Defizithypothese

Defizithypothese

Die Bernstein-Hypothese, auch Defizithypothese, ist eine 1958 von Basil Bernstein entwickelte linguistische Annahme. Bernstein baut dabei auf der Sapir-Whorf-Hypothese auf, verschiebt deren Fokus aber auf innersprachliche Betrachtungen, also auf Unterschiede zwischen Angehörigen ein und derselben Sprachgemeinschaft.

Bernsteins grundlegende Aussage: Die Angehörigen der sozialen Mittel- und Oberschicht einer Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft verwenden eine Variante der gemeinsamen Einheitssprache, die sich sehr von der Variante der sozialen Unterschicht (Arbeiterklasse) unterscheidet. Die Mittel- und Oberschicht bedienen sich eines elaborierten (formal language), die Unterschicht eines restringierten Codes (public language). Da beide Codes als unterschiedlich leistungsfähig angesehen werden, wird auch ein Unterschied beider Gesellschaftsschichten hinsichtlich ihrer Wahrnehmung und ihres Denkens unterstellt.

Bernstein übernimmt für seine These ausdrücklich nicht nur Edward Sapirs und Benjamin Whorfs These von der sprachlichen Relativität, sondern auch den problematischeren zweiten Teil, den sprachlichen oder linguistischen Determinismus: Der elaborierte Code der Mittel- und Oberschicht bewirke besser ausgebildete kognitive Fähigkeiten als die in der Unterschicht. Das führe zu besseren Schulerfolgen der Kinder gehobener Schichten und damit zu besseren beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Chancen.

Abseits vom Strukturalismus geht es Bernstein nicht um die Beschreibung der Struktur eines Sprachsystems, sondern um die Erforschung der Rolle von Sprache in Sozialisationsprozessen von Kindern verschiedener sozialer Schichten.

Die neuere Soziolinguistik basiert auf der Bernstein-Hypothese – entweder auf ihrem Ansatz aufbauend oder als Form der vielfältigen Kritik daran, die seit ihrem Aufkommen vor allem in Deutschland und den USA nie ganz verstummt ist. So könnte, lautet ein Vorwurf, die Bernstein-Hypothese unreflektiert für sozialdarwinistische Argumentationen verwendet werden.

Bernsteins Ansichten werden eher von der traditionellen Linken akzeptiert, die den Unterschichten durch Bildung sozialen Aufstieg ermöglichen will. Die Neue Linke hingegen lehnt Bernstein als zu normorientiert ab: Die Sprache der Unterschichten (der restringierte Code) sei in Wirklichkeit nicht defizitär, sondern sehr ausdrucksreich – nur eben nicht in der Weise, wie es der elaborierte Code ist. Beispielsweise sei der Wortschatz in den Themengebieten der „Straße“ (Eigentumsdelikte, Drogen usw.) sehr groß. Die Lösung des angeblichen Sprachrückstandes der Unterschichten solle also nicht darin bestehen, die Mittelschichten nachzuahmen, sondern in einer größeren Toleranz für die Sprache der Unterschichten. Sie sei nicht schlechter (defizitär), sondern nur anders. Diese Differenzhypothese wurde von William Labov entwickelt.

Medizin

Eine andere Bernsteinhypothese wurde 1868 von Julius Bernstein aufgestellt. Sie betrifft das elektrische Membranpotential und ist auch heute noch das Paradigma der vorherrschenden wissenschaftlichen Medizin. Zusammenfassend heißt es in der Julius-Bernstein-Hypothese, dass die Membrane der Neurone positive Ionen ins Zellinnere lassen, negativ geladenen Teilchen dagegen in der extrazellulären Flüssigkeit bleiben.

Literatur:

  • Basil Bernstein: Beiträge zu einer Theorie des pädagogischen Prozesses; Frankfurt/Main, Suhrkamp, November 1982. ISBN 3518108506.
  • Basil Bernstein/Gustav Grauer/Christine Holzkamp: Familienerziehung, Sozialschicht und Schulerfolg; Beltz, 1979. ISBN 3407131070.
  • Basil Bernstein/W. Brandis/D. Henderson: Soziale Schicht, Sprache und Kommunikation (Primäre Sozialisation, Sprache und Erziehung); Berlin, Cornelsen, 1973. ISBN 3590146028.
  • Basil Bernstein: Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten. Aufsätze 1958-1970; Amsterdam 1971 (Contact-Press).
  • Basil Bernstein (Hrsg.): Sprachliche Kodes und soziale Kontrolle; Berlin, Cornelsen, September 1974. ISBN 3590146052.
  • Basil Bernstein: Studien zur sprachlichen Sozialisation; Berlin, Ullstein, Oktober 1985. ISBN 3548351034.
  • Peter Ernst: Germanistische Linguistik, UTB, ISBN 3825225410.
  • Heidrun Pelz: Linguistik für Anfänger. Hoffmann und Campe, Reihe Kritische Wissenschaft, 1987. ISBN 3455091717.

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