattungsgegenstände und medizinisches Gerät) wurde zwischen 1991 und 2001 als humanitäre Spende der Bundesrepublik Deutschland an über 140 Länder abgegeben.[9] Bereits bei den Vorbereitungen des Zivilschutz-Neuordnungsgesetzes von 1997 und der Abschaffung der Sanitätsmaterialbevorratung des Bundes für den Bevölkerungsschutz haben die Apotheker nicht nur auf das bundesweite Defizit in der medizinischen-pharmazeutischen Notfallbevorratung hingewiesen; sie arbeiteten seitdem auch aktiv an Konzeptionen zur „Kooperativen Notfallbevorratung von Sanitätsmaterial im Bevölkerungsschutz“ für den Rettungsdienst, den Katastrophenschutz und für die Krankenhäuser unter Berücksichtigung der verfügbaren Ressourcen von Arzneimitteln und Medizinprodukten.[13]

Im Juni 2003 wurde mit der Verordnung über die Zulassung von Ausnahmen von Vorschriften des Arzneimittelgesetzes für die Bereiche des Zivil- und Katastrophenschutzes, der Bundeswehr, des Bundesgrenzschutzes sowie der Bereitschaftspolizeien der Länder eine erneute Möglichkeit für die Versorgung der Bevölkerung im Not- und Katastrophenfall mit Arzneimitteln geschaffen.[14] Eine Bundestagsanfrage im Jahr 2002 stellte fest, dass die Bevorratung von Antibiotika für die Bevölkerung nicht ausreichend gewährleistet sei.[15]

Im Jahr 2004 wurde erneut über eine zentrale Lagerung von Arzneimittel nachgedacht. Diese sollten an Krankenhausapotheken angeschlossen werden, um eine kontinuierliche Umwälzung der Bestände zu gewährleisten und somit die Kosten in einem vertretbaren Rahmen zu halten.[16]

Im Jahr 2006 wurde als gemeinsame Aufgabe des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und der DGKM e.V. das Projekt Notfall- und KatastrophenPharmazie gestartet, mit dem Ziel, einen Leitfaden für die Notfall- und Katastrophenpharmazie, ein Curriculum zur Aus- und Fortbildung und ein Pilotseminar zur Fortbildung von Apothekerinnen und Apothekern zu entwickeln. Das Projekt wurde von der Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern getragen und begleitet durch einen wissenschaftlichen Beirat.[17] In Zusammenarbeit mit ca. 50 Experten als Autoren, Lektoren und Beratern entstand aus dem angedachten Leitfaden dann ein zweibändiges Fachbuch Notfall- und KatastrophenPharmazie, da der zu vermittelnde Stoff weit über einen Leitfaden hinausging. Das Projekt wurde von den zentralen Standesorganisationen der Apotheker (Bundesapothekerkammer / ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände) begleitet.

Das Ursprungsprojekt wurde im Dezember 2010 beendet; dabei wurde erheblicher Handlungs- und Forschungsbedarf für die weitere Entwicklung und Implementierung festgestellt und mit Empfehlungen für entsprechende Folgeprojekten verbunden.

Im Jahr 2007 wurde eine länderübergreifende Krisenmanagementübung (Exercise) „LÜKEX“ zum Thema Influenza-Pandemie durchgeführt. Involviert war auch ein Projektteam „LÜKEX 2007 Pharmazeutisches Notfallmanagement“, welches im Vorfeld und Übungsszenarien entwickelte und diese während der Übung in das Übungsgeschehen einspielte und beobachtete. Für die Fortentwicklung des Projektes „Notfall- und KatastrophenPharmazie“ wurden wertvolle Hinweise durch die Auswertung der Gesamtübung gewonnen. Bei LÜKEX 2009/10 wurden Übungseinlagen zur Versorgung mit Sanitätsmaterial beim Massenanfall von Verletzten sowie für die Antidota-Behandlung von radioaktiv kontaminierten Patienten konzipiert und eingespielt.[18]

Im Jahr 2008 wurde von der Schutzkommision beim Bundesministerium des Innern eine Stellungnahme zum gesundheitlichen Bevölkerungsschutz in Deutschland abgegeben. Die Stellungnahme soll der Entwicklung und Optimierung von länder- und ressortübergreifenden Rahmenkonzepten zur Gefahrenabwehr sowie zum medizinischen und seuchen-hygienischen Management im Bereich des Bevölkerungsschutzes dienen.[19] Unter dem Punkt Realisierungsvoraussetzungen wurden vielfältige Schnittstellenprobleme angeführt, die eine umfassende Beteiligung von Apothekern in der Notfallvorsorge erfordern.

Internationale Entwicklung

Im internationalen Rahmen wurde durch die International Pharmaceutical Federation (FIP) in Brasilien im August 2006 eine Erklärung zu Berufsstandards verabschiedet, die die Rolle der Apotheker beim Krisenmanagement, einschließlich bei von Menschen ausgelösten oder Naturkatastrophen und Pandemien festlegt. Anhand dieser internationalen Standards erfolgte auch in Deutschland der Aufbau und die Implementierung des Pharmazeutischen Notfallmanagements.[20]

Die Europäische Kommission hat mit dem Health Security Committee [21] eine Einrichtung geschaffen, die europaweit einheitliche Standards für die Sicherheit der Gesundheitsversorgung bei außergewöhnlichen Lagen entwickelt. Derzeit ist jedoch noch keine einheitliche Linie bei der Arzneimittelbevorratung in Europa zu erkennen.[22]

In der Schweiz sichert das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) Organisationsbereich Heilmittel die Sicherstellung einer ausreichenden Arzneimittelversorgung in Krisensituationen. Aktuell liegt der Schwerpunkt auf der Gefahrenanalyse und Vorbereitung auf die Szenarien Pandemie, Bioterrosismus und Lieferausfälle.[23][24]

In Österreich wurden im Bundesgesetz vom 2. März 1983 über die Herstellung und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz - AMG) verschiedene Regelungen zum Umgang mit Arzneimitteln im Katastrophenfall aufgenommen.[25]

Ausbildung

Die Notfall- und Katastrophenpharmazie wurde bisher nicht in den Ausbildungsrichtlinien für Apotheker verankert.[26]

Seit 2009 werden an der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) mehrtägige Seminare zur Multiplikatorenschulung angeboten. Ziel der Seminare ist es, Apotheker zu Multiplikatoren für den Bereich Notfall- und Katastrophenpharmazie auszubilden, um im Rahmen von bestehenden Fortbildungsangeboten (Qualitätszirkel, Apothekerversammlungen, Fortbildungsveranstaltungen etc.) die Apotheker für diesen kritischen Bereich zu sensibilisieren und für das pharmazeutische Notfallmanagement auszubilden.

Weblinks

Literatur

  • Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und Deutsche Gesellschaft für KatastrophenMedizin e.V. (Hrsg.): Notfall- und KatastrophenPharmazie., 1. Auflage, Bonn 2009, ISBN 3-939347-18-3 Band 1 Bevölkerungsschutz und Medizinische Notfallversorgung, ISBN 3-939347-19-1 Band 2 Pharmazeutisches Notfallmanagement.

Einzelnachweise

  1. Zukunftspapier des Bundesverbandes Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) e.V., 2006, Arzneimitteltherapie der Patienten im Krankenhaus. Abgerufen am 16. Dezember 2010
  2. Definition Notfall- und Katastrophenpharmazie Stand 2008, Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V. Abgerufen am 16. Dezember 2010
  3. Sven Seißelberg: Notfall- und Katastrophenpharmazie Posterpräsentation In: Apotheken, Gesundheitsförderung und Gesundheitswissenschaften/Public Health. Ergebnisse und Dokumentation der Veranstaltung vom Mai 2009 sowie Ergebnisse einer Befragung von Gesundheitswissenschaftlern. LIGA.Fokus 7 Seite 195ff. Abgerufen 16. Dezember 2010
  4. Internetseite Gesundheitlicher Bevölkerungsschutz beim BBK. Abgerufen am 16. Dezember 2010
  5. Sven Seißelberg: Pharmazeutisches NotfallmanagementVortrag 5. Europäischer Bevölkerungs- und Katastrophenschutzkongress, Bonn 2009. Abgerufen 16. Dezember 2010
  6. Gesetz über das Apothekenwesen (Apothekengesetz - ApoG)
  7. Dr. Caroline Schlick: Arzneimittelversorgung in Notzeiten In: Pharmazeutische Zeitung (Archiv). Abgerufen 16. Dezember 2010
  8. Allgemeine Verwaltungsvorschrift über Umfang und Durchführung der Arzneimittelbevorratung
  9. a b Festschrift 50 Jahre BBK. Abgerufen am 16. Dezember 2010
  10. Carsten Gerd Dirks, Fritz Krafft: Wehrpharmazie im Nachkriegs-Deutschland In: Pharmazeutische Zeitung (Archiv). Abgerufen am 16. Dezember 2010
  11. Wolfgang Wagner: Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle Arzneimittelversorgung im Katastrophenfall In:Zivilschutzforschung Band 42; Jahrestagung der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern 2007 Seite 129ff. Abgerufen 16. Dezember 2010
  12. Prof. Bernd Domres: Empfehlungen zur Bevorratung von Medikamenten für den Katastrophenschutz mit Zivilschutz In: Zivilschutzforschung Band 42; Jahrestagung der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern 2007 Seite 129ff. Abgerufen 16. Dezember 2010
  13. Wolfgang Wagner: Notfallbevorratung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten; Was ist erforderlich? In: Verbandszeitschrift des BApÖD 1/2010. Abgerufen 16. Dezember 2010
  14. Verordnung von Ausnahmen von Vorschriften des Arzneimittelgesetztes
  15. Bundestagsbericht zur Antibiotikabevorratung, 2002. Abgerufen 16. Dezember 2010
  16. Sanitätsmittelverfügbarkeit Internetseite des BBK. Abgerufen am 16. Dezember 2010
  17. Projekt Notfall- und KatastrophenpharmazieInternetseite der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V.; Abgerufen am 16. Dezember 2010
  18. Wolfgang Wagner: 2007 Lükex 2007, Zusammenfassung KatPharm. Abgerufen 16. Dezember 2010
  19. Schutzkommision beim Bundesministerium des Innern:Gesundheitlicher Bevölkerungsschutz in Deutschland. Abgerufen 16. Dezember 2010
  20. International Pharmaceutical Federation Fédération internationale pharmaceutique: FIP-Erklärung zu Berufsstandards: Die Rolle des Apothekers beim Krisenmanagement, einschließlich bei von Menschen ausgelösten oder Naturkatastrophen und Pandemien. Abgerufen 16. Dezember 2010
  21. Public Health Internetseite der EU-Kommission. Abgerufen am 16. Dezember 2010
  22. Monika Lerch: Plötzlich war alles anders In: Christophorus Magazin Juni 2007. Abgerufen 16. Dezember 2010
  23. Internetseite des Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung Bereich Heilmittel (Schweiz). Abgerufen 16. Dezember 2010
  24. Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung: 2006Versorgung der Bevölkerung mit antiviralen Medikamenten In: Infomagazin Sommer 2006. Abgerufen 16. Dezember 2010
  25. Bundesgesetz vom 2. März 1983 über die Herstellung und das Inverkehrbringen von Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz - AMG). Abgerufen 16. Dezember 2010
  26. Approbationsordnung für Apotheker (AAppO)

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