Substantialistisch

Substantialistisch

Als substantialistisch werden Auffassungen bezeichnet, die etwas eine dinghafte[1], für sich bestehende Existenz zuschreiben.[2] So wird bspw. als „Substantialismus“ die „philosophische Lehre [bezeichnet], nach der die Seele eine Substanz, ein dinghaftes Wesen ist"[3].

Häufig ist die Verwendung des Ausdrucks „substantialistisch“ mit dem Vorwurf verbunden, daß jene Zuschreibung zu Unrecht erfolge. Ohne vorwurfsvollen Tonfall wird die im übrigen gleiche Bedeutung wohl eher mit dem Adjektiv „substantiell“[4] ausgedrückt: vgl. die Artikel Substantielle Definition, Substantielle Wahrheit und Substantielle Ableitung[5].

Inhaltsverzeichnis

Etymologie

„Substantialistisch“ ist ein vom – von Seneca geprägten[6] – lateinischen Neologismus substantia[7] (in etwa: das darunter Bestehende[8]; metaphorischer gesprochen: das Wesentliche unter der Oberfläche) herrührendes deutsches Adjektiv.

Klassische Definitionen der Substanz

Nach Johannes Hoffmeister stammen die drei „wichtigsten Definitionen“ der Substanz von Descartes, Spinoza und Kant[9]. Hier seien die von

Descartes (Princ. I 51): „Unter Substanz können wir nur ein Ding verstehen, das so existiert, daß es zu seiner eigenen Existenz keines anderen Dinges bedarf“

und Spinoza (Eth. I Def. 3) angeführt: „Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird, d.h. das, dessen Begriff, um gebildet werden zu können, des Begriffs eines anderen Dings nicht bedarf“.[10]

Enger und weiter Substanzbegriff / Materialismus und Idealismus

Nach Kant [11] ist die Substanz das, „was als Substrat alles Wechsels immer dasselbe bleibt.“ Kant folgert daraus: „Da diese [die Substanz] also im Dasein nicht wechseln kann, so kann ihr Quantum in der Natur auch weder vermehrt noch vermindert werden.“

Daraus ergeben sich nun ein enger und ein weiter Substanz-Begriff. Ersterer ist materialistisch im philosophischen Sinne, der zweite idealistisch: „In diesem [Kants] Sinn der Unvermehrbarkeit und Unzerstörbarkeit […] wird der Begriff der S[ubstanz] insbesondere in der Naturwissenschaft und Naturphilosophie gebraucht: Masse und Energie spielen in der Physik wegen der für sie geltenden Erhaltungsgesetze die Rolle der S[ubstanz]. Erkennt man nur sie als S[ubstanz] an, so kommt man zum °Materialismus. Erkennt man auch der Seele den Charakter der S[ubstanz] zu (°Subtanzialismus), so kommt man zu einem °Dualismus, wie ihn Descartes durch die Gegenüberstellung der ausgedehnten (materiellen) und denkenden (seelischen) S[ubstanz] formulierte.“ [12]

Synonyme: substantialistisch = essentialistisch

Substantialistische Auffassungen können mit einem – in den 1990er Jahren durch die poststrukturalistisch-dekonstruktivistische Essentialismus-Kritik breiter bekannt gewordenen – Ausdruck auch als „essentialistisch“ bezeichnet werden. Denn in der „Bedeutung ‚das, wodurch etwas ist, was es ist’“ ist Substanz „synonym mit ‚essentia’. In dieser Bedeutung entspricht der lateinische Ausdruck ‚substantia’ […] griechischen οὐσία (↑ Usia, ↑ Wesen, […]).“[13]

Substantialistische Auffassungen in der Rechtsphilosophie

Als „substantialistisch“ können in rechtstheoretischer Perspektive jene rechtsphilosophischen Auffassungen, die das Recht oder bestimmte einzelne Rechtsinstitute als unveränderliche, von Rechtssetzungsakten unabhängige Wesenheiten auffassen, charakterisiert werden. Für substantialistische Rechtsauffassungen ist Recht nicht eine spezifische Form, sondern eine spezifische Substanz, so dass Recht nach dieser Auffassung nicht das in spezifischen Verfahren zustande gekommene Resultat von politischen Entscheidungen, sondern substantiell von Politik verschieden ist.

In der englischen Rechtssprache wird in etwa in diesem Sinne bspw. zwischen einer „a formalist or ‚thin’ and a substantive or ‚thick’ definition of the rule law“ oder einem procedural oder substantive Verständnis der due process-clause in der US-amerikanischen Verfassung unterschieden. In der deutschen Rechtssprache ist es üblich, statt von „substantialistisch“ vielmehr von „materiell“ oder „material“ zu sprechen. Vgl. dazu den Artikel Formeller und materieller Rechtsstaat.

Bedeutungsverlust des Substanz-Begriffs in der Erkenntnistheorie

Nach Jürgen Mittelstraß wird der Substanz-Begriff in „der neueren Erkenntnistheorie […] weitgehend aufgegeben. […]. Gegenstände in wissenschaftlicher Betrachtung sind durch Beziehungen und nicht durch das Verhältnis von S[ubstanz] und Akzidens charakterisiert.“[14] Vgl. den Artikel „Strukturalismus“.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Abschnitt „Erste Analogie der Erfahrung“ zitiert nach Johannes Hoffmeister (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Begriff, Meiner: Hamburg, 2. Aufl.: 1955, 587: „Es ist aber das Substrat alles Realen, d.i. zur Existenz der Dinge Gehörigen, die Substanz, […].“
  2. „Substanz, […], das Bestand Habende, das […] Fürsichbestehende im Unterschied zum Unselbständigen […] (°Akzidenz), das Beharrende im Unterschied zum Wechselnden.“ (Johannes Hoffmeister (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Begriff, Meiner: Hamburg, 2. Aufl.: 1955, 587).
  3. Duden – Das Fremdwörterbuch. 7. Aufl.: Mannheim, 2001 [CD-ROM].
  4. Vgl. substantiell = "1. die Substanz (1) betreffend, stofflich, materiell. 2. die Substanz (4) betreffend, zu ihr gehörend, sie [mit] ausmachend. 3. die Substanz (3) einer Sache betreffend, wesentlich. 4. (veraltend) nahrhaft, gehaltvoll. 5. (Philos.) wesenhaft" (Duden - Das Fremdwörterbuch. 7. Aufl. Mannheim, 2001. [CD-ROM] - Die Zahlen jeweils hinter dem Wort „Substanz“ verweisen auf die in dem fraglichen Wörterbuch angegebenen verschiedenen Bedeutung dieses Wortes).
  5. Artikel Substantielle Ableitung: „Das Wort substantiell deutet darauf hin, dass man an eine 'Substanz'/Masse/Fluid 'gebunden' ist.“.
  6. Jens Halfenwassen, [Abschnitt I des Artikels] „Substanz; Substanz/Akzidens“, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Schwabe: Basel, 1998, Sp. 495 - 507 (495).
  7. zu: lateinisch substare = in oder unter etwas vorhanden sein; aus: sub = unter u. stare = stehen (Duden - Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim, 5. Aufl.: 2003 [CD-ROM]).
  8. Johannes Hoffmeister (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Begriff, Meiner: Hamburg, 2. Aufl.: 1955, 587.
  9. Siehe bereits FN 1 und unten bei FN 8.
  10. Beides zitiert nach Johannes Hoffmeister (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Begriff, Meiner: Hamburg, 2. Aufl.: 1955, 587.
  11. Kritik der reinen Vernunft, Abschnitt „Erste Analogie der Erfahrung“ zitiert nach Johannes Hoffmeister (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Begriff, Meiner: Hamburg, 2. Aufl.: 1955, 587
  12. Johannes Hoffmeister (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Begriff, Meiner: Hamburg, 2. Aufl.: 1955, 587 - Hv. i.O.
  13. Jürgen Mittelstraß, Artikel „Substanz“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 4, Metzler: Stuttgart/Weimar, 1996, 133 - 136 (133).
  14. Artikel „Substanz“, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 4, Metzler: Stuttgart/Weimar, 1996, 133 - 136 (135).

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