Dependenzgrammatik

Dependenzgrammatik

Dependenzgrammatik oder auch Valenzgrammatik bezeichnet eine von Lucien Tesnière begründete, im Ansatz aber auch schon im Mittelalter bei Thomas von Erfurt zu findende Form der Grammatik. Valenzgrammatik erhielt den Namen in Analogie zu den Valenzen bei der chemischen Bindung. Die Dependenzgrammatik untersucht die hierarchische Struktur (Dependenzstruktur) eines Satzes ausgehend von mutuellen Abhängigkeiten. Dependenz ist Abhängigkeit in dem Sinne, dass ein Wort (das regierte Wort oder der Dependent) von einem anderen Wort (das regierende Wort oder der Regent) abhängt. Im Satz gehen die zentralen Abhängigkeiten vom Verb aus. Das Verb essen lässt erwarten, dass jemand genannt wird, der isst, und etwas, das gegessen wird:

„Hans isst Brot.“

Wörter eröffnen Leerstellen, die von Wörtern anderer Klassen gefüllt werden können oder müssen, so schon Karl Bühler. In dem Beispielsatz sind das Subjekt Hans und Akkusativobjekt Brot vom Prädikat isst abhängig. Tesnière sprach von Aktanten; alternative Bezeichnungen sind Komplement oder, heutzutage am geläufigsten, Ergänzung. Andere Satzelemente können frei hinzugefügt werden:

„Hans isst abends gern Brot vor dem Fernseher.“

Meist sind das Angaben von Ort, Zeit, Grund oder Handlungsmodalitäten. Was nicht von anderen Ausdrücken gefordert ist, nannte Tesnière Zirkumstanten, die auch Supplemente oder freie Angaben genannt werden. Die Unterscheidung zwischen Komplementen und Supplementen fällt oft nicht leicht. Die vorhandenen Tests sind nicht immer zuverlässig; es existieren viele Grenzfälle.

Die Valenz von Verben – aber auch von Substantiven und anderen Wortarten – wird in sogenannten Valenzwörterbüchern beschrieben. Valenzangaben sind für den Fremdsprachenunterricht sehr hilfreich. Grammatiken wie die Deutsche Grammatik von Helbig/ Buscha oder die Grammatik der deutschen Sprache von Zifonun/ Hoffmann/ Strecker sind stark dependentiell ausgerichtet.

Auf der Dependenzgrammatik basieren viele linguistische Formalismen, zB die funktionale generative Beschreibung oder auch Extensible Dependency Grammar; sie wird auch im Bedeutung-Text-Modell verwendet.

Literatur

  • Vilmos Ágel et al. (Hrsg.): Dependenz und Valenz. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 25/1-2, 188–229. Berlin, New York: Mouton de Gruyter, 2003/6.
  • Richard Baum: Dependenzgrammatik. Tübingen: Niemeyer 1976, ISBN 3-484-52056-6
  • Hans-Werner Eroms: Syntax der deutschen Sprache. Berlin: de Gruyter, 2000
  • Gerhard Helbig, Joachim Buscha: Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie, 10. Auflage, 1987
  • Hans Jürgen Heringer: Deutsche Syntax dependentiell. Tübingen: Stauffenburg, 1996
  • Igor Mel'čuk: Levels of dependency in linguistic description: concepts and problems. In: Ágel et al. (Hrsg.): Dependenz und Valenz, 188–229. 2003.
  • Lucien Tesnière: Esquisse d'une syntaxe structurale. Paris: Klincksieck, 1953
  • Lucien Tesnière: Éleménts de syntaxe structurale. Paris: Klincksieck, 1959
  • Heinz J. Weber: Dependenzgrammatik. Ein Arbeitsbuch. Tübingen: Narr, 1992

Weblinks

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