Dekohärenz

Dekohärenz

Dekohärenz ist ein Phänomen der Quantenphysik, das zur unvollständigen oder vollständigen Unterdrückung der Kohärenzeigenschaften quantenmechanischer Zustände führt. Dekohärenzeffekte ergeben sich, wenn ein bislang abgeschlossenes System mit seiner Umgebung in Wechselwirkung tritt, wodurch sowohl der Zustand der Umgebung als auch der Zustand des Systems irreversibel verändert werden. Die Dekohärenz spielt eine wichtige Rolle bei der Klärung der Frage, wie makroskopische („klassische“) Phänomene im Rahmen der Quantenmechanik gedeutet werden können. Weiterhin ist die Dekohärenz von praktischer Bedeutung bei der Konstruktion von Quantencomputern, wo sie ein großes Problem darstellt.

Inhaltsverzeichnis

Grundlegende Konzepte

Problemstellung

Falls die Quantenmechanik eine fundamentale Theorie darstellt, muss - da die Gesetze der Quantenmechanik grundsätzlich unabhängig von der Größe des betrachteten Systems formuliert sind - der Übergang der physikalischen Eigenschaften mikroskopischer Systeme zu den Eigenschaften makroskopischer Systeme quantenmechanisch beschreibbar sein. Quantenphänomene wie das Doppelspaltexperiment werfen jedoch die Frage auf, wie das „klassische“ Verhalten makroskopischer Systeme im Rahmen der Quantenmechanik erklärt werden kann. Insbesondere ist es keineswegs unmittelbar ersichtlich, welche physikalische Bedeutung einem quantenmechanischen Superpositionszustand bei Anwendung auf ein makroskopisches System zukommen soll. So stellte Albert Einstein 1954 in seiner Korrespondenz mit Max Born die Frage, wie sich im Rahmen der Quantenmechanik die Lokalisierung makroskopischer Gegenstände erklären lässt, wobei er darauf hinwies, dass die „Kleinheit“ quantenmechanischer Effekte bei makroskopischen Massen zur Erklärung der Lokalisierung nicht ausreicht:

ψ1 und ψ2 seien zwei Lösungen derselben Schrödingergleichung. Dann ist ψ = ψ1 + ψ2 ebenfalls eine Lösung der Schrödingergleichung mit gleichem Anspruch darauf, einen möglichen Realzustand zu beschreiben. Wenn das System ein Makro-System ist, und wenn ψ1 und ψ2 „eng“ sind in Bezug auf die Makro-Koordinaten, so ist dies in der weitaus überwiegenden Zahl der möglichen Fälle für ψ nicht mehr der Fall. Enge bezüglich der Makro-Koordinaten ist eine Forderung, die nicht nur unabhängig ist von den Prinzipien der Quantenmechanik, sondern auch unvereinbar mit diesen Prinzipien."[1]

Ein weiteres Beispiel für die (scheinbaren) Paradoxien bei der Anwendung quantenmechanischer Konzepte auf makroskopische Systeme ist das von Erwin Schrödinger erdachte, heute als „Schrödingers Katze“ bekannte Gedankenexperiment.

Einfluss der Umgebung

Erst ab ca. 1970 setzte sich – ausgehend von theoretischen und experimentellen Untersuchungen des Messprozesses – allmählich die Erkenntnis durch, dass die o.g. Überlegungen und Gedankenexperimente zu makroskopischen Zuständen insofern unrealistisch sind, als sie deren unvermeidliche Wechselwirkungen mit der Umgebung ignorieren. So stellte sich heraus, dass Superpositionseffekte wie die oben erläuterte Interferenz am Doppelspalt äußerst empfindlich auf jeglichen Einfluss aus der Umgebung reagieren. Stöße mit Gasmolekülen oder Photonen, aber auch die Emission von Strahlung beeinträchtigen oder zerstören die für das Auftreten von Interferenzeffekten entscheidende feste Phasenbeziehung zwischen den beteiligten Einzelzuständen |\phi_n^{System}\rangle des betrachteten Systems. In der Terminologie der Quantenmechanik lässt sich dieses als Dekohärenz bezeichnete Phänomen auf die Wechselwirkung zwischen den Systemzuständen und den Streuteilchen zurückführen, die durch eine Verschränkung der Einzelzustände |\phi_n^{System}\rangle mit den Zuständen |\phi_m^{Streuteilchen}\rangle der Umgebung beschrieben werden kann. Als Folge dieser Wechselwirkung bleiben die Phasenbeziehungen zwischen den beteiligten Zuständen nur bei Betrachtung des Gesamtsystems (System + Umgebung) wohldefiniert, bei isolierter Betrachtung der Systemzustände |\phi_n^{System}\rangle hingegen ergeben sich rein statistische „klassische“ Verteilungen dieser Zustände.[2]

Typische Dekohärenzzeiten

Dekohärenzzeiten in Sekunden[2]
Freies Elektron Staubteilchen 10 µm Bowlingkugel
300 K, Normaldruck 10-12 10-18 10-26
300 K, Ultrahochvakuum 10 10-4 10-12
Sonnenlicht (auf der Erde) 109 10-10 10-18
Wärmestrahlung (300 K) 107 10-12 10-20
Kosmische Hintergrundstrahlung (2,73 K) 109 10-7 10-18

Eine Vorstellung von der Effizienz dieses Phänomens gibt Tabelle 1, in der typische Größenordnungen der Dekohärenzzeiten (d.h. der Zeitspannen, innerhalb derer die Kohärenz verloren geht) für verschiedene Objekte und Umgebungseinflüsse aufgeführt sind. Offensichtlich zerfallen die Überlagerungszustände makroskopischer Objekte durch den praktisch nicht vermeidbaren Einfluss der Umgebung innerhalb kürzester Zeit in ein klassisches Ensemble unkorrelierter Einzelzustände (bereits das 10 µm-Staubteilchen muss in diesem Sinne als makroskopisch bezeichnet werden).

Superselektion bei Messungen

Bei den obigen Ausführungen wurde implizit angenommen, dass makroskopische Systeme spätestens nach Ablauf der Dekohärenzprozesse Zustände einnehmen, welche die vertrauten „klassischen“ Eigenschaften aufweisen. Jedoch ist nicht unmittelbar klar, welche der vielen denkbaren Basissysteme die bevorzugte Basis makroskopischer Systeme darstellen. Warum scheinen z. B. bei makroskopischen Systemen in der Regel lokalisierte Ortszustände eine bevorzugte Rolle zu spielen, während mikroskopische Systeme häufig in delokalisierten Zuständen (z. B. Energie-Eigenzuständen) vorgefunden werden? Auch diese Fragestellung kann auf den Einfluss der Umgebung auf das betrachtete System zurückgeführt werden. Demnach definiert nur eine „robuste“ Basis, die nicht unmittelbar durch Dekohärenz-Mechanismen zerstört wird, die tatsächlich realisierbaren Observablen (verschiedene konkrete Beispiele incl. einer Begründung des bevorzugten Auftretens räumlich lokalisierter Zustände finden sich z. B. in [2] [3]). Diese Bevorzugung bestimmter makroskopischer Zustände wird als Superselektion oder einselection (für environmentally-induced superselection) bezeichnet.

Die Konzepte der Dekohärenz sind heute in allen gängigen Interpretationen der Quantenmechanik ein wichtiger Bestandteil bei der Erklärung des klassischen Verhaltens makroskopischer Quantensysteme.[3]

Anwendungen

Dekohärenz als Störgröße bei Quantencomputern

Die Dekohärenz ist von praktischer Relevanz für die Funktion des Quantencomputers, bei dem ein quantenmechanischer Überlagerungszustand möglichst vieler Zustände über einen hinreichend langen Zeitraum ungestört aufrechterhalten werden muss. Die rasche Dekohärenz stellt hier bislang eines der Hauptprobleme dar.

Literatur

  • Mario Castagnino, Sebastian Fortin, Roberto Laura and Olimpia Lombardi, A general theoretical framework for decoherence in open and closed systems, Classical and Quantum Gravity, 25, pp. 154002–154013, (2008). Ein allgemeiner theoretischer Rahmen für die Dekohärenz wird vorgeschlagen, die Formalismen ursprünglich entwickelt, um gerade mit offenen oder geschlossenen Systemen befassen umfasst.
  • Bertrand Duplantier: Quantum decoherence. Birkhäuser, Basel 2007, ISBN 3-7643-7807-7
  • Vladimir M. Akulin: Decoherence, entanglement and information protection in complex quantum systems. Springer, Dordrecht 2005, ISBN 1-4020-3282-X.
  • Maximilian A. Schlosshauer: Decoherence and the quantum-to-classical transition. Springer, Berlin 2008, ISBN 3-540-35773-4.

Weblinks

Video

Einzelnachweise

  1. A. Einstein, M. Born: Briefwechsel 1916-1955, Langen/Müller 2005, ISBN 3-7844-2997-1
  2. a b c E. Joos et al.: Decoherence and the Appearance of a Classical World in Quantum Theory, Springer 2003, ISBN 3-540-00390-8
  3. a b Schlosshauer, Maximilian: "Decoherence, the Measurement Problem, and Interpretations of Quantum Mechanics", Reviews of Modern Physics 76(2004), 1267–1305 (arXiv:quant-ph/0312059v4)

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