- Deixis vs. Anapher
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Das Problem der Abgrenzung von Deixis und Anapher ist ein wissenschaftstheoretisches, konkreter ein grammatiktheoretisches Problem. In der Grammatikschreibung wird heutzutage zwischen Anapher und Deixis unterschieden. In der Antike und im Mittelalter wurde in der Sprachphilosophie und Grammatik jedoch nur von Anapher gesprochen, aber keine Unterscheidung zur Deixis gegeben. Die Notwendigkeit einer Differenzierung betrifft den Gebrauch von Pronomina.
In der Literatur zu Pronomina wurde verschiedentlich gefragt, ob hinter einem Beispiel wie "Hans rasiert sich" ein Satz "Hans rasiert Hans" stehe, wo das zweite Hans anaphorisch das erste wieder aufnehme. Oder ob ein Personalpronomen wie "Du" nicht deiktisch sei, da doch hierdurch eine Person angesprochen werde, die in Raum und Zeit existiere.
Das Problem bezieht sich auf die Ebene der Syntax, wenn man ausschließlich auf die Anapher schaut, bzw. dann auch auf die Ebene der Pragmatik, wenn beide Phänomene in den Blick genommen werden.
Inhaltsverzeichnis
Wissenschaftsgeschichte
Eine Unterscheidung in den Gebrauchsweisen von Demonstrativpronomina findet sich bereits bei Windisch (1869), der unter Berufung auf Apollonius Dyskolus Deixis dadurch gegenüber Anapher abgrenzt (1869:252), „dass sie sich direct auf das wirkliche Object in der Außenwelt bezieht, das bisher unbekannt oder wenigstens noch nicht in die Rede eingeführt war, während ἀναφορά (Anapher, Anm. d. Verf.) stattfindet, wenn ein in der Rede vorher schon erwähntes Object nochmal durch ein Pronomen aufgenommen wird.“ Eine genauere Bestimmung von Deixis nimmt Windisch jedoch nicht vor.
Grade der Deixis
Den nächsten wichtigen Schritt hat Brugmann (1904) getan, denn seit seiner Arbeit wird Deixis in sich differenziert. Er unterscheidet (1904:9 ff.) zwischen Dér-Deixis, Ich-Deixis und Jener-Deixis. Brugmann geht auf die Anapher nicht näher ein, sondern konstatiert nur ihren Gebrauch.
Während Baader (1929) das Verhältnis von Person und Art der Deixis noch nach Art der sprachphilosophisch-spekulativen Theorien des frühen 19. Jh. behandelt, wird das Problem der räumlichen Origo der Deixis von Bühler in seiner 1934 erschienen Arbeit zur Sprachtheorie ausführlich behandelt. Eine Zusammenfassung zur Raumdeixis mit weiterer Literatur findet sich bei Sennholz (1985), sowie bei Ehlich (1979) und zur Deixis am Phantasma bei Sitta (1991).
Deixis und Anapher
Nach 1970 setzt eine verstärkte Beschäftigung mit der Abgrenzung von Deixis und Anapher ein, und von Halliday/Hasan (1976:57-76) wird ein Schema entwickelt, das einen raumdeiktischen (exophorischen) gegenüber einem nicht-raumdeiktischen (endophorischen) Gebrauch unterscheidet. Der nicht-raumdeiktische Gebrauch unterteilt sich in Anapher und Katapher. Dieses findet sich weiterentwickelt z.B. bei Berger/Weiss (1987:16), die wie andere Autoren seit den achtziger Jahren die syntaktische Verwendung mitberücksichtigen, innerhalb derer zudem zwischen propositionalem und nominalem Antezedens differenziert sowie das Antezedens in seiner Verwendung noch nach intra- und transphrastisch (d.h. innerhalb eines Satzes oder außerhalb) klassifiziert wird. In der neueren Forschung finden sich Ansätze, die Anaphorik und Deixis in einem einheitlichen Rahmen als Phänomene der "domänengebundenen Referenz" behandeln (Consten 2004).
Das Problem der Verortung von Deixis, das bereits von Bühler thematisiert worden ist, ist als Problem der sprachlichen Referenz u.a. von Lyons (1975, 1983) behandelt worden. Die Problematik der Anapher ist in der Folgezeit stärker von Autoren untersucht worden, die sich innerhalb der generativen Grammatik mit Sprache beschäftigt haben. Sternefeld (1993) enthält eine Zusammenfassung, welche formalen Kriterien sich für anaphorischen Gebrauch bei Pronomina finden lassen, wenn man als Maßstab die Logik, wie sie als Disziplin in der Philosophie definiert worden ist, nimmt. Nach Sternefeld (1993:940) ist deiktischer Gebrauch indexikalisch und zu unterscheiden von koreferentiellem, bei dem sich das Pronomen auf den gleichen Referenten wie die zugehörige Nominalphrase bezieht, sowie von der Verwendung als gebundene Variable und deren Skopus (1993:941 ff.). Weiterhin wird unter dem Stichwort "sloppy identity" (1993:946 ff.) die Frage behandelt, wann auf Grund von Indexikalisierungsproblemen keine Ellipse des Pronomens möglich ist.
Bei Definitheit ist im Zusammenhang mit Demonstrativpronomina ein Zusammenfall im Bereich der dér-Deixis mit dem Definitartikel möglich und in indogermanischen Sprachen auch vorhanden (vgl. Kupfer (2002)). Dieser Zusammenfall muss aber sprachtypologisch als "exotisch" gelten. Eine Übersicht zu Theorien über Definitheit findet sich bei Keizer (1992:187 ff.). Sie teilt die Theorien der letzten zwanzig Jahre in semantisch-pragmatische gegenüber pragmatisch-kognitive ein.
Von Benveniste wird der Gedanke der Räumlichkeit, wie er bei Bühler bereits aufgetaucht war, in seinen 1966 erschienen Arbeiten zur Allgemeinen Sprachwissenschaft unter dem Begriff „instances de discours“ weiterverfolgt und vor dem Hintergrund des Redegeschehens thematisiert. Er behandelt auch die Verortung von Personalpronomen im Diskurs. In der gleichen Richtung arbeitet Fillmore (1982:37) weiter, der neben den Deiktika auf Lokalkonstruktionen und Bewegungsverben als sprachliche Ausdrücke von Raum hinweist, auf zwar auf ihre Funktion (1982:43) als a) informing b) identifying c) acknowledging.
Bibliographie
- Baader, Theodor 1929 Die identifizierende Funktion der ich-Deixis im Indoeuropäischen. Eine ethnologisch-sprachwissenschaftliche Untersuchung. (=Idg. Bibliothek, 3. Abt., 10. Bd.). Heidelberg: C. Winter.
- Benveniste, Émile 1974 Probleme der Allgemeinen Sprachwissenschaft. (=LTW 1428 - Linguistik). München: List.
- Berger, Tilman & Daniel Weiss 1987 „Die Gebrauchsbedingungen des Anaphorikums 'tot' in substantivischer Verwendung“. Slavistische Linguistik 1986. Referate des XII Konstanzer Slavistischen Arbeitstreffens am Main/Riezlern 16.-19. September 1986. hrsg. v. Gerd Freidhof, Peter Kosta. 9-93. München: Otto Sagner.
- Brugmann, Karl 1904 Die Demonstrativpronomen der indogermanischen Sprachen. Eine bedeutungsgeschichtliche Untersuchung. Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, 22/6. Leipzig: Teubner.
- Bußmann, Hadumod 1990 Lexikon der Sprachwissenschaft. (=Kröners Taschenausgabe, 452). 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Kröner.
- Consten, Manfred 2004 Anaphorisch oder deiktisch? Zu einem integrativen Modell domänengebundener Referenz. Tübingen: Niemeyer (LA)
- Ehlich, Konrad 1979 Verwendung der Deixis beim sprachlichen Handeln. Linguistisch-philologische Untersuchungen zum hebräischen deiktischen System. 2 Bd. (=Forum Linguisticum, 24). Lang: Frankfurt a.M./Bern/Las Vegas.
- Fillmore, Charles J. 1982 „Towards a descriptive framework for spatial deixis.“ Speech, Place, and Action. Studies in Deixis and Related Topics. hrsg. v. Robert J. Jarvella, Wolfgang Klein. 31-59. Chichester/New York/Brisbane/Toronto/Singa-pore: John Wiley & Sons Ltd.
- Halliday, Michael A.K. & Ruqaiya Hasan 1976 Cohesion in English. London: Longman.
- Himmelmann, Nikolaus P. 1997 Deiktikon, Artikel, Nominalphrase. Zur Emergenz syntaktischer Struktur. (=Linguistische Arbeiten, 362). Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
- Keizer, Evelien M. 1992 Reference, Predication and (In)definiteness in Functional Grammar. A Functional Approach to English Copular Sentences. Dissertation Freie Universität Am sterdam. Utrecht: Elinkwijk.
- Kupfer, Katharina 2002 Die Demonstrativpronomina im Rigveda. (=Europäische Hochschulschriften, XXI, 244). Frankfurt: Peter Lang.
- Lyons, John 1975 „Deixis as source of reference.” Formal Semantics of Natural Languages. hrsg. v. E. L. Keenan. 61-83. Cambridge: Cambridge University Press.
- Lyons, John 1983 Semantik. Bd. 2. (=Beck'sche Elementarbücher). München: Beck.
- Sennholz, Klaus 1985 Grundzüge der Deixis. (=Bochumer Beiträge zur Semiotik, 9). Bochum: Studienverlag Dr. Norbert Brockmeyer.
- Sitta, Georg 1991 Deixis am Phantasma. Versuch einer Neubestimmung. (=Bochumer Beiträge zur Semiotik, 31). Bochum: Univ.verlag Dr. Norbert Brockmeyer.
- Sternefeld, Wolfgang 1993 „Anaphoric Reference.” Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 9.1 Syntax: ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. hrsg. v. Joachim Jacobs et al. 940-966. Berlin/New York: de Gruyter.
- Windisch, Ernst 1869 „Untersuchungen über den Ursprung des Relativpronomens in den indogermanischen Sprachen.” Studien zur griechischen und lateinischen Grammatik 2.2:201-425.
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