Sozialhygiene

Sozialhygiene

Sozialhygiene ist ein wesentlich von dem Mediziner Alfred Grotjahn 1904 in einem Vortrag vor der Berliner Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege vorgestelltes Konzept. Grotjahn stellt Sozialhygiene sowohl als deskriptive als auch als normative Wissenschaft dar. Die deskriptive Komponente definierte er als "die Lehre von den Bedingungen, denen die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen unterliegt", während der normative Bestandteil "die Lehre von den Maßnahmen, die die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen bezwecken." darstellt[1].

Die Begriffe "Sozialhygiene" oder "soziale Hygiene" tauchen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in der französischen Hygienebewegung auf und wurden von Max von Pettenkofer ins Deutsche eingeführt[2]. Er dient als Gegenentwurf der monokausalen Erklärung der Infektionskrankheiten. Pettenkofer nahm an, dass die Mikroben nur eine Komponente darstellen. Daneben seien auch eine Vielzahl von gesellschaftlichen Einflüssen wie Hygiene, Bevölkerungsdichte, Ernährung und viele andere für den Ausbruch und Verlauf einer Infektionskrankheit ausschlaggebend.

Neben der engen Verknüpfung mit der Demographie war die Sozialhygiene historisch eng mit der Eugenikbewegung verbunden. So entwickelte der Sozialdemokrat A. Grotjahn, der gleichzeitig Mitglied in der Gesellschaft für Rassenhygiene war, eine sozialistische Eugenik. Um sich von sozialdarwinistischen und rassentheoretischen sowie naturwissenschaftlichen Richtungen der Eugenik abzugrenzen, unterschied er beispielsweise "natürliche" und "soziale" Auslese und förderte den Begriff "soziale Siebung", welchen er als wesentlich zur regenerativen Vervollkommnung betrachtete.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 waren sozialhygienische Maßnahmen in staatliche Maßnahmen zur Rassenhygiene und Volksgesundheit eingebettet. So gab es, nachdem Wissenschaftler in dieser Zeit erstmals den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs untersuchten, strenge Nichtraucherkampagnen und Rauchverbote. In der nationalsozialistischen Propaganda wurde das Rauchen als für die Rasse schädliche dekadente Mode des politischen Liberalismus gebrandmarkt und später während des Weltkrieges die nichtrauchenden faschistischen Diktatoren Hitler, Mussolini und Franco als Vorbild gegenüber den rauchenden Regierungschefs der Alliierten, Churchill, Roosevelt und Stalin, herausgestellt[3][4].

Einzelnachweise

  1. A. Grotjahn: Vorwort in: Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der Sozialen Hygiene und Demographie, Bd. 3, (1904) S. III-XV.
  2. Ursula Ferdinand: "Der „faustische Schulterschluss“ in der Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1869-1931): Soziale Hygiene und ihre Beziehungen zur Eugenik und Demographie." Beitrag zur Tagung „Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?“, Basel 2006
  3. J. P. Mackenbach: "Odol, Autobahnen und ein nichtrauchender Führer – Reflektionen zur Unschuld von Public Health" Prävention und Gesundheitsförderung, Springer Berlin / Heidelberg, Vol.1, 208–211 (2006)
  4. R.N. Proctor: "The anti-tobacco campaign of the Nazis: a little known aspect of public health in Germany, 1933–45." BMJ 313, 1450–1453 (1996)

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