Situationskreis

Situationskreis

Der Situationskreis ist eine konsequent fortentwickelte kybernetische Modellvorstellung, die sich aus den einfacheren Modellen des Funktionskreises und der psychophysischen Korrelation herleitet bzw. sich hieraus mit einer gewissen inneren Logik und Analogie ergibt. Sie wurde zuerst 1986 von Thure von Uexküll beschrieben und stellt die 3. Stufe der emergenten Systeme des spezifisch menschlichen Organismus dar.[1] Thure von Uexküll nannte sie die Stufe des Humanen. Neu an diesem Modell, das sich vor allem erfolgreich auf die Arzt-Patient-Beziehung in psychotherapeutischen Situationen praktisch anwenden lässt, sind die Begriffe der Bedeutungsunterstellung, der Bedeutungserprobung (Probehandeln[2]) und zuletzt der Bedeutungserteilung.

Inhaltsverzeichnis

Die emergenten Systeme

Original-Abbildung aus „Theoretische Biologie“ von Jakob Johann von Uexküll, 11920. Der Situationskreis ist prinzipiell als „Neuer Kreis“ im größeren Kreis der Wirkungs- und Merkwelt darstellbar. Dieser regelt nach moderneren neuronal-kybernetischen Vorstellungen der Lerntheorie die Synapsengewichtung des „Handlungsorgans“ (des Ichs)

Der Situationskreis als Modell baut auf dem des Funktionskreises auf, ähnlich wie das Modell des Funktionskreises auf dem des Reflexbogens. Bei allen diesen „Kreismodellen“ handelt es sich um neuronale Erregungskreise. Während der Reflexbogen meist einen neuronalen Erregungskreis innerhalb des Organismus darstellt (histotrope Abläufe), auf der Ebene des Rückenmarks – also durch Verknüpfung von Nervenimpulsen zwischen einzelnen Nervenzellen – , handelt es sich bei dem Funktionskreis um einen Erregungskreis, der die „Wohnhülle“ (Umgebung) etwa bei Pflanzen mit einschließt. Beide Erregungskreise können als vegetativer Regelkreis aufgefasst werden, siehe auch → Vegetatives Nervensystem. Bei der psychophysischen Korrelation erfolgt eine zentrale Abstimmung zwischen verschiedenen körperlichen Rückkopplungen in bestimmten Hirnzentren, die man als bewusstseinsfähig und daher als „animalisch“ (d.h. als „beseelt“ bezeichnen kann, siehe auch → Animalisches Nervensystem. Beim Situationskreis geht es um Fragen der Bedeutungsfindung, also um ganz bestimmte logische Operationen, die an bestimmte Begriffe gebunden sind.[3]

Der Sinn dieser einander ähnlichen Theorien liegt darin begründet, dass komplexe menschliche Handlungen nicht reduktionistisch auf einfache, aus der Technik und aus der Physik stammenden Modelle zurückgeführt werden müssen, sondern mit ihnen nur indirekt in Zusammenhang stehend dargestellt werden. Es entsteht sozusagen ein sich spiralförmig erweiternder Zusammenhang zwischen konkreten Details auf der biologischen Ebene mit denen auf der psychischen und sozialen Ebene (bio-psycho-soziales Modell). Der Situationskreis ist daher wichtig bei allen Aktivitäten, die mit Sprache verknüpft sind. In therapeutischer Hinsicht wird so die Rolle verbaler Therapieformen bekräftigt und verdeutlicht. Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell wurde von der WHO übernommen.[4] Der Situationskreis ist u.a. wichtig bei Fragen der Psychoimmunologie.

Die 3 emergenten Stufen sind:

Zitat

»Der Situationskreis unterscheidet sich von dem Funktionskreis durch eine obligatorische Zwischenschaltung der Vorstellung, in der Programme für Bedeutungserteilung („Merken“) und Bedeutungsverwertung („Wirken“) zunächst probeweise als Bedeutungsunterstellung und Bedeutungserprobung durchgespielt werden können, ehe das Ich sie für die Sensomotorik freigibt.«[4]

Probehandeln

Der Begriff des Probehandelns geht auf eine 1911 erschienene Arbeit Freuds zurück.[5] Darin schreibt er:

»Die (unter dem Druck der Realität) notwendig gewordene Aufhaltung der motorischen Abfuhr (des Handelns) wurde durch den Denkprozeß besorgt, welcher sich aus dem Vorstellen herausbildete. Das Denken wurde mit Eigenschaften ausgestattet, welche dem seelischen Apparat das Ertragen der erhöhten Reizspannung während des Aufschubs der Abfuhr ermöglichten. Es ist im wesentlichen ein Probehandeln mit Verschiebung kleiner Besetzungsquantitäten unter geringer Verausgabung (Abfuhr) derselben.«

Stehen in einer bestimmten Situation weder instinktmäßige noch erlernte Verhaltensweisen für eine ganz bestimmte Handlung zur Verfügung, so entscheidet sich der Mensch für eine ihm nicht geläufige Handlung auf dem Umweg des Nachdenkens.[6]

Weblinks

Situationskreis und Psychoimmunologie

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Uexküll, Thure von (Hrsg. u.a.): Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, München 31986, ISBN 3-541-08843-5, Seite 18 ff.
  2. Uexküll, Thure von: Grundfragen der psychosomatischen Medizin. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 1963, zu Stw. „Probehandlung“: Kap. II.,11., „Die verschiedenen Motivbereiche und ihre Interferenz“, Seite 113 ff. und Kap.V., 8., „Der Affektgehalt der Stimmungen und Motive“, Seiten 185, 194
  3. Hess, Walter Rudolf: Funktionsgesetze des vegetativen Nervensystems. In: Klinische Wochenschrift, 5. Jahrgang Ausgabe vom 23. Juli 1926, Seite 1 ff.
  4. a b Uexküll, Thure von & W. Wesiak: Wissenschaftstheorie. Ein bio-psycho-soziales Modell. In: Adler Rolf H., Herrmann J. M., Köhle K., Schonecke O. W., Uexküll Th. v., Wesiak W. (Hrsg.): Psychosomatische Medizin. Urban&Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 51996, Seite 41
  5. Freud, Sigmund: Formulierungen über zwei Principien des psychischen Geschehens. (1911 b) Gesammelte Werke Bd. 8, Seite 239
  6. Hofstätter, Peter R. (Hrsg.): Psychologie. Das Fischer Lexikon, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt a.M. 1972, ISBN 3-436-01159-2, zu Stw. „Probehandlungen“: Seiten 71, 95, 97

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Befindlichkeitsstörung — Eine Befindlichkeitsstörung (umgangssprachlich auch: Unwohlsein) ist eine negative Empfindung, die rein subjektiv wahrgenommen wird und nicht notwendigerweise Krankheitswert besitzt. Ihr Gegenteil ist das Wohlbefinden. Man kann die… …   Deutsch Wikipedia

  • Emergenz — ist die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht – oder jedenfalls nicht… …   Deutsch Wikipedia

  • Lerntheorie — Lerntheorien sind Modelle und Hypothesen, die versuchen paradigmatisch Lernen psychologisch zu beschreiben und zu erklären. Der augenscheinlich komplexe Vorgang des Lernens, also der relativ stabilen Verhaltensänderung, wird dabei mit möglichst… …   Deutsch Wikipedia

  • Nosologie — ist die Lehre von der Erscheinungsform / Klassifikation einer Krankheit und ursprünglich ein Teilgebiet der Pathologie. Diesen traditionellen medizinischen Anschauungen sind jedoch diejenigen der Psychopathologie gegenüberzustellen, wie sie auch… …   Deutsch Wikipedia

  • Psychophysische Korrelation — (Synonym: Komplementaritätsprinzip von Leib und Seele) ist eine Wechselwirkung zwischen körperlichen und psychischen Tatsachen und ist ein in der empirisch naturwissenschaftlichen Forschung verwendeter Begriff, der sich bewusst von den… …   Deutsch Wikipedia

  • Funktionelle Syndrome — stellen ein Zusammentreffen von Krankheitszeichen oder Beschwerden dar, die keine organische Ursache erkennen lassen. Diese charakteristische Situation für die Untersuchung im Frühstadium funktioneller Syndrome gab Anlass zu ihrer Bezeichnung.… …   Deutsch Wikipedia

  • Funktionskreis — als Regelkreis auf der vegetativen Stufe Der Funktionskreis ist ein kybernetisches Denkmodell aus dem Bereich der Verhaltensforschung und geht zurück auf den Biologen und Zoologen Jakob Johann von Uexküll (1864–1944). Es beinhaltet den in sich… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”