Das schwarze Buch

Das schwarze Buch

Der Roman Das schwarze Buch von Orhan Pamuk erschien 1990 unter dem Titel Kara Kitap in Istanbul. Die deutsche Übersetzung folgte 1994 bei Hanser.

Inhalt

Der junge Anwalt Galip wird von seiner schönen jungen Frau und Cousine Rüya verlassen. Seine Suche nach ihr führt ihn quer durch die Stadtviertel Istanbuls, durch Moscheen und Katakomben, Bars, Bordelle und Zeitungsredaktionen. Schnell entsteht bei Galip der Verdacht, Rüya verstecke sich bei ihrem Halbbruder Celâl, einem erfolgreichen Kolumnisten, Galips großem Vorbild. Celâl aber bleibt unauffindbar. Er scheint in allerlei dunkle Machenschaften verstrickt, in Verbindungen zur Mafia, zu Geheimorganisationen, politischen Gruppen und Sekten.

Da Galip Celâl nicht finden kann, sucht er nach Indizien in dessen Kolumne, die immer wieder Bezug auf das Leben der Familie nimmt, aber sich gleichzeitig auf vielfältig verschlüsselte Weise mit der Lage der Türkei auseinandersetzt. Galip meint in einem Text Celâls über das Austrocknen des Bosporus eine versteckte Aufforderung Celâls an Rüya zu finden, sie solle Galip verlassen: "Mein Leben, meine Sorge, mein Alles, die Zeit der Heimsuchung ist angebrochen, komm zu mir, wo Du auch sein magst, in einem verräucherten Büro, in der von beißendem Zwiebelgeruch geschwängerten Küche eines wäschedunsterfüllten Hauses oder im Durcheinander eines blauen Schlafzimmers - ganz gleich, wo Du bist, es ist soweit, komm zu mir, denn die Zeit ist da, in Stille und Zwielicht eines Zimmers hinter geschlossenen Vorhängen einander mit aller Kraft zu umarmen und den Tod zu erwarten." (1. Teil, 2. Kapitel)

Immer tiefer verstrickt Galip sich dabei in die Kunst der Textauslegung, verfolgt Anweisungen mystischer Koraninterpreten, sucht Spuren in Celâls Texten und findet literarische Vorlagen, Schicksale, die Galip verarbeitet hat, lernt Menschen kennen, die ebenfalls auf der Suche nach Celâl, nach ihrem Schicksal sind. Es ist eine Suche nach Identität in einer Welt, in der sich Ost und West hoffnungslos vermischen und in der niemand mehr "er selbst sein" kann.

Literarische Form

Orhan Pamuks Buch ist ein Dokument der Zerrissenheit, des Schwankens der Menschen zwischen sinnentleerten Traditionen, Aberglauben und westlichen Vorbildern von der großen Literatur bis zum Filmsternchen. Auch bei der Suche nach den wahren Quellen der türkischen Identität stößt er auf immer neue Mischungen. Auf dem Grunde des Bosporus finden diese Spuren zusammen: Kreuzritter und Sultane, Gangster und Gehenkte, alte Münzen und Alltagsgegenstände bilden den Boden, auf dem Istanbul wächst. In den alten Schächten finden sie sich, mystische Texte, vergessene Kleidungsstücke, die Gebeine Ermordeter, ein Kabinett von Wachsfiguren, die die Menschen Istanbuls verkörpern, bevor die Stadt ihre Identität verlor.

Wie in Vargas Llosas Roman Tante Julia und der Kunstschreiber mischt Pamuk die Erzählung mit Beiträgen des Journalisten, wobei die Geschichten beginnen, ihre Grenzen zu überschreiten. Realität und Kolumne verweisen aufeinander, die Figuren aus Celâls Geschichten tauchen in der Realität Galips auf, werden bedrohlich, interpretieren die Darstellung Celâls, sind ebenfalls auf der Suche nach dem verschollenen Autor. Am Ende fallen die Grenzen zwischen den Identitäten. Immer mehr wird Galip zu Celâl, übernimmt schließlich dessen Rolle, sitzt in einer von Celâls geheimen Wohnungen und setzt dessen Kolumnen fort.

Die Kolumnenbeiträge sind kleine Meisterwerke, die auch für sich stehen könnten. Im Gleichnis "Das Geheimnis der Bilder" (14. Kapitel) gibt ein Beyoglu-Gangster für die Eingangshalle seines Etablissements zwei Bilder in Auftrag. In einem Wettbewerb um das schönste Bild Istanbuls sollen zwei Maler die beiden Seitenwände gestalten.

"...sahen die Anwesenden an einer Wand ein herrliches Bild Istanbuls, an der anderen aber einen Spiegel, der im Lichte der silbernen Leuchter jenes Bild glänzender, schöner und reizvoller wiedergab, als es in Wirklichkeit war. Den Preis bekam natürlich der Maler, der den Spiegel aufgehängt hatte."

Die Raffinesse dieses Gleichnisses erschöpft sich nicht in der selbstverständlichen Bevorzugung des Spiegelbildes, die an Manifeste der europäischen Literatur der Moderne erinnert. Der Wunsch des Volkes, in glänzendem, verschönerndem Licht dargestellt zu werden, ist ein Aspekt, ein anderer, dass sich die Gangster als Auftraggeber wie selbstverständlich für europäische Formen realistischer Malerei und damit gegen das muslimische Bilderverbot entscheiden. Das eigentlich Faszinierende ist aber die Eigenschaft des Spiegels, das echte Bild nicht originalgetreu wiederzugeben, sondern unter der glänzenden Oberfläche kleine, boshafte Veränderungen vorzunehmen. Auch das Original bleibt von diesen Fälschungen nicht unbeeindruckt, und bei erneuter Betrachtung erscheint auch es verändert.

Die Reaktionen auf den Bild und seinen Spiegel kann als Gleichnis auf Text und Leser verstanden werden, als "Prüfstein für den Charakter". Eröffnet der Spiegel einem Kommissar Hinweise auf einen lange gesuchten Mörder, findet ein anderer im Spiegel seine große Liebe, die im Gemälde nur "eines der faden, bekümmerten Mädchen aus irgendeinem Dorf seines Vaters" war. Während die meisten Gäste unbeeindruckt an den Gemälden vorbeihasten, finden andere hier die Bilder ihrer Phantasie wieder.

Das schwarze Buch taucht auch selbst in Gemälde und Spiegel auf, "war im Spiegel ein zweigeteiltes, zweideutiges, ein Zwei-Geschichtenbuch geworden, doch wenn man wieder zur ersten Wand zurückschaute, erwies sich das Buch als ein Ganzes von Anfang bis Ende, und das Geheimnis war in seinem Inneren verschwunden."

Die Kolumnen Celâls spiegeln die Ereignisse des Romans, reflektieren, interpretieren und verändern sie. Gleichzeitig erzeugt diese Doppelung den Wunsch beim Leser wie beim Betrachter von Bild und Spiegel, das Geheimnis der Hinweise und Veränderungen aufzuklären. Ruhelos wie Galip, der die Kolumnen immer wieder liest, um sie zu entschlüsseln, ist der Leser geneigt, im Buch zurückzublättern, um die Spuren erneut zu verfolgen. Die Welt des Romans wird zu einer Welt der Zeichen, die aufeinander verweisen. Pamuk schnürt einen gordischen Knoten, der am Ende nur noch gewaltsam, durch einen Mord, aufzulösen ist.

Irritierend ist auch die Selbstreferenz, die Selbstbezüglichkeit des Romans, der die möglichen Perspektiven auf den Text vervielfacht. "Schein-Erzählungen. Kunst-Ornamente. Leere Worte. Es gibt einige abgedroschene Tricks, das ist alles. Es wird immer wieder von Erinnerungen, von köstlichen Dingen, süßer als Honig, gesprochen. Hin und wieder erwischt man ein Paradoxon. Ein Spiel wird angesprochen, das die alten Divan-Dichter tecahül-i arifane oder ‚So tun, als ob man’s nicht besser wüßte’ nannten." (9. Kapitel)

Literarische Quellen

Verdeckt und offen verarbeitet Orhan Pamuk vielfältige literarische Quellen. Pamuks Roman erscheint als ein Manifest der Intertextualität, als Collage europäischer und orientalischer Texte und Formen quer durch die Jahrhunderte. Schon die Namen der Hauptpersonen verweisen auf die islamische Mystik, Celâl auf Mevlâna Celâlettin Rumi, den Meister des Sufismus und seine im 13. Jahrhundert auf Persisch verfassten Verse des Masnawī, Galip auf Seyh Galip.

Es sind aber nicht nur diese Meister der orientalischen Erzählkunst, die Pamuk faszinieren. Dostojewskis Legende vom Großinquisitor im Gespräch mit Jesus findet ihr ironisiertes Pendant in der Ansprache des Großen Paschas an den festgenommenen Mahdi. Wie der Großinquisitor erkennt der Pascha den Erlöser, weist seine Hoffnungen aber erfolgreich zurück: Ein militärischer Sieg des unterentwickelten Orients über den Westen sei ausgeschlossen. Einen Krieg gegen die inneren Feinde könne man nur mit Hilfe von "Denunzianten, Henkern, Polizisten und Folterknechten" führen, man könne Schuldige präsentieren, aber das alles tue man schon seit 300 Jahren. Sollte sich der Mahdi an die Spitze solcher Säuberungen stellen, würden früher oder später die Hoffnung, damit sei etwas zu erreichen, schwinden. Spätestens dann aber werde der "Glauben an das Buch und die beiden Welten" schwinden.

"Wenn keine Legende mehr bleibt, an die sie gemeinsam glauben können, wird jeder von ihnen beginnen, einer eigenen Erzählung zu glauben, jeder wird seine eigene Erzählung haben, wird seine eigene Geschichte erzählen wollen." (1. Teil, 14. Kapitel)

Dann, so prophezeit der große Pascha dem Erlöser, werde der Mahdi Deccal, der Teufel, für die Massen sein.

Edgar Allan Poe wird als Ideengeber zitiert mit dem Thema der schönen Frau, die stirbt oder verschwindet. Rilkes Faszination für Spiegel mag eine andere Quelle sein. Es sind aber auch Alltagsgegenstände, Wortspiele (der Revolutionär "Ali Wunderland") und Sentenzen ("Undank ist des Westens Lohn.") sowie Parodien auf die Regenbogenpresse ("eine illegitime Tochter des Schahs von Persien und der englischen Königin"), in denen sich Ost und West unrettbar vermischen. Im Traum sieht sich eine der Romanfiguren mit dem weißgekleideten Propheten Mohammed durch das nächtliche Istanbul fahren - in einem 56er Chevrolet. Da verkauft jemand "magische Tavla-Würfelchen, ... die aus dem Oberschenkelknochen des von den Europäern Weihnachtsmann genannten, tausendjährigen guten Onkels geschnitzt worden waren."

Die Tendenz ist klar: Ob Ibn Arabis oder Dantes Bilder vom Jenseits, ob Ibn Tufeyls oder Daniel Defoes Robinsonaden, die Frage danach, wer das gültige Original sei, führt zu nichts als Absurditäten. Ost und West sind für Pamuk gleichwertige Quellen mit Gegensätzen, Verirrungen, Mythen und genialen Literaten. Es gilt sie zu retten, die Erzählkunst in der Qualität der Märchen aus Tausendundeiner Nacht, den Humor zu behalten bei der unvermeidlichen Durchdringung der Kulturen.


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